Zum Gewaltproblem an Berliner Schulen - Ausmaß und Lösungsvorschläge -


Zwischenprüfungsarbeit, 2004

51 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1. Zur Definition von Aggression und Gewalt
2.2. Arten von Aggression und Gewalt
2.3. Gruppen
2.3.1. Die Täter
2.3.2. Die Opfer
2.3.3. Die Täter/Opfer
2.3.4. Andere Gruppen
2.4. Theorien zur Entstehung von Gewalt
2.4.1. Psychologische Theorien
2.4.1.1. Psychoanalytische Theorien
2.4.1.2. Lernpsychologische Theorien
2.4.1.3. Frustrations-Aggressions-Modell
2.4.2. Schultheoretische Konzepte
2.4.2.1. Interaktionistischer Ansatz
2.4.2.2. Konstruktivistische und ethnomethodologische Ansätze
2.4.3. Sozialisationstheoretische Konzepte
2.4.3.1. Individualisation und Desintegration als Folge der Modernisierung
2.4.3.2. Anomietheorie
2.5. Risikofaktoren
2.5.1. Außerschulische Faktoren
2.5.2. Schulische Faktoren

3. Die Situation an Berliner Schulen
3.1. Vorbemerkungen zu den Statistiken
3.2. Ergebnisse der Erforschung „kleiner“ Gewalt
3.3. Entwicklung der Gewalt an den Schulen (1996-2003)
Exkurs: Waffen in der Schule
3.4. Die aktuelle Situation (2002/2003)
3.5. Umgang mit Gewaltvorfällen

4. Präventionsmaßnahmen
4.1. Allgemeine Betrachtungen
4.2. Prävention im Land Berlin
4.2.1. Das Berliner Konfliktlotsen-Modell
4.2.2. Das Modellprojekt „Lebenswelt Schule“
Exkurs: Die Friedrich-Bayer-Oberschule
4.2.3. Kooperationspartner Polizei
4.2.3.1. Die Jugendbeauftragten der Polizei
4.2.3.2. Das Anti-Gewalt-Training

5. Fazit

6. Anhang
6.1. Literaturverzeichnis
6.2. Abbildungsnachweis
6.3. Meldeformular für Gewaltvorfälle an Schulen
6.4. Auszüge aus dem neuen und alten Schulgesetz
6.5. Eisbergmodell und Schaubild zu Motivation und Persönlichkeit nach Maslow

Diese Ausbrüche von Rowdytum sind nun wirklich keine Kleinigkeit mehr, und sie werden stets häufiger und nicht etwa seltener … und so scheint der Sinn für Sicherheit und Ordnung, ohne den eine Gesellschaft wie die unsere nicht leben und gedeihen kann, uns mit seinem beginnenden Niedergang zu bedrohen.

M. Arnold: Culture and Anarchy, 1869[1]

1. Einleitung

Ansichten wie diese finden sich in vielen Medien, wenn es um die Themen Jugendkriminalität, Gewalt unter Jugendlichen und dabei im Besonderen um Gewalt an Schulen geht. Umso mehr zeigen die 135 Jahre, seit Matthew Arnold[2] dieser Überzeugung in einem seiner gesellschaftskritischen Werke Ausdruck verlieh, dass es sich bei dieser Problematik keinesfalls um ein Phänomen der heutigen Zeit handelt. Allerdings ist in den letzten Jahren ein deutlich steigendes Interesse für Gewalt an Schulen in den Medien spürbar. Nachdem Schüler[3] in den USA mit Anschlägen auf Mitschüler und Lehrer[4] die Öffentlichkeit schockierten, kann spätestens seit dem 26. April 2002 – an dem ein Schüler während eines Amoklaufes am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Schüler und Lehrer tötete – niemand mehr die Augen davor verschließen, dass es auch in Deutschland zu extremen Ausprägungen von Gewalt an Schulen kommt[5].

Auch wenn der einheitliche Tenor der derzeitigen Forschungsergebnisse besagt, dass keine bzw. nur eine geringe Erhöhung der Schülergewalt zu verzeichnen ist, wurde erst durch die Berichterstattung ein Umfeld geschaffen, in dem sich Staat, wissenschaftliche Einrichtungen, Schulen und Öffentlichkeit intensiv mit der Gewaltproblematik auseinandersetzen[6]. Seit 1994 ist die Landeskommission Berlin gegen Gewalt[7] u.a. für die Entwicklung von Maßnahmen zur Gewalt- und Kriminalprävention, die Unterstützung kommunaler Prävention und die Herausgabe von Dokumentationen und Arbeitsmaterialien zuständig.

Die vorliegende Arbeit wird sich auf drei Ebenen mit der Gewaltproblematik auseinandersetzen: dabei sollen die theoretischen Betrachtungen umreißen, was unter Gewalt verstanden wird, wichtige Begriffe einführen, Ursachen benennen und einen Überblick über den Forschungsstand geben. Um festzustellen, ob man tatsächlich von einem Problem sprechen kann, werden exemplarisch Studien und Statistiken des Landes Berlin ausgewertet. Schließlich behandelt der letzte Abschnitt ausgewählte Präventionsmaßnahmen, um aufzuzeigen was unternommen wird, um Gewalt bereits im Vorfeld bzw. beim ersten Auftreten sinnvoll entgegenzuwirken. Im Ergebnis soll ein Überblick über das Gewaltthema entstehen, der eine objektive Einschätzung der derzeitigen Situation an Berliner Schulen ermöglicht, aber auch Konsequenzen für die Zukunft erkennen lässt.

2. Theoretische Grundlagen

2.1. Zur Definition von Aggression und Gewalt

Dass dieser Abschnitt nicht nur die Definition von Gewalt, sondern auch die von Aggression zum Inhalt hat, verweist auf Schwierigkeiten bei der genauen Abgrenzung der Begriffe. In der öffentlichen Meinung wird Gewalt vorherrschend als eine schwere Form der Aggression, nämlich unter physischem Einsatz, verstanden.

Das wesentliche Merkmal aggressiven Verhaltens ist die Schädigungsabsicht. Diese kann sich in direkter oder indirekter Weise gegen Personen, Tiere oder Gegenstände richten[8]. Gewalt wird hier zum Beschreiben extremer Formen von Aggression verwendet, oder soll nutzbringende Handlungsweisen von Formen impulsiver Aggression unterscheiden[9].

Allerdings findet sich in der erziehungswissenschaftlichen Literatur zumeist eine synonyme Verwendung beider Begriffe. Auch im Land Berlin werden Gewalt und Aggressivität gleichbedeutend verwendet. Eine Differenzierung erfolgt lediglich nach „kleiner Gewalt“ (z.B. Bullying) und „großer Gewalt“ (z.B. Erpressung und schwere Körperverletzung).[10] „Dieser Begriff [Gewalt] subsumiert damit alle Formen aggressiver Handlungen unter und zwischen Menschen sowie gegen Sachen, die in direkter oder indirekter Weise auf eine Schädigung abzielen.“[11]

2.2. Arten von Aggression bzw. Gewalt

Es wird eine grundsätzliche Unterscheidung in instinktive emotionale Erwiderung und motivationale Aggression (SEARS et. al.) vorgeschlagen[12], wobei erstere bei PETERMANN[13] als angstmotivierte Aggression bezeichnet wird. Sie steht für Verhalten, das seinen Ursprung in der Unsicherheit im Umgang mit anderen hat. Dadurch entstehen übermäßige Erwartungshaltungen bezüglich sozialer Anerkennung sowie Übersensibilität gegenüber Bedrohungen und Schwierigkeiten bei der Beurteilung zwischenmenschlicher Beziehungen. Aggression wird somit zum Mittel, sich Respekt zu verschaffen bzw. sich selbst zu behaupten. Dem gegenüber steht die zielgerichtete Aggression (PETERMANN[14] ) oder auch motivationale Aggression, in deren Mittelpunkt die Durchsetzung eigener Interessen und das Aufzwingen von Verhaltenweisen stehen. Je nach dem, ob sich die Aggression gegen ein Objekt oder aber gegen eine Person richtet, werden instrumentelle und feindselige Aggression unterschieden[15].

Weitere Differenzierungen der Gewaltformen finden hinsichtlich der Ausführung statt. BUSS[16] unterscheidet körperliche Aggression, die definiert wird als Angriff auf Organismen mit Hilfe von Körperteilen (Zähne, Arme, Beine u.a.) oder Waffen einerseits und verbale Aggression andererseits als eine „mündliche Antwort, die ein schädliches Reizmittel [Zurückweisung oder Drohung] an einen anderen Organismus übermitteln soll“[17]. Zudem kann Gewalt direkt, d.h. der Aggressor ist klar erkennbar oder indirekt ausgerichtet sein.

Im Besonderen Umfeld der Schule hat sich durch OLWEUS ein weiterer Begriff im Zusammenhang mit Aggressionsformen etabliert: Bullying. Er definiert ihn wie folgt: „Ein Schüler/eine Schülerin wird ′gebulliet′ [gemobbt, viktimisiert], wenn er/sie wiederholt und über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler/Schülerinnen ausgesetzt ist.“[18] Für Bullying sind die folgenden drei Kriterien charakteristisch: es liegt ein asymmetrisches Kräfteverhältnis vor, entweder, weil sich das Gewaltopfer körperlich oder geistig schwächer einschätzt, oder, weil tatsächlich eine geistige oder körperliche Überlegenheit des Täters/der Täter besteht. Es handelt sich um ein aggressives Verhalten bzw. ein absichtliches „Unrechttun“, das wiederholt und über längere Zeit auftritt.

Um eine Gewaltform zu charakterisieren, die besonders bei Aggression unter/durch Mädchen relevant ist, schlagen CRICK et. al. das Konzept von der relationalen Aggression vor. Dieses Verhalten beschädigt „die Beziehungen einer Person zu Gleichaltrigen oder die Gefühle der sozialen Zugehörigkeit und Akzeptanz“[19]. D.h., dass im Gegensatz zur indirekten Aggression, die die Abwesenheit einer direkten Konfrontation betont, „die relationale Aggression den Gebrauch der sozialen Beziehungen zur Schädigung anderer in den Vordergrund stellt“[20].

2.3. Gruppen

Dass CRICK et. al. ein Konzept erstellt haben, welcher vor allem helfen soll, die durch Schülerinnen ausgeführte Gewalt zu erklären, weist darauf hin, dass die verschiedenen Formen von Aggression durchaus nicht von allen Personen im gleichen Maß genutzt werden. Vielmehr ist es nötig, sich einen Überblick über die an Gewalthandlungen beteiligten Gruppen zu machen. Da die verschiedenen Untersuchungen zu sehr ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich Einteilung und Charakterisierung kommen[21], werden diese im Folgenden wiedergegeben[22].

2.3.1. Die Täter

Von Fällen regressiver Aggression abgesehen, sind Mädchen in dieser Gruppe deutlich unterrepräsentiert. Die Jungen verfügen meistens über eine überdurchschnittliche Körperstärke. Täter verhalten sich nicht nur Gleichaltrigen, sondern auch Erwachsenen (Lehrer, Eltern) gegenüber aggressiv. Die Annahme, dass sich bei Tätern hinter ihrem aggressiven Verhalten ängstliche und unsichere Menschen verbergen würden, konnte bei den Untersuchungen widerlegt werden. Das Selbstwertgefühl ist durchschnittlich. Das schließt allerdings nicht aus, dass in Einzelfällen ein mangelndes Selbstwertgefühl die Ursache für regelwidriges Verhalten ist[23]. Auch bezogen auf die Beliebtheit können kaum Unterschiede zur Mehrheit festgestellt werden. Erst in den oberen Klassen nimmt sie ab und liegt ab der Klasse 9 deutlich unter dem Durchschnitt.

Nach Untersuchungen, welche Faktoren in der Kindheit für die Ausbildung aggressiver Reaktionsmuster verantwortlich sein können, nennt OLWEUS die emotionale Grundeinstellung gegenüber dem Kind während der frühen Kindheit, eine billigende Haltung der Bezugsperson gegenüber aggressivem Verhalten des Kindes, autoritäre Eltern-Kind-Beziehungen und das Temperament des Kindes als besonders wichtige. Daraus lässt sich ableiten, dass häufig bereits im familiären Umfeld aggressive Tendenzen entstehen bzw. gefördert werden. Geht man weiterhin davon aus, dass Gewalttäter „ein starkes Bedürfnis nach Stärke und Macht“[24] haben und auch davon profitieren, dass sie von ihren Opfern Wertgegenstände (Geld, Zigaretten, Bier etc.) erpressen, gelangen sie häufig in Situationen, in denen sie für ihr aggressives Verhalten Belohnung und Anerkennung erhalten. Betrachtet man Gewalt in diesem Zusammenhang als „Komponente eines allgemeineren sozialfeindlichen und regelverletzenden („verhaltensgestörten“) Verhaltensmusters“[25], lässt sich ein erhöhtes Risiko für ein „Abrutschen“ in die Kriminalität und den Missbrauch von Alkohol ableiten.

2.3.2. Die Opfer

Trotz der in höheren Klassen zunehmenden Distanzierung von den Tätern bleiben die Opfer weiterhin unter den Gleichaltrigen am wenigsten beliebt. Opfer sind in der Klasse meist isoliert und haben häufig nicht einen guten Freund. Sie haben ein mangelndes Selbstwertgefühl. Selbsteinschätzungen als Versager, das Empfinden, dumm und wenig attraktiv zu sein, und eine negative Einstellung der eigenen Situation resultieren daraus. „Das typische Opfer ist ängstlicher und unsicherer als es Schüler(innen) im Allgemeinen sind. Außerdem ist es oft vorsichtig, empfindsam und still.“[26]

Auch bei dieser Gruppe finden sich Anzeichen für eine Veranlagung in der frühen Kindheit: offensichtlich charakterisiert sie eine „gewisse Vorsicht und Empfindlichkeit“[27]. Durch Bullying werden diese Tendenzen noch verstärkt. In der Folge lassen sich in der Opfergruppe überdurchschnittlich häufig körperliche und psychologische Stresssymptome, Furcht, Hilflosigkeit, Depressionen sowie Suizidgedanken und –versuche feststellen.

2.3.3. Die Täter/Opfer

Bei einer weiteren Differenzierung in typische Gruppen ist eine Personengruppe festzustellen, die sowohl Täter, als auch Opfer ist. Sie ist deutlich kleiner als die beiden zuvor besprochenen. Untersuchungen[28] zeigen überdurchschnittlich hohe Werte in Bezug auf Selbstbewusstsein und Gruppenzugehörigkeit. Schülerinnen und Schüler, die als Täter/Opfer bezeichnet werden, empfinden mehr als alle anderen Gewalt als normal. OLWEUS[29] stellt fest, dass ihr Verhalten von den Klassenkameraden häufig als provozierend empfunden wird und sie dadurch negatives Verhalten hervorrufen.

2.3.4. Andere Gruppen

ROSTAMPOUR und MELZER schlagen vor, auch die Tätergruppe noch einmal in Täter und Episoden-Täter, die deutlich geringere Werte bei den Täter-Items[30] hatten, zu unterscheiden. Beide stellen fest, dass bei dieser differenzierten Betrachtung der Beteiligten die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen verschwimmen und demzufolge – auch wenn es typische Opfer und typische Täter gibt – ein Wechsel vom Opfer zum Täter und umgekehrt schnell möglich ist.

Neben den an gewalttätigen Handlungen Beteiligten gibt es die Gruppe der Unbeteiligten. Ihr gehörten in der Studie von ROSTAMPOUR & MELZER[31] 58,4% an, d.h. die Mehrheit der Schüler ist in keinerlei gewalttätige Handlungen involviert. Da sie jedoch als Bystander durchaus Zeuge von Gewalttaten werden können, muss die Gewalt- und Aggressionsprävention auch diese Gruppe berücksichtigen, vor allem, wenn es um Mitgefühl und Solidarität mit den Opfern oder gar Zivilcourage geht[32].

2.4. Theorien zur Entstehung von Gewalt

Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, dass die Ausprägung von Gewalt – sowohl in Bezug auf die auftretenden Formen, als auch hinsichtlich der an aggressiven Handlungen Beteiligten – sehr vielschichtig ist, kann es nicht verwundern, dass es nicht die eine Theorie zur Erklärung von Gewalt gibt. Deshalb werden im Folgenden nur einige weit verbreitete Theorien genannt. Diese entstammen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, um den unterschiedlichen Ebenen von „Gewaltauslösern“ gerecht zu werden.

2.4.1. Psychologische Theorien

2.4.1.1. Psychoanalytische Triebtheorie

Diese Theorie ist untrennbar mit dem Namen FREUD verbunden. Er postuliert einen Dualismus von Todes- oder Destruktionstrieb und Eros (Lebenstrieb). So wie sich die beiden Triebe mischen und wieder voneinander lösen können, wird auch der Aggressionstrieb sowohl dem Destruktionstrieb, als auch dem Eros zugeschrieben. Während er im ersten Fall einer „angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit“[33][34] entspringt, ist es für den Selbsterhaltungstrieb unabdingbar, über Aggressionsmöglichkeiten zu verfügen, um Absichten durchzusetzen. Aggression gehört also grundsätzlich zur menschlichen Natur und wirkt um so mehr gegen das eigene Ich, je stärker sie nach außen hin unterdrückt wird. Diese Unterdrückung erfolgt einerseits durch das Über-Ich, das Gewissen, oder indem – im Zuge einer Verinnerlichung – aggressive Energie gegen das eigene Ich gewendet wird. Neben diesen Ursachen, die ihren Ursprung im menschlichen Wesen haben, nennen die Psychoanalytiker auch die Gesellschaft als Quelle. Aggressives Verhalten wird somit als Folge einer „komplizierten Störung der gesamten Persönlichkeitsstruktur“[35] verstanden, die nach ihrer Ansicht auf eine schwere Traumatisierung in der frühesten Kindheit zurückgeführt werden kann: „Beim Verwahrlosten, der ohne Liebe erzogen wurde, entfällt die Spannung zwischen Ich und Über-Ich, seine ganze Aggression kann sich nach außen richten.“[36] Der psychoanalytische Ansatz bietet also einen sehr individuell-problemorientierten Zugang zur Aggression, ohne die Gesellschaft, die für eine Eindämmung der „Aggressionslust“[37] zu sorgen hat, aus der Verantwortung zu entlassen.

2.4.1.2. Lernpsychologische Theorien

Diese auf dem Behavourismus basierende Theorie betont vor allem intergruppale Abhängigkeiten. Zentraler Aspekt ist das Erlernen aggressiven Verhaltens. Drei Subtheorien beschreiben die verschiedenen Formen des Lernens:

Bei der klassischen Konditionierung wird ein ursprünglich neutraler Reiz mit einem aggressionsauslösenden gekoppelt. Anschließend können Aggressionen durch diesen Reiz ausgelöst werden[38].

Das instrumentelle Konditionieren stellt die Folgen aggressiven Verhaltens in den Mittelpunkt: bringt dieses Verhalten Vorteile, kann daraus ein verstärktes Anwenden resultieren. Man spricht deshalb auch von Verstärkungslernen. PETERMANN[39] unterscheidet zwischen positiver Verstärkung (Erreichen eines Zieles), negativer Verstärkung (ein unangenehmer Zustand wird beseitigt bzw. verringert) und Duldung (stillschweigende Zustimmung).

Das wohl am weitesten verbreitete Phänomen ist das Lernen am Modell. Dabei geht es um die Tendenz von Personen, sich neue und komplexere Verhaltensweisen anzueignen, indem sie dieses Verhalten und dessen Konsequenzen im realen Leben oder an symbolischen Vorbildern beobachten[40]. Als Quellen nennt BANDURA die Vermittlung von Verhalten innerhalb der Familie, subkulturelle Einflüsse, symbolische Handlung (z.B. in den Massenmedien) und kollektive Aggressionen. Das Beobachten anderer kann aber auch als Auslöser fungieren, indem Hemmungen geschwächt oder Emotionen mit aggressivem Potential hervorgerufen werden[41].

2.4.1.3. Frustrations-Aggressions-Modell

Aggression wird in diesem Ansatz als reaktiv angesehen, d.h. aggressives Verhalten ist die Folge von Frustration, wobei die Stärke der Aggression im direkten Zusammenhang mit der Höhe an Frustration steht. Außerdem wird angenommen, dass jede aggressive Handlung den Anreiz für weitere reduziert (Katharsis).[42] DOLLARD et. al. differenzieren diese Theorie und stellen fest: „Frustration ruft Erregung zu einer Reihe verschiedener Reaktionen hervor, von denen eine die Erregung aggressiver Tendenz ist. Reaktionen, welche mit Aggression unvereinbar sind, können, wenn sie genügend gereizt werden, das tatsächliche Vorkommen von Aggressionsakten verhüten.“[43] Insofern kann eine positive Beeinflussung des sozialen Umfeldes zur Verhinderung von Aggressionen führen.

2.4.2. Schultheoretische Konzepte

Bereits die psychologischen Theorien enthalten deutliche Verweise auf den starken Einfluss des sozialen Umfeldes. Da die Schule neben der Familie die wichtigste Sozialisationsinstanz ist, bilden schultheoretische Konzepte durch Einbeziehung spezifischer Aspekte sowohl struktureller, organisatorischer als auch didaktischer Art eine Grundlage, um den Anteil der Schule am Gewaltproblem herauszuarbeiten.

2.4.2.1. Interaktionistischer Ansatz

Im Mittelpunkt dieser Theorie stehen die Perspektiven der Handelnden an Interaktionsverläufen. Ausgehend von einem Identitätskonzept – die Ich-Identität entwickelt sich über die personale Ebene der Biographie (Selbstinterpretation) und die soziale Ebene (Fremderwartung/ -einschätzung) – und der Feststellung, dass bei jeder Interaktion divergierende Erwartungen in Einklang gebracht werden müssen, wird abgeleitet, dass dazu gewisse Rollenqualifikationen notwendig sind. Sprachliche Kompetenzen, Empathie, Frustrations-, Ambiguitäts- und Rollendistanz[44][45] werden aber vor allem von Heranwachsenden nicht gleich gut beherrscht. Die daraus entstehenden Konflikte bieten eine Erklärung für aggressives Handeln.

Gewalt kann aber auch über „sekundäre Devianz“ erklärt werden, d.h. sie ist die Folge von Definierungs- und Etikettierungsprozessen. Dabei führt abweichendes Verhalten zu einer Stigmatisierung durch den Interaktionspartner. „Die Wahrscheinlichkeit solcher Negativ-Etikette steigt natürlich bei häufigeren Vorfällen erheblich, aber auch dann, wenn bestimmten Verhaltensformen – wie es derzeit bei Gewalt der Fall ist – erhöhte Sensibilität in Form von Missbilligung gewidmet wird.“[46] In der Konsequenz werden davon betroffene Schüler mit einem neuen sozialen Status und den damit verbundenen Rollenerwartungen konfrontiert. Dieser Status bringt es mit sich, dass sie „in selektiver Weise Verdächtigungen ausgesetzt sind, schärfer kontrolliert und sanktioniert, hinsichtlich sozialer Kontakte isoliert und im Lern- und Leistungsbereich benachteiligt werden“. Werden die Anpassungszwänge so stark, dass der Schüler ihnen nicht ohne die Transformation seines Selbstbildes entsprechen kann, kommt es letztlich zur Übernahme der zuerkannten „Abweichler-Rolle“. Sie äußert sich in „stigmabezogenen Problemlösungsversuchen“[47] (Resignation, Rückzug, Gewalt etc.) und bestätigt somit die Typisierung der Interaktionspartner. Dieser Effekt wird als selffulfilling prophecy bezeichnet[48].

2.4.2.2. Konstruktivistische und ethnomethodologische Ansätze

Diese „systemisch orientierten, verstehenden Ansätze“[49] stellen die Sinnperspektiven der Schüler in den Mittelpunkt. Hier geht es also nicht in erster Linie um Ursachen, sondern um die Entschlüsselung der subjektiven Wirklichkeit der Interaktionspartner. „[G]ewaltförmig einzustufende Schülerhandlungen [werden somit] zu einem beträchtlichen Teil als Techniken zur Schulalltagsbewältigung interpretierbar.“[50] Darunter sind sowohl Versuche der Problemlösung, als auch eine kinder- und jugendspezifische Auseinandersetzung mit der Lebenswelt Schule zu verstehen.

2.4.3. Sozialisationstheoretische Konzepte

Erweitert man den Blickwinkel (von den individuellen über die intergruppalen und schulspezifischen Ursachen) gelangt man zu den gesellschaftskritischen Sozialisationskonzepten. Da jedes Individuum in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden ist und auch die Schule nur einen Bereich der Lebenswelt Heranwachsender abdeckt, stellt sich – gerade aufgrund steigender Gewaltvorkommnisse – die Frage, welche gesellschaftlichen Entwicklungen diese Tendenzen fördern.

[...]


[1] Zitiert nach: Smith, Peter K.: Aggression und Bullying in Schulen, In: Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, S. 22

[2] Matthew Arnold (1822-1888), englischer Dichter und Prosaist, literarischer Kritiker und Ästhetiker, war 1851-1886 staatlicher Schulinspektor, daneben 1857-1867 Professor der Poesie in Oxford; „Culture and anarchy“ (1869) behandelt allg. polit., theol. u. kulturelle Fragen (BROCKHAUS, 15. Aufl., Bd. 1 (1928), S. 699)

[3] Aus Gründen der Lesbarkeit werden in dieser Arbeit die Begriffe Schüler und Lehrer – soweit keine Spezifizierung erforderlich ist – auf beide Geschlechter bezogen.

[4] Erinnert sei nur an einige Fälle:

- 01.10.1997: 16jähriger tötet zwei Klassenkameraden in der High School von Pearl/Mississippi, nachdem er seiner Mutter die Kehle durchgeschnitten hat.
- 24.03.1998: zwei 11- und 13jährige lösen an ihrer Schule in Jonesboro/Arkansas falschen Feueralarm aus und schießen aus dem Hinterhalt, 5 Tote und 10 Schwerverletzte.
- 20.04.1999: zwei 17- und 18jährige richten an der Columbine High School in Littleton/Colorado ein Blutbad an. Mit Schusswaffen und Sprengsätzen töten sie 12 Schüler und einen Lehrer, 23 weitere werden verletzt.

(Der Erfolg des auf diesen Ereignissen basierenden, Oscar-prämierten Dokumentarfilms „Bowling for Columbine“ von Michael Moore ist ein Indiz für das zunehmende Interesse einer breiten internationalen Öffentlichkeit.)

[5] Auch in Deutschland gab es schon vorher alarmierende Vorfälle, wie in Bad Reichenhall, als am 1. November 1999 ein 16jähriger wahllos auf Passanten schoss, drei Menschen tötete und weitere 6 verletzte, ehe er Selbstmord beging. Nur acht Tage später wird eine Lehrerin in Meißen von 22 Messerstichen getötet. Der Schüler gibt als Tatmotiv Hass an.

[6] „Weil Gewalt an Schulen bis Ende der 80er Jahre kein Thema in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion war, war es wohl auch kein Thema in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. … Es begann als intensive Medienberichterstattung Anfang der 90er Jahre, wurde etwa 1992 als Thema von der pädagogischen Profession ernst genommen und dort eingehend verhandelt – etwa zur gleichen Zeit begann die empirisch ausgerichtete Erziehungswissenschaft, sich dieses Themas anzunehmen.“ Aus: Tillmann, Klaus-Jürgen: Gewalt an Schulen: öffentliche Diskussion und erziehungswissenschaftliche Forschung, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S. 13f

[7] Nachdem aufgrund der zunehmenden Gewaltbereitschaft von Jugendlichen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre vom Berliner Abgeordnetenhaus 1991 das Programm Jugend mit Zukunft verabschiedet wurde, richtete der Berliner Senat 1994 das Staatssekretärsgremium Landeskommission Berlin gegen Gewalt ein, um die Empfehlungen der Unabhängigen Kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt in Berlin (1992-1994) umzusetzen. Vgl.: Berliner Forum Gewaltprävention, Nr. 1/2000, S. 5,51,87

[8] Vgl.: Verbeek, D./Petermann, F.: Gewaltprävention in der Schule: Ein Überblick, In: Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, 7 (3), S. 133

[9] Vgl.: Kusche, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 17

[10] Die Begriffsverwendung in dieser Arbeit wird sich der im Land Berlin üblichen Praxis anschließen.

[11] Jäger, R.: Gewaltprävention, In: Aggression und Gewalt unter Jugendlichen, S.205

[12] Kusche, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 26

[13] Vgl.: Petermann, F./Petermann, U.: Training mit aggressiven Kindern

[14] ebd.

[15] Kusche, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 27 (Unterteilung nach FESHBACH)

[16] ebd.

[17] ebd.

[18] Olweus, D.: Täter-Opfer-Probleme in der Schule: Erkenntnisstand und Interventionsprogramm, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S. 283

[19] Crick et. al.: Aggression und Viktimisierung in Schulen: „Chancengleichheit“ für aggressive Mädchen, In: Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, S. 154

[20] ebd., S. 155

[21] Vgl.: Tillmann, K.-J.: Gewalt an Schulen: öffentliche Diskussion und erziehungswissenschaftliche Forschung, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S. 16

[22] Vgl.: Olweus, D.: Täter-Opfer-Probleme in der Schule: Erkenntnisstand und Interventionsprogramm, S. 281ff; Rostampour, P./Melzer, W.: Täter-Opfer-Typologie im schulischen Gewaltkontext, S. 169ff, Beide in: Forschung über Gewalt an Schulen

[23] Vgl.: angstmotivierte Aggression bei Petermann

[24] Olweus, D.: Täter-Opfer-Probleme in der Schule: Erkenntnisstand und Interventionsprogramm, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S. 288

[25] ebd., S. 289

[26] Olweus, D.: Täter-Opfer-Probleme in der Schule: Erkenntnisstand und Interventionsprogramm, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S. 289

[27] ebd., S. 287

[28] Rostampour, P./Melzer, W.: Täter-Opfer-Typologie im schulischen Kontext, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S. 169ff

[29] Olweus, D.: Täter-Opfer-Probleme in der Schule: Erkenntnisstand und Interventionsprogramm, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S. 287

[30] 13 Täter-Items: Wie oft hast Du selbst an Deiner Schule oder auf dem Schulweg in den letzten 12 Monaten folgendes gemacht? Bsp.: sich geprügelt, Sachen absichtlich kaputt gemacht, Waffen mitgebracht, andere beschimpft

[31] Auch andere Untersuchungen (z.B. Olweus, Dettenborn/Lautsch) bestätigen, dass die Mehrheit der Schüler nicht an Gewalthandlungen beteiligt ist.

[32] Vgl.: Frey, D./Schäfer, M./Neumann, R.: Zivilcourage und aktives Handeln bei Gewalt: Wann werden Menschen aktiv? In: Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, S. 265ff

[33] Vgl.: Kuschke, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 29ff

[34] Freud, S.: Abriss der Psychoanalyse, Das Unbehagen in der Kultur, S. 159

[35] Kuschke, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 32

[36] Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur, In: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 490

[37] Kuschke, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 33

[38] Vgl.: Kuschke, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 38

[39] Vgl.: Petermann, F./Petermann, U.: Training mit aggressiven Kindern

[40] Vgl.: Bandura, A.: Aggression: Eine sozial-lerntheoretische Analyse

[41] Vgl.: Kuschke, G.: Aggression und Gewalt an Schulen zur individuellen Lernförderung, S. 39

[42] Vgl.: Städler, T.: Lexikon der Psychologie, S. 338

[43] Dollard, J./Doob, J./Miller, N./Mowrer, I./Sears, R.: Die Frustrations-Aggressions-Hypothese, In: Die Motivation menschlichen Handelns, S. 206

[44] Dieser Ansatz geht auf MEAD, KRAPPMAN, BRUMLIK zurück, die devianzbezogene Variante des Labeling-approach auf GOFFMAN (1967). Die Anwendung für den Schulbereich erfolgte durch HARGREAVES et.al. (1981). Vgl.: Holtappels, H.: Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte schulischer Gewaltforschung, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S.37

[45] Rollenqualifikationen nach HABERMAS (1973), Vgl.: Holtappels, H.: Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte schulischer Gewaltforschung, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S.38; Anm.: Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen. Frustrationsdistanz meint, dass man über die Fähigkeit verfügen sollte, mit wirklichen oder vermeintlichen Enttäuschungen umzugehen. Der Begriff Ambiguität beschreibt die Mehr-/ Doppeldeutigkeit von Wörtern, Werten, Symbolen und Sachverhalten. Auch in dieser Hinsicht ist die Fähigkeit eines differenzierten Umgangs zur Konfliktvermeidung wünschenswert.

[46] Holtappels, H.: Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte schulischer Gewaltforschung, In: Forschung über Gewalt an Schulen, S.38

[47] ebd., S.39

[48] ebd.

[49] ebd., S.36

[50] ebd., S.37

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
Zum Gewaltproblem an Berliner Schulen - Ausmaß und Lösungsvorschläge -
Hochschule
Universität Potsdam
Veranstaltung
Aggressionsprävention im Schulalltag
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
51
Katalognummer
V41814
ISBN (eBook)
9783638400039
Dateigröße
2381 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gewaltproblem, Berliner, Schulen, Ausmaß, Lösungsvorschläge, Aggressionsprävention, Schulalltag
Arbeit zitieren
Franka Birkholz (Autor:in), 2004, Zum Gewaltproblem an Berliner Schulen - Ausmaß und Lösungsvorschläge -, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41814

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