Das Selbstverständnis des Arztes in der römischen Antike und heute


Facharbeit (Schule), 2017

33 Seiten, Note: ohne


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Das Selbstverständnis des römischen Arztes
2.1.1 Helfen
2.1.2 Forschen
2.1.3 Verdienen
2.1.4 Zusammenfassung
2.2 Das Selbstverständnis des heutigen Arztes
2.2.1 Helfen
2.2.2 Forschen
2.2.3 Verdienen

3. Fazit
3.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
3.2 Nachhaltigkeit

4. Kurzfassung

5. Quellenverzeichnis

6. Anhang
6.1 Dank
6.2 Fragen in den Interviews
6.3 Der Eid des Hippokrates

1. Einleitung

Der Arztberuf hat eine lange Geschichte und Tradition; schon in der Steinzeit gab es durch die Schamanen einen Vorläufer des Arztes.[1] Allerdings wurde die Medizin als Wissenschaft erst durch die Einführung einer systematischen Forschung möglich. Dies geschah zum Teil schon im antiken Griechenland, wie in den Quellen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, deutlich wird.

Aufgrund dieser langen Geschichte unterlag der Beruf des Arztes immer wieder unterschiedlichen Einflüssen von Politik, Gesellschaft und natürlich der Wissenschaften. Diese veränderten das Selbstverständnis des Arztes ständig. In dieser Arbeit soll daher dieses Selbstverständnis in der römischen Antike und heute ausgearbeitet und anschließend verglichen werden.

Im ersten Teil werde ich auf das Selbstverständnis des römischen Arztes eingehen, im zweiten auf das des heutigen. Auch soll im zweiten Teil dargestellt werden, inwiefern sich Traditionen und Grundsätze aus der Antike noch im heutigen Berufsbild finden. Dies wird zur Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Fazit überleiten.

Die finale Frage am Ende soll sein, welches das beste Verhältnis aus Forschen, Helfen und Verdienen ist.

2. Hauptteil

Im Folgenden soll nun sowohl das Selbstverständnis des römischen Arztes als auch das des heutigen Arztes ausgearbeitet werden.

2.1 Das Selbstverständnis des römischen Arztes

Der römische Arzt agierte in einem Spannungsfeld von Forschen, Helfen und Verdienen. Hier wird auf diese drei Ansprüche des Berufsstandes näher eingegangen. Als Grundlage dienen folgende antike Quellen:

- Hippokrates, Eid (lateinische Übersetzung von Janus Cornarius)
- Gaius Plinius Secundus, naturalis historiae 29, 11-18
- Cicero, de officiis 1, 150-151
- Aulus Cornelius Celsus, de medicina, prooemium 23-26, 40-44; 74
- Lucius Annaeus Seneca, de beneficiis 6, 15, 1-2; 6, 16, 1-5

2.1.1 Helfen

Das Helfen, d.h. das konkrete Heilen von Beschwerden, ist per heutiger Definition die Grundaufgabe eines jeden Arztes[2] und wird daher als erstes bearbeitet.

Schon in der Antike stand der Gedanke des Helfens im Vordergrund des Berufsethos‘. Dies geht aus dem Eid des Hippokrates hervor, welcher bis in die christliche Zeit hinein ethische und moralische Grundprinzipien des Berufsstandes des Arztes definierte. Aber auch weitere Quellen, u.a. die kritische Meinung Plinius', sollen in diesem Teil behandelt werden.

2.1.1.1 Eid des Hippokrates

Im Eid des Hippokrates können zwei Formen des Helfens unterschieden werden:

Auf der einen Seite steht die Versorgung der Patienten als naheliegende Aufgabe des Arztes; auf der anderen Seite wird im Eid aber auch die Mitversorgung des Lehrmeisters, wenn dieser Not leidet, angesprochen.

Die zweite Form wird im hippokratischen Eid im zweiten Absatz behandelt. Dort verpflichtet sich der angehende Arzt, „praeceptorem […] parentum loco habiturum“[3], d.h. dass er seinen Lehrmeister wie seine Eltern achten werde. Darunter fällt in der Antike auch, „vitam communicaturum“[4], also den Lebensunterhalt zu teilen. Es wird sogar noch weiter ausgeführt, dass er „ea[...], quibus opus habuerit, impertiturum“, d.h. er wird auch den Lehrmeister mitversorgen, sofern er Not leiden sollte. Darin ist eine Form der Altersvorsorge zu erkennen: Der Lehrmeister sichert sich und seine ganze Familie durch das Ausbilden von neuen Ärzten gegen Not ab.

Neben dieser einen denkbaren Form der Hilfeleistung stand damals wie heute aber die andere im Vordergrund, nämlich die der Versorgung von Patienten. Absatz drei des Hippokratischen Eides fasst das Grundprinzip des Arztberufes kurz und prägnant zusammen. Die Bezeichnung der Kranken als „aegros […] sanandos“[5], also als zu heilende Kranke, zeigt den Anspruch des Arztes auf: Er sieht seine Aufgabe darin, die Kranken wirklich zu heilen und ihnen somit dauerhaft zu helfen. Die Aussage, er werde seine Verordnungen „pro facultate et iudicio [suo]“ treffen, impliziert aber ein erstes Problem in der Hilfeleistung: Sie zeigt, dass der Arzt immer nur seinen persönlichen Fähigkeiten (lat. facultates) nach handeln kann. Auch können verschiedene Ärzte dieselbe Situation unterschiedlich bewerten. Dies zeigt sich an der Einschränkung „iudicio [suo]“[6], d.h. seinem Urteil nach. Daraus können durchaus Meinungsverschiedenheiten unter verschiedenen Ärzten resultieren. Dies führt zur Kritik Plinius' des Älteren, welche nach der Analyse des Hippokratischen Eides unter 2.1.1.2 folgt.

Der letzte Satz von Absatz 3 geht in der Beschreibung der Aufgabe des Arztes noch weiter; die Patienten sollen nicht nur geheilt werden, sondern er soll auch „omne[...] detrimentum ab eis prohibe[re]“[7]. Es ist also nicht nur seine Pflicht, die Patienten zu heilen, sondern er soll sie generell vor Schaden und Unrecht bewahren. Dies geht über die bloße Hilfeleistung hinaus. Dieser Gedanke wird daher in Absatz 6 noch einmal gesondert aufgenommen; dort schwört der angehende Arzt, er werde „ab omni[...] iniuria voluntaria et corruptione cum alia […] abstine[re]“[8] ; er schwört also, sich jeglichen willkürlichen Unrechts und anderer Schädigungen zu enthalten. Besonders betont wird allerdings, dass er von jeglichen sexuellen Handlungen („oper[a] veneri[a]“[9] ) mit seinen Patientinnen absehen wird. Ferner wird mit der Aussage „in quascumque autem dominus ingredi[eris]“[10], d.h. in welche Häuser auch immer er eintreten wird, das Prinzip der Egalität der Patienten formuliert. Am Ende von Absatz 6 wird dieser Gedanke noch einmal durch die Gleichstellung von „muliebria“ und „virilia“, d.h. Frauen und Männern, und „liberorumve hominum aut servorum corpora“, d.h. freien Menschen und Sklaven, aufgenommen[11].

In Absatz 7 wird ein weiterer wichtiger ethischer Grundsatz eingeführt, nämlich die ärztliche Schweigepflicht. Es heißt, er werde das, was er in der Behandlung „vider[it] aut audiver[it]“, also was er gesehen und gehört haben wird, nicht weitererzählen, sondern „taceb[it] et tamquam arcana apud [se] contineb[it]“, also verschweigen und wie ein Geheimnis für sich behalten. Gleiches gilt auch für Dinge, die er „in communi hominum vita“, d.h. im öffentlichen Leben, erfährt[12].

Insgesamt werden in Absatz 6 und 7 wichtige Grundsätze des damaligen Berufsethos der Ärzte aufgestellt. Trotz des großen Zeitraumes seit der Antike haben Enthaltsamkeit gegenüber den Patienten, Gleichbehandlung dieser sowie die ärztliche Schweigepflicht als ethische Prinzipien bis heute überdauert[13].

Absatz 4 wird hingegen heute kontrovers diskutiert, war damals aber allgemeiner Konsens. Hier geht es um Sterbehilfe sowie die Abtreibung. Es heißt dazu im Eid des Hippokrates, der Arzt werde niemandem „venenum“, also Gift, geben, noch „ad hanc rem consilium da[re]“, d.h. zu diesem Schritt raten[14]. Denn dies würde Absatz 3 widersprechen (s.o.). Der Eid bezieht sich aber nicht nur auf geborene Menschen, sondern auch auf ungeborene. Dazu schwört der angehende Arzt, niemals „corrumpe[re] conceptum vel fetum“, also niemals die Empfängnis oder Leibesfrucht zu zerstören[15]. Führt man diese beiden Gedanken zusammen, folgt daraus, dass in der Antike auch Ungeborene bereits als Leben gesehen wurden. Diese Problematik wird heute deutlich differenzierter gesehen. Dies wird sich im zweiten Teil dieser Arbeit zeigen.

Insgesamt stellt der Eid des Hippokrates eine wichtige Grundlage für die damalige Medizin auf. In ihm werden die ethischen und moralischen Grundsätze der Medizin formuliert, von denen einige wie die ärztliche Schweigepflicht bis heute Gültigkeit haben. Diese sind daher in die Berufsordnung für deutsche Ärzte und die Genfer Deklaration des Weltärztebundes übernommen worden.[16]

2.1.1.2 Kritik und weitere Quellen

In der vorangegangenen Analyse des Hippokratischen Eides wurde bereits die Problematik von Absatz 3 angesprochen (Meinungsverschiedenheiten bei bestimmten Symptomen und deren Behandlung). An diesem Punkt setzt daher auch eine der Kritiken Plinius des Älteren an. Dieser zeichnet sich insgesamt durch eine sehr anti-griechische Haltung aus. Da die Medizin ursprünglich aus Griechenland kommt, ist er auch ihr gegenüber „reserviert“[17]. Er beklagt in seiner „naturalis historia“ in Buch 29, Ärzte zeichneten sich vor allem durch „circa aegros miserae sentiarum concertationes“, also armselige Meinungsverschiedenheiten um Kranke (d.h. am Krankenbett), aus, damit nicht die „accessio alterius“, d.h. die Zustimmung zum anderen [Arzt] sichtbar wird[18]. Es wird also ein Wettbewerb unter den Ärzten impliziert. Dies kann für die Gesundheit des Patienten nicht förderlich sein. Er geht sogar so weit, dass er behauptet, Ärzte würden „anima […] nostra negotiari“, d.h. sie würden Geschäfte mit unserer Seele bzw. Gesundheit machen[19]. Der Wettbewerbscharakter des Berufs wird durch die Aussage „famam novitate aliqua“, d.h. dem Durst nach irgendeiner Neuheit, bestärkt[20]. Als drastische Veranschaulichung der Problematik führt Plinius das Beispiel eines Grabmals an, auf dem steht, der Tote sei „turba se medicorum perisse“, also an der Menge seiner Ärzte umgekommen[21]. Dieses Beispiel stellt damit einen klaren Kontrast zum Eid des Hippokrates dar, in welchem in Absatz 3 das Ziel der Heilung und der Bewahrung vor Unrecht und Schaden im Vordergrund steht. Als Folge stellt Plinius Ärzte als „imperatore[s] […] vitae nostrae necisque“, also als Herren über unser Leben und unseren Tod, dar[22].

Plinius folgert insgesamt, dass die Menschheit keine Ärzte braucht; er begründet diese These mit der Tatsache, dass dies beim römischen Volk „ultra sescentesimum annum“, also über 600 Jahre lang, der Fall gewesen sei[23]. Am Beispiel des ersten Arztes, der von der Peloponnes nach Rom gekommen war, nämlich Archagathos im Jahre 219 v. Chr. unserer Zeit, zeigt Plinius, dass die Römer gar kein Interesse an der Arbeit eines Arztes hätten. War Archagathos‘ Ankunft zunächst noch „gratum“, also willkommen, und nannte man ihn zu Beginn noch „vulnerariu[s]“ (Wundarzt), so schlug der Name bald in „carnif[ex]“ (Henker) um, welcher einen klaren Gegensatz zur ärztlichen Aufgabe darstellt[24].

Ferner bezieht sich Plinius auf Cato, welcher ebenfalls Griechenland und seinen Künsten abneigend gegenüberstand. Dieser erzog seinen Sohn Marcus daher dahingehend, alles Griechische abzulehnen. Er ging dabei so weit zu sagen, die Griechen wollten „medicos suos hoc mitte[re]“, also ihre Ärzte hierher [nach Rom] schicken, um „barbaros necare omnes medicina“, d.h. um alle Ausländer (aus griechischer Sicht, also hier die Römer) zu töten[25]. Auch dies widerspricht dem Grundsatz des Helfens im Hippokratischen Eid. Hier würde eher der letzte Satz von diesem greifen, in dem es heißt, sollte man „peiera[re]“, also den Eid brechen, solle demjenigen „contraria“ (svw. das Gegenteil) von „gloria[..]“, d.h. Ehre, widerfahren[26]. Der Arzt, der so wie von Cato beschrieben handelt, müsste folglich verdammt werden und mit dem Zorn der Götter, die im ersten Absatz angesprochen werden, rechnen. Aufgrund der Furcht vor dem Zorn der Götter erscheint dies aber äußerst unrealistisch und unglaubwürdig. Diese Annahme wird durch den insgesamt äußerst polemischen Charakter der Quelle untermauert. Man kann Cato und Plinius also eine gewisse frühe Form der Fremdenfeindlichkeit und gleichzeitig eine sehr nationalistische und damit undifferenzierte Haltung unterstellen.

Plinius‘ Ablehnung gegenüber den Ärzten geht sogar noch weiter. Er unterstellt ihnen schließlich, ein Arzt sei gefährlicher als jedes „mendaci[um]“ (Lüge) und beruhe insgesamt auf „inscitia[...] capital[is]“ (tödlicher Unwissenheit)[27]. Auch hier wird Plinius‘ polemischer Schreibstil deutlich. Als größte Unterstellung schließlich wirft er den Ärzten schließlich vor, „experimenta per mortes ag[ere]“, also Experimente mit dem Tod zu machen[28]. Dadurch wird der Anfangsgedanke wiederaufgenommen, der Arzt mache Geschäfte mit dem Leben seiner Patienten[29].

Insgesamt muss bei Plinius Quellenkritik geübt werden, da er sich wie bereits erwähnt durch seine sehr undifferenzierte Meinung selber unglaubwürdig macht. Dies passt zu seiner allgemein der griechischen Kultur gegenüber sehr ablehnenden Haltung. Daher müssen weitere römische Quellen hinzugezogen werden, um ein ausgewogeneres Bild zu zeichnen, z.B. Cicero.

Dieser beschreibt in seinem Werk „de officiis“ die Medizin als eine Kunst, bei der eine „prudentia maior“, also eine recht große Klugheit, beteiligt ist[30]. Sie gehöre nicht zu den Künsten, bei denen eine „non mediocris utilitas“, d.h. ein nicht mittelmäßiger Nutzen, angestrebt wird[31]. Sie ist vielmehr „honest[a]“ (ehrenvoll). Cicero stellt also die Klugheit (prudentia) und die Nützlichkeit (utilitas) des Arztberufs heraus. Denn Klugheit ist die Voraussetzung, um überhaupt als Arzt arbeiten zu können, da ein Arzt ohne Kenntnisse über den Körper keinerlei Hilfe leisten kann[32]. Auf der anderen Seite kann mit Klugheit aber auch eine gewisse Menschenkenntnis gemeint sein, die ein Arzt benötigt, um für seine Patienten sorgen zu können. Die Nützlichkeit liegt darin, dass der Patient in der Regel von der Behandlung profitiert bzw. profitieren sollte, soweit der damalige Forschungsstand dies zuließ. Somit hängt die „utilitas“ der Medizin unmittelbar von der „prudentia“ des Arztes und damit auch von der seines Lehrmeisters ab.

Insgesamt wird der Beruf des Arztes nicht als solcher gesehen, der sich den Hass der Menschen („odia hominum“) zuzieht, wie es z.B. bei Zöllnern („portitor[es]“) der Fall ist[33]. Auch werden die besonderen Fähigkeiten eines Arztes herausgestellt, indem die Tätigkeiten der „mercanniorum“ (Lohnarbeiter) als geringwertig gesehen werden, da man nur deren Arbeit(sleistung), die „operae“ erwirbt, welche weniger wert sind als die Künste, „artes“[34]. Durch die Bezeichnung der Medizin als Kunst wird auch Ciceros Achtung ihr gegenüber deutlich, da er sie nicht als bloßes Handwerk sieht.

Damit wird von Cicero insgesamt ein ganz anderes Bild gezeichnet als es bei Plinius der Fall ist. Dieser kritisiert die Medizin als griechische Lüge, wohingegen Cicero sie als durchaus nützliche Kunst bezeichnet und nicht als normale Arbeit, die jeder leisten kann.

2.1.2 Forschen

Die Forschung ist als Grundlage im Arztberuf unabdingbar, denn ohne die Kenntnisse über den menschlichen Körper und seine Funktionen wäre die Medizin als Wissenschaft gar nicht möglich. Dies ist bereits bei Cicero in seinem schon angesprochenen Werk „de officiis“ erkennbar.[35] Auch Celsus behandelt im Proömium seines Werkes „de medicina“ die Methoden der Forschung. Diese sollen nun näher erläutert werden.

Celsus Darlegung bezieht sich auf das brisante Thema „Vivisektion“, d.h. das Aufschneiden und Sezieren (von Menschen) bei lebendigem Leibe. Er stellt dabei die beiden grundlegenden ethischen und wissenschaftlichen Strömungen der damaligen Zeit vor, die Theoretiker und die Empiriker.

Die Theoretiker waren der Meinung, dass Krankheiten und Schmerzen ihre Ursache „in interioribus partibus“, also in den Eingeweiden (wörtlich: „in den inneren Teilen“) haben[36]. Daher sei es notwendig, „incidere corpora mortuorum eorumque viscera atque intestina scrutari“, also die Körper Toter zu sezieren und die inneren Organe und Gedärme zu erforschen[37]. An dieser Stelle werden besonders die anatomischen Forschungen beschrieben. Herophilus und Erasistratus, die dies „longeque optime“, also bei weitem am besten, beherrscht hatten, taten dies aber nicht mit Toten, sondern mit „nocentes homines […] vivos“, also mit lebenden Verbrechern[38]. Dieses Vorgehen wird als Vivisektion bezeichnet und war schon in der Antike nicht unumstritten. Ihr Vorgehen war dabei aus heutiger Sicht systematisch und durchaus wissenschaftlich. Dies wird aus der darauf folgenden Beschreibung der Untersuchungen durch Celsus deutlich. Sie bestimmten nämlich von den freigelegten Organen wichtige Kennzeichen wie „positum“ (Lage), „colorem“ (Farbe), „ordinem“ (Anordnung) oder auch „contactum“, also Verbindungen untereinander[39]. Hier zeigt sich, dass sie zunächst die Organe zu beschreiben und zu unterscheiden versuchten. Als nächstes versuchten sie dann vermutlich, die Funktion zu erkennen, um von bestimmten Krankheitssymptomen auf Fehlfunktionen einzelner Organe schließen zu können.

Diese Denk- und Vorgehensweise stellt einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Medizin zu einer systematischen und v.a. rationalen Wissenschaft dar, denn die Forschung wurde dadurch zur Grundlage des Arztberufes. Vorher wurden Krankheiten eher auf den Zorn der Götter (äußere Ursachen) und nicht den Körper selber (innere Urache, s.o.) zurückgeführt.[40] Daraus folgt die Abhängigkeit des Arztberufs von der Forschung. Das zeigt, dass die Medizin und damit der (moderne) Arztberuf ohne Forschung nicht möglich sind. An dieser Stelle wird ein erster Teil des Spannungsfeldes deutlich. Denn die Vivisektion stellt einen Gegensatz zu Absatz 3 des Eid des Hippokrates dar; dort werden die Patienten als „sanandos“, also „zu heilende“, bezeichnet und der angehende Arzt schwört, sie vor Schaden und Unrecht („detrimentum et iniuriam“) zu bewahren[41]. Noch deutlicher ist die Formulierung in Absatz 4 des Eides, denn dort wird die Tötung von Patienten verboten. Dieser Grundsatz wird hier ganz deutlich verletzt, da die Patienten durch die Sektion starben.

Auch Absatz 6 des Eides wird verletzt; dort geht es um die Gleichbehandlung aller Patienten. Für die Vivisektion wurden von Herophilus und Erisastratus aber nur vom König bereitgestellte „nocentes homines“, d.h. schädigende Menschen oder einfach Verbrecher, verwendet[42]. Dies stellt eine gezielte Auswahl von „Patienten“ dar und widerspricht damit Absatz 6 des Eides.[43] Zwar scheint Absatz 3 des Eides langfristig erfüllt, da es das Ziel sei, mit der Forschung nach Heilmitteln für Menschen „saeculorum omnium“, also aller Jahrhunderte, zu suchen[44]. Allerdings wird heute noch diskutiert, ob es ethisch tragbar sei, Menschenleben gegeneinander abzuwägen, wie hier in diesem Fall „nocentes homines“ gegen „popul[os] innocent[es]“[45].

Durch diese Widersprüche zwischen dem Eid und der Vivisektion, also den ethischen Grundsätzen und der Forschung, wird deutlich, dass diese praktisch nie in Einklang gebracht werden können. Denn für die Forschung müssen auch heute noch ethische Richtlinien teilweise missachtet oder neu definiert werden. Dies erscheint zunächst gegen die Forschung zu sprechen. Umgekehrt muss aber beachtet werden, dass ohne die Forschung der Arztberuf hinfällig ist, da man ohne anatomische und physiologische Kenntnisse über kranke und gesunde Körper nicht helfen kann. Dann wäre eher wieder vom Beruf des Schamanen statt des Arztes zu sprechen. Diese Abhängigkeit spricht daher klar für die Forschung. Aufgrund dieser widersprüchlichen Schlussfolgerungen stehen die Aspekte des Helfens und des Forschens in einem Spannungsverhältnis, sind sogar oft konträr, und es müssen Kompromisse gemacht werden.

Nach den Theoretikern stellt Celsus die Gegenbewegung zu den Theoretikern, nämlich die Empiriker, vor. Diese bezeichnen die Vivisektion als „supervacu[a]“ und insgesamt „crudel[is]“, also überflüssig und grausam[46]. Sie entkräften die Argumente der Theoretiker mit der These, dass die von den Theoretikern genannten Eigenschaften wie Farbe und Größe der Organe (s.o.) in einem „inciso corpore“, also (auf)geschnitten Körper, ungleich derer eines „integro“, d.h. gesunden, Körpers seien[47]. Die Begründung für diese These ist die Annahme, die Organe würden sich durch Dinge wie „metu[s]“ (Angst), „inedia“ (Hungern) etc. verändern[48]. Hier werden mit der Angst auch äußere Ursachen genannt, was den Gegensatz zu den Theoretikern noch weiter untermauert. Durch die Aussage, das Licht („lux“) sei für die Organe „nova“, also neu, wird außerdem deutlich, dass es von der Natur gar nicht gewollt sei, dass der Mensch in die Innereien des Körpers vordringt[49].

Die Empiriker entkräften die Sinnhaftigkeit der Vivisektion bzw. der Sektion allgemein (auch von Toten) damit, dass es falsch und dumm („stult[us]“) sei zu glauben, ein lebendiger Mensch („vivo“) sei wie ein sterbender („moriente“) und ein toter („mortuo“) Mensch[50]. Als Folge sind sie der Meinung, solche Ärzte würden Menschen „crudeliter iugule[nt]“, also grausam abschlachten[51]. Diese drastische Wortwahl drückt die Verachtung der Empiriker gegenüber dieser Maßnahmen der Theoretiker aus. Die Empiriker fordern ein Vorgehen, das weitaus näher am Eid des Hippokrates orientiert ist. Dies zeigt sich darin, dass sie lediglich bei bereits verletzten Menschen wie Gladiatoren, Soldaten oder überfallenen Reisenden, bei denen „interior aliqua pars aperiatur“, also die Innereien geöffnet werden, die inneren Organe betrachten wollen[52]. Dies könne gleichzeitig mit dem Versorgen der Wunden, also „sanitatem molientem“, d.h. [beim] Schaffen von Gesundheit, geschehen[53]. Dieses Vorgehen entspricht dem Hippokratischen Eid, es gibt im Gegensatz zur Vivisektion keine Widersprüche.

[...]


[1] Potjans, Mareike: Beruf Arzt. In: http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/medizin/beruf_arzt_die_geschichte_des_heilens/index.html, zugegriffen am 17.12.2016

[2] Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Arzt, zugegriffen am 12.11.2016

[3] Glücklich, Hans-Joachim (Hrsg.): Forschen, Helfen, Verdienen. Der Arzt in der Antike, Göttingen 1982, S. 32

[4] ebd., S. 32

[5] ebd., S. 33

[6] ebd., S. 33

[7] ebd., S. 33

[8] ebd., S. 33

[9] ebd., S. 33

[10] ebd., S. 33

[11] ebd., S. 33

[12] ebd., S. 33

[13] Vgl. hierzu auch: „Neufassung der Berufsordnung für die deutschen Ärzte“ in: ebd., S. 46

[14] ebd., S. 33

[15] ebd., S. 33

[16] Vgl. hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Genfer_Deklaration_des_Welt%C3%A4rztebundes, zugegriffen am 14.10.2016 sowie „Neufassung der Berufsordnung für die deutschen Ärzte“ in: Glücklich, Hans-Joachim (Hrsg.): a.a.O., S. 46

[17] ebd., S. 11

[18] ebd., S. 11

[19] ebd., S. 11

[20] ebd., S. 11

[21] ebd., S. 11

[22] ebd., S. 11

[23] ebd., S. 11

[24] ebd., S. 11

[25] ebd., S. 12

[26] ebd., S. 33

[27] ebd., S. 13

[28] ebd., S. 13

[29] Vgl. ebd., S. 11

[30] ebd., S. 10

[31] ebd., S. 10

[32] Vgl. hierzu auch 2.1.2 Forschen (Grundlage: C. Celsus de medicina, prooemium)

[33] Glücklich, Hans-Joachim (Hrsg.): a.a.O., S. 9

[34] ebd., S. 9f

[35] Vgl. 2.1.1.2 Kritik und weitere Quellen

[36] Glücklich, Hans-Joachim (Hrsg.): a.a.O., S. 16

[37] ebd., S. 16

[38] ebd., S. 16f

[39] ebd., S. 17

[40] Vgl. auch Potjans, Mareike: Beruf Arzt. http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/medizin/beruf_arzt_die_geschichte_des_heilens/index.html, zugegriffen am 17.12.2016

[41] Glücklich, Hans-Joachim (Hrsg.): a.a.O., S. 33

[42] ebd., S. 17

[43] Vgl. jeweils auch 2.1.1.1 Eid des Hippokrates

[44] Glücklich, Hans-Joachim (Hrsg.): a.a.O., S. 17

[45] ebd., S. 17

[46] ebd., S. 17

[47] ebd., S. 17

[48] ebd., S. 17

[49] ebd., S. 18

[50] ebd., S. 18

[51] ebd., S. 18

[52] ebd., S. 18

[53] ebd., S. 18

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Das Selbstverständnis des Arztes in der römischen Antike und heute
Note
ohne
Autor
Jahr
2017
Seiten
33
Katalognummer
V417320
ISBN (eBook)
9783668672857
ISBN (Buch)
9783668672864
Dateigröße
727 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
ausgezeichnet mit dem Kalliope-Preis beim 31. Certamen-Rheno-Palatinum - Landeswettbewerb Alte Sprachen Rheinland-Pfalz.
Schlagworte
selbstverständnis, arztes, antike
Arbeit zitieren
Philipp Müller (Autor:in), 2017, Das Selbstverständnis des Arztes in der römischen Antike und heute, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/417320

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