Islam, Staat und Demokratie - Fallstudie Marokko


Seminararbeit, 1999

19 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Systemüberblick
Geographie, Bevölkerung, Sprache und Kultur
Geschichte
Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit

3. Königtum und Islam in Marokko
Die Tiefenstruktur politischer Herrschaft im Islam
Der „Hassanismus“

4. Die Chancen der Demokratie in Marokko

Literaturliste

1. Einleitung

Das Königreich Marokko nimmt als politisches Gemeinwesen im arabischen Raum in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung ein. Seine geographische Position und seine ethnischen und kulturellen Eigenarten sowie die Spezifika des politischen Systems, das zwischen islamischem Autoritarismus und demokratischer Säkularität westlicher Prägung die Vermittlung sucht, machen Marokko für eine Systemanalyse unter Berücksichtigung eben dieser spezifischen politischen Einflüsse besonders interessant.

Vor allem vor dem Hintergrund der geplanten EU-Assoziierung Marokkos empfiehlt sich die Frage, ob die islamische Wertewelt, die die politische Kultur des arabischen Raumes prägt und bestimmt, mit der europäischen Werteskala soweit zu vereinen ist, daß eine Anbindung Marokkos an Europa sich erfolgreich verwirklichen läßt. Eine derartige Diskussion wird ja schon im Zusammenhang mit dem Ersuchen der Türkei um die Aufnahme in die Europäische Union teils hitzig geführt. Nachdem die demokratische Grundverfassung zum Kern des europäischen Wertekanons zu zählen ist, muß vor allem gefragt werden, inwieweit Marokko als demokratisches Staatswesen zu betrachten ist, in dem elementare Bürgerrechte und politische Rechte gewährleistet sind, oder mit welchen Zeithorizont eine Demokratisierung zu erwarten ist.

Die Demokratie- und Transitionsforschung stellt vielfältige Hilfsmittel zur Untersuchung und Beantwortung dieser Fragen zur Verfügung, die alle mehr oder weniger ihre Schwächen aufweisen (Schmidt, 264-292). Ein grundsätzliches Problem bei Analysen des Demokratisierungsgrades z.B. über Demokratie­indices ist darin zu sehen, daß diese vor allem die Strukturebene eines Staatswesens untersuchen, aber weniger die Akteursebene ins Blickfeld nehmen, und den Bereich der Werte und die Eigenheiten des Weltbildes und Selbstverständnisses der untersuchten Gesellschaft kaum beachten. Diese Aspekte sind schwer oder gar nicht zu parametrisieren, und können daher auch nicht in entsprechenden Indices Berücksichtigung finden. Einer der bekanntesten dieser Indices ist beispielsweise der von Freedom House, der auch verschiedene „weiche“ Faktoren miteinbezieht, diese aber recht intuitiv wertet. Wenn Indices auf diese Weise neben der formalen Gestaltung von Institutionen vielleicht auch deren faktische Relevanz abbilden, so sagen sie doch immer noch nichts über die Motive der Teilnehmer am politischen Prozeß aus.

Wie demokratisch ein Staatswesen ist, kann also nicht ohne weiteres beantwortet werden. Und wie gut der gesellschaftliche Interessenabgleich funktioniert, ist natürlich nicht unbedingt von dem Vorhandensein formal-demokratischer Institutionen abhängig. Deswegen lohnt es sich, die Legitimationsstrukturen der Herrschaft in Marokko anhand der Weberschen Kategorien etwas eingehender unter die Lupe zu nehmen, und dabei die Erkenntnisse der aktuellen Demokratieforschung nicht ganz außer acht zu lassen. So fällt am marokkanischen Staat die Verschmelzung theokratisch-traditionaler Herr­schafts­muster mit feudalen Strukturen der Herrschaftsorganisation auf, und das alles im Gewand rational-herrschaftlicher Institutionenausformung.

Die zentrale These dieser Arbeit beschäftigt sich daher mit der Frage, ob die demokratischen Institutionen in Marokko nicht lediglich ein Deckmantel für eine Art der Herrschaft sind, die mit dem demokratischen Grundgedanken im wesentlichen unvereinbar ist. Um diese These zu bekräftigen, muß zunächst die Rolle des Islam bei der Etablierung und Legitimation der (monarchischen) Macht untersucht werden. Das Fundament für die Legitimation der Herrschaft in Marokko liefern die theonomischen politischen Vorstellungen des Islam, die ganz autoritativ die Souveränität dem Monarchen als Herrscher von Gottes Gnaden zuordnen. Der Bereich der Herrschaftsorganisation dagegen ist traditional und feudalistisch geprägt. Die weitreichende Kooptierung aller gesellschaftlichen Kräfte durch den Monarchen legt die Vermutung nahe, daß der Islam tatsächlich nur rhetorisch eine starke Rolle spielt und in Wirklichkeit für die Zwecke der Herrschaftslegitimation instrumentalisiert wird. Das heißt jedoch nicht, daß die Macht in Wirklichkeit säkular organisiert und die Trennung von Staat und Religion faktisch vollzogen ist. Wenn diese These zutrifft, dann sind die Chancen für eine weiterreichende Demokratisierung Marokkos als sehr gering einzustufen.

2. Systemüberblick

Geographie, Bevölkerung, Wirtschaft

Marokko ist Teil des Maghreb, der sich geographisch vom östlichen Teil der arabischen Welt durch die lybische Wüste abtrennt. Kulturell in der arabischen Welt eingebettet pflegt Marokko dennoch die maghrebinische Identität, versucht aber gleichzeitig seine Rolle als afrikanische Nation zu erfüllen und hat zudem durch die Kolonialherrschaft der Franzosen traditionell enge Verbindungen zum Westen.

Mit einem Bevölkerungswachstum von 1,8% pro Jahr wächst Marokko so schnell, daß die Früchte des wirtschaftlichen Wachstums fast vollständig davon konsumiert werden. Seit 1962 hat sich die Einwohnerzahl des Maghreb verdoppelt. Etwa 35 Prozent der Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt, das Bildungswesen und die Beschäftigungslage werden dadurch stark belastet. Der Staat gibt 22,6 Prozent für das Bildungswesen aus. Viele wählen deshalb den Weg der Emigration und gehen nach Frankreich. Die Auslandsmarokkaner verstärken die Bindung an Europa noch.

Derzeit hat Marokko etwa 27,5 Millionen Einwohner, von denen über 90 Prozent ethnisch als Berber zu bezeichnen sind. Von diesen sind jedoch nur etwa 50 Prozent, vor allem in den Städten, arabisiert, während der Rest verschiedene Berberdialekte spricht. Man kann die Berber nicht als eigene Ethnie, abgesondert von den Arabern, betrachten. Die Berber selbst sehen sich als Araber, lebten traditionell jedoch weitverstreut über den ganzen Maghreb in Stammesverbänden oder Dorfgemeinschaften mit eigenen lokalen Verwaltungsstrukturen. Die französische Kolonialmacht versuchte 1936 mit dem „dahir berbère“ (Berberdekret) einen Keil zwischen Berber und Araber zu treiben, jedoch ohne Erfolg. Das Berberdekret bewirkte politisch das Gegenteil des Beabsichtigten, weil sich die einzelnen Volksgruppen als Marokkaner solidarisierten [Herzog, 50].

Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes spielt auch politisch zunehmend eine wichtige Rolle. Unter der internationalen Armutsgrenze leben gegenwärtig zwar nur zwei Personen des Landes, die jährliche Rate des Wirtschaftswachstum von 7 Prozent reicht aber laut eines Berichts der Weltbank [Griffin, 87] gerade dazu, die Arbeitslosenquote bei den gegenwärtig 16 Prozent zu halten. Hier zeigt sich wie bei vielen Ländern in Entwicklung, daß ein faktisch vorhandenes Wachstum von den Folgen der Bevölkerungsexplosion konsumiert wird. Soziale Unruhen, zuletzt im Frühjahr 1996 werden vor allem von wirtschaftlichen Faktoren ausgelöst, zum Beispiel von der Ankündigung einer Erhöhung der Verbraucherpreise, von dem Versagen der Regierung beim Eindämmen der Inflation oder von Dürreperioden, die die landwirtschaftlichen Erträge, von denen die Mehrheit der Bevölkerung lebt, schmälert. [Griffin, 89]

Im November 1995 unterzeichnete Marokko nach intensiven Verhandlungen einen Assoziationsvertrag mit der Europäischen Union. Im Jahr 2008 wird Marokko die südlichste Grenze der europäischen Freihandelszone bilden, dem ersten Land der arabischen Welt und der ersten Nation auf dem afrikanischen Kontinent, das sich für die Mitgliedschaft qualifiziert. Diese Perspektive bietet enorme Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung Marokkos, belastet aber auch das politische System mit einem gewissen Transformationsdruck, der sich in zwei Verfassungsänderung (1992 und 1996) und der Durchführung von Wahlen 1998 schon ausgewirkt hat. Durch die Einführung des Euro und die zunehmende Bedeutung des europäischen Wirtschaftsraumes für die Anrainerstaaten wird sich dieser Transformationsdruck eher noch verstärken. Die Frage ist, ob dieser – zwar mächtige – externe Einfluß allein ausreicht, die Demokratisierung des marokkanischen Staates voranzutreiben.

Die Frage der Identität ist ein Reizwort in der Diskussion der Marokkaner um ihren Standort in der Welt. Bestimmend für ihre Identität ist die arabisch-islamische Herkunft und Zugehörigkeit [Herzog, 70]. Den Fundamentalismus der islamischen Welt kann man auch als – zugegeben extremen – Versuch der Re-Islamisierung und De-Säkularisierung [Tibi, 25] interpretieren, als Ausdruck eines durchaus legitimen Begehrens, sich auf die eigenen Wurzeln zu besinnen und das eigene Wesen zu leben. Das ist in Marokko nicht anders als im Rest des arabischen Kulturraumes, jedoch mit spezifischen Ausprägungen, deren Wurzeln in der marokkanischen Geschichte liegen.

Geschichte

Marokko zeichnet sich vor den anderen Staaten des Maghreb dadurch aus daß es vom 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts ohne Fremdherrschaft war. Das Einflußgebiet des osmanischen Reiches endete an der Grenze zu Algerien. Erst 1912 wurde Marokko unter ein zwischen Franzosen und Spaniern geteiltes Protektorat (bis zur Unabhängigkeit 1956) gestellt, das formell die Machtstrukturen im Land intakt ließ, aber bald seine Kontrollfunktionen überschritt. Die Kolonialherrschaft, die in Algerien 132 Jahre dauerte, fand in Marokko schon nach 44 Jahren ihr Ende. Trotzdem wurden fast alle Lebensbereiche von französischer Kultur und europäischer Denkungsart beeinflußt. Französisch ist immer noch die Sprache der Gebildeten und Erfolgreichen, Hoch-Arabisch wird von den Gelehrten, Politikern und Herrschern gesprochen und der Dialekt, durchsetzt von französischen Ausdrücken, ist den einfachen Leuten vorbehalten.

So kommt bereits in den Sprachgepflogenheiten eine geschichtlich bedingte und in Bewegung geratene Stratifizierung der marokkanischen Gesellschaft zum Ausdruck. Problematisch wird dies, wo die einfachen Leute den König, der seine offizielle Ansprachen auf Arabisch hält, nicht verstehen. Die Kolonialherrschaft hat aber einige wesentliche Errungenschaften in die marokkanische Gesellschaft eingeführt. Neben der bereits erwähnten Verbesserung der Infrastruktur ist dies vor allem die Einführung europäischer Organisationsstrukturen in der Verwaltung und bei den Behörden. Während des Protektorats versuchte Frankreich, das Land unter seine Kontrolle zu bringen. Wo die Herrschaftsstrukturen noch bis zu diesem Jahrhundert recht lose gewesen waren, und der Sultan Steuergelder vor allem auch deswegen eintrieb, um abtrünnige Stämme zu bekämpfen, leisteten die Franzosen dem Sultan in Fes einen unschätzbaren Dienst, indem sie die abtrünnigen Stämme des mittleren Atlas besiegten, zerstörten oder deportierten [Herzog, 62].

In den Jahren 1958 und 1959 begehrten die Stämme in der Rif-Rebellion erneut auf, ohne jedoch einen Konkurrenten des Königs zu favorisieren [Faath, 48]. Hier zeigte sich, daß die Autorität des Königs nur mehr in Teilaspekten angezweifelt wurde und daß tatsächlich Machtinteressen lokaler Autoritäten im Hintergrund standen. Es ist entscheidend für die einigermaßen harmonische Konsolidierung einer geeinten marokkanischen Nation, daß die alawitische Dynastie ihre Machtansprüche gegen die traditionellen Ansprüche lokaler Autoritäten durchzusetzen wußte. Wo vorher ein (vielleicht auch ethnisch im Berbertum begründetes) duales Machtsystem geherrscht hatte, setzte sich nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1956 immer mehr die Autorität der Zentralmacht durch, unerläßliche Voraussetzung für das „nation-building“.

Es lohnt sich, die Geschichte der Entstehung der modernen marokkanischen Nation zu beleuchten, weil das Regierungssystem Marokkos seither beachtlich stabil geblieben ist. Stabilitätsfaktor Nummer 1 ist ohne Zweifel die enorme Machtfülle des Königs, der in alle Bereiche des Staates hineinregiert. Während in Tunesien nach der Unabhängigkeit der Bey abgeschafft wurde, konnte sich in Marokko die Dynastie der Alawiten halten und mit der Transformation in eine (konstitutionelle) Monarchie seine Machtfülle sogar noch steigern. Dies war jedoch nur möglich, weil durch die besonderen Umstände der Unabhängigkeit der damalige Sultan Mohammed Yousef, der Vater des jetzigen Königs Hassan II., sich nicht nur nicht als Kollaborateur diskreditierte, sondern für die nationale Bewegung sogar zu einer Symbolfigur wurde. Das ist auch der Grund, warum der König in Marokko eine so zentrale Rolle für das Selbstverständnis der Nation hat. Hassan II. pflegt diesen Kult, indem er sich immer wieder in die Tradition seines Vaters stellt [Faath, 96].

1943 entstand aus einem Aktionskomitee die Unabhängigkeitspartei (PI, Partie de l’Istiqlal), die die Unabhängigkeit unter der Regierung von Sultan Mohammed ibn Yousuf forderte. Der Sultan unterstützte damals die nationalistische Bewegung. Istiqlal hatte eine große Anhängerschaft in den Städten, die konservativen Stämme auf dem Land aber unterstützten den Pascha von Marrakesch. Nach Auseinandersetzungen zwischen dem Sultan und der französischen Verwaltung forderten die Unterstützer des Paschas 1953 bei den französischen Behörden die Absetzung des Sultans. Nachdem sich die Berberstämme mobilisierten und auf die Städte zumarschierten, gab der Sultan nach und ging nach Europa ins Exil, ohne jedoch abzudanken. Mohammad ibn Arafa, ein alternder Onkel des Sultans und Schwiegersohn des Paschas, wurde als neuer Sultan eingesetzt. Die Situation jedoch blieb angespannt und die folgenden Jahre sahen gewalttätige Auseinandersetzungen und der nationalistische Impuls wurde auch in Regionen getragen, die die Istiqlal bisher nicht erreicht hatte [Faath, 34].

Die Situation für die Protektoratsmacht wurde durch den Ausbruch der Gewalt und durch außenpolitischen Druck immer enger[1]. Ab 1954 nahmen die Franzosen daher mit dem abgesetzten Sultan Gespräche auf. Im November 1955 kehrte Mohammad ibn Yousuf nach Marokko zurück. Die Protektoratsakte wurde für ungültig erklärt, die französische Regierung erkannte die Unabhängigkeit Marokkos an. Der Sultan erhielt die volle legislative Kontrolle in Marokko [Europa, 800].

Obwohl die PI eine zentrale Rolle bei der Erlangung der Unabhängigkeit gespielt hatte und sich von daher eine entsprechende Beteiligung an der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit versprochen hatte, löste der Sultan nach seiner Rückkehr die Allianz mit den Nationalisten und beauftragte einen Parteilosen mit der Bildung einer Übergangsregierung. Sultan Mohammed war in allen Bevölkerungsschichten zum Symbol der nationalen Einheit geworden und repräsentierte den nationalen befreiungskampf. Außerdem kontrollierte er jetzt durch moderne Verwaltungsstrukturen auch die ländliche Bevölkerung, die er als weltlicher und religiöser Führer in den Nationalstaat integrierte. Der Sultan erwarb sich außerordentliches Prestige und stellte sich als Vermittlungs- und Schlichtungsinstanz über die heterogenen Kräfte des Landes. Die fehlende Berücksichtigung konstruktiver politischer Kräfte wie der Istiqlal, die sich aus einer nationalen Bewegung heraus formierend an der Errichtung eines modernen Marokko mitwirken wollten, findet sich seither als immer wiederkehrendes Muster im politischen Geschehen des Landes.

1957 wurde dann mit einer ersten Verfassung das Sultanat in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt. Nach dem Tod Mohammed V. bestieg Prinz Hassan als Hassan II. im Jahre 1961 den Thron. Seine Regierungszeit von 1961 bis heute ist durch einer außerordentliche Stabilität der Macht gekennzeichnet und läßt sich nach Faath in vier Phasen einteilen:

Die erste Phase bis 1965 ist gekennzeichnet von dem gescheiterten Versuch der Machtkonsolidierung durch eine unzureichende Demokratisierung. Die Verfassung von 1962 schreibt die wichtigsten exekutiven und legislativen Befugnisse für den König fest und sichert ihm auch einen Einfluß auf die Jurisdiktion [Faath, 99]. Der König ist Staatsoberhaupt, Regierungschef, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und höchster Geistlicher Führer in einer Person – also praktisch Papst, Präsident und Kanzler gleichzeitig. Die Ankündigung des Königs zur Demokratisierung des Systems beschränkte sich in der Praxis auf die Bereitschaft zur Etablierung formal-demokratischer Institutionen. So hatte der Beraterstab des Königs immer größeren Einfluß als das Regierungskabinett.

Trotz der in seiner Person vereinigten Machtfülle war Hassan in der darauffolgenden Phase bis etwa 1970 gezwungen, offen auf autoritäre Maßnahmen zurückzugreifen. Aufgrund der Frustration über die politische Situation eskalierte die Konfrontation zwischen König und Opposition, so daß Hassan 1965 schließlich den Ausnahmezustand proklamierte. Bis 1970 hatte die Regierung lediglich eine sekundierende Funktion bei der Ausführung königlicher Prärogative. Trotzdem gelang es Hassan nicht, die Opposition[2] durch repressive Intervention zu demontieren [Faath, 133].

Die Dekade von 1971 bis 1980 ist gekennzeichnet durch zwei Putschversuche des Militärs in den Jahren 1971 und 1972, die Hassan aber überlebte[3]. Die beiden Putschversuche erschütterten das Verhältnis des Königs zur Armee und so übernahm er selbst die Funktion des Verteidigungsministers und Generalstabschefs. Die Armee wurde neu organisiert. Die Familie des putschenden Generals Oufkir wurde in Sippenhaft[4] genommen [Faath, 145]. Auch in den folgenden Jahren wurde die Opposition systematisch unterdrückt und mit politischen Prozessen überzogen, die oppositionelle Parteipresse wurde verboten oder beschlagnahmt. Im außenpolitischen Konflikt um die Westsahara zeigte sich ab 1974 für den König die Chance einer innenpolitischen Solidarisierung aller Kräfte und Parteien. Mit dem „Grünen Marsch“ mobilisierte er 1974 wahre Volksmassen für eine friedliche Okkupation der Westsahara: eine logistischen und politische Meisterleistung, die 1975 zur Unterzeichnung des Abkommens von Madrid führte, das Marokko die Verwaltung für das Gebiet übertrug.

Die vierte Phase von 1980 bis 1987 ist geprägt durch soziale Spannungen, durch eine erneute Polarisierung und Kooptierung der politischen Kräfte. Die 90er Jahre brachten zwei Verfassungsänderungen mit wesentlichen institutionellen Korrekturen und die Annäherung an die EU. Aber von Liberalisierung oder demokratischer Öffnung zu sprechen, scheint angesichts der absoluten Herrschaftsambitionen des Königs in den vergangenen 30 Jahren doch verfrüht. Die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen ist ja kein Ergebnis ihrer formalen Existenz, sondern hängt vor allem davon ab, ob das Selbstverständnis gesellschaftlicher und politischer Handlungsträger diese Institutionen zum Leben erweckt.

Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit

Es ist also die zivile und institutionelle „Kultur“, die über die Funktionsfähigkeit einer Demokratie entscheidet. Es ist die Übereinstimmung von demokratischer Verfassungsnorm und Verfassungsrealität, die anzeigt, ob Demokratie verwirklicht ist. Man kann von Demokratie sprechen, wenn grundlegende politische Rechte garantiert sind und entsprechende Institutionen zur Ausübung und Kontrolle legitimer Macht existieren. Der Begriff der Herrschaft als legitimer Macht im Weberschen Sinne verweist zurück auf die prinzipielle Frage, wer als Souverän zu betrachten ist. In einer Demokratie ist dies das Volk, von dem alle Legitimation ausgeht, entweder direkt oder durch Repräsentation.

[...]


[1] Ausbruch des Algerienkrieges 1955, Differenzen mit den Spaniern wegen fehlender Konsultation anläßlich der Einsetzung von Mohammad ibn Arafa als Sultan, Forderungen der USA nach einer Beendigung der Gewalttätigkeiten.

[2] Das war neben der gemäßigten Istiqlal vor allem die Union Nationale des Forces Populaires (UNFP), mit ihrem Führer Mehdi ben Barka, der 1965 entführt wurde und seither verschwunden blieb. Die 1963 gegründete Front pour la défense des institutions constitutionelle (FDIC) vertritt dagegen die Interessen des Königs.

[3] Interessanterweise, wie Faath (S. 141) anmerkt, entstammten fast alle putschenden Offiziere berberophonen Familien.

[4] Das U.S. State Dept. berichtet in seinem Morocco Human Rights Report 1996, daß Maria Oufkir, die Tochter des Generals, die nach dessen Verschwinden 1972 ganze 14 Jahre lang unter Hausarrest stand, 1996 nach Frankreich ausreisen durfte.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Islam, Staat und Demokratie - Fallstudie Marokko
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften)
Veranstaltung
Übung: Islam, Staat und Demokratie
Note
1,5
Autor
Jahr
1999
Seiten
19
Katalognummer
V41716
ISBN (eBook)
9783638399258
Dateigröße
382 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit setzt sich mit den Chancen der Demokratie in Marokko auseinander und berücksichtigt dabei historische, politische und religiöse Bedingungen.
Schlagworte
Islam, Staat, Demokratie, Fallstudie, Marokko, Islam, Staat, Demokratie
Arbeit zitieren
Manfred Kipfelsberger (Autor:in), 1999, Islam, Staat und Demokratie - Fallstudie Marokko, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41716

Kommentare

  • kadir al khayar am 12.4.2011

    von wo haben sie diese information:das die marokkanische berber sich als araber betrachten,ich bin selbst berber und bin szolt drauf .von nord marokko wo ich hier komme kenne ich kein berber die sich als araber betrachten.zu dein information nord marokko war von spanien bezets nach kriegerische und ziel reiche verlust ,est nach einzats von chemische waffen deutsch fabrikate ergab sich die berber fuhrer mohamed abdelkarim el khatabi,heute verlangen der berber in nord marokko ein autonomie ...und es werd auch da zu kommen

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Titel: Islam, Staat und Demokratie - Fallstudie Marokko



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