"Malinche" im Diskurs mexikanischer Nationalität

"Malinche Show" (Willebaldo López) und "La Malinche" (Víctor Hugo Rascón Banda). Zwei Werke, ein Mythos


Bachelorarbeit, 2016

44 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Mexikos Identitätskonflikt
2.1 Die politisch-soziale Situation Mexikos im 20. Jahrhundert
2.2 Die Mythen um Malinche
2.2.1 Mutter der Mestizen - Symbol des mestizaje
2.2.2 Malinche als Verräterin und La Chingada

3 Autoren und ihre Werke im mexikanischen Theater des 20. Jh
3.1 Die Situation des Theaters vor der Jahrtausendwende - die neue Generation
3.2 Willebaldo López
3.2.1 Malinche Show
3.3 Víctor Hugo Rascón Banda
3.3.1 La Malinche
3.3.2 Exkurs: Johann Kresniks Inszenierung von La Malinche

4 Repräsentation Malinches in Malinche Show und La Malinche
4.1 Intertextualität und Metatheater im modernen Drama
4.1.1 Intertextualität als Brücke zwischen Kunst und Kultur
4.1.2 Metatheater und Metadrama
4.2 Malinche Show
4.3 La Malinche

5 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1521 ist in der mexikanischen Geschichte eine der wichtigsten Jahreszahlen, die symbolisch den historischen, kulturellen und sozialen Wandel des Landes repräsentiert und der auch heute noch eine große Bedeutung im vorherrschenden Identitätskonflikt Mexikos beigemessen wird. Unter der Leitung Hernán Cortés gelang es den Spaniern in jenem Jahr das aztekische Imperium zu stürzen und den Grundstein der Neuen Welt zu legen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich in diesem Kontext auf die literarische Rezeption einer Frau, die eine wesentliche Rolle in der Eroberung Mexikos einnimmt und auch 500 Jahre später im Zentrum des Diskurses der nationalen Identität steht - wobei der Verrat eine entscheidende Rolle spielt. Zusammen mit 19 anderen indigenen Frauen wurde Malinche 1519 von Kaziken in Tabasco als Geschenk an die Spanier überreicht.1 Niemand hätte gedacht, dass diese Frau der Schlüssel zur erfolgreichen Eroberung sein würde. Die junge Malinche beherrscht Nahuatl und die Sprache der Maya, eignet sich zudem binnen kürzester Zeit die spanische Sprache an. Diese linguistischen und kommunikativen Fähigkeiten verwandeln sie in die wohl wichtigste Schlüsselperson beim Aufeinandertreffen beider Kulturen. Sie wird zur Übersetzerin, Vermittlerin, Beraterin von Hernán Cortés und später auch zu dessen Geliebte und Mutter seines Sohnes Martín Cortés.

Ihre einzigartige und bedingungslose Hingabe und Unterstützung für die Spanier scheiden bis heute die Geister in der Interpretation ihres Verhaltens und der Umsetzung ihrer Aufgaben, was sie unwillkürlich zum Objekt und Zentrum verschiedenster Konflikte und Diskussionen macht. Sie baut den Spaniern symbolisch die Brücke ins Reich der Azteken, über die sie ihr Ziel erreichen, die Neue Welt zu erobern. Ein Schlüsselereignis stellt die Schlacht von Cholula dar, in der Malinche Cortés von geplanten Angriffen gegen die Spanier berichtet und diesen somit das Leben rettet. Vor allem diese Tatsache verwandelt sie Jahrhunderte später in die Verräterin ihres Volkes. Es gibt nur wenige Informationen zu Malinche, wenngleich viele Interpretationen. Briefe und Chroniken von Zeitzeugen und Historikern lassen aber keinerlei Zweifel aufkommen, dass ihre Aufgabe als Übersetzerin und Vermittlerin entscheidend zur Eroberung beigetragen hat. Die wohl umfangreichste Quelle zu Malinche und ihrer Person ist die Historia verdadera de la conquista de la Nueva Espa ñ a von dem Zeitzeugen und Chronisten Bernal Díaz del Castillo, der Teil der Flotte unter Cortés war. Auch wenn Kritiker behaupten, Díaz würde versuchen, „Cortés‘ Rolle in der Conquista zu relativieren“2, so stellen seine Informationen aufgrund der Detailreiche dennoch einen erheblichen Wert für die Forschung dar. Malinche ist unter vielen verschiedenen Namen bekannt. Malintzin ist die Version in Nahuatl, zu Marina wird sie nach der Christianisierung durch die Spanier, die sie überdies mit Doña betiteln und ihrer Bewunderung der Exzellenz Marinas damit Ausdruck verleihen. Auch unter Malinalli ist von ihr zu lesen. Hinter all diesen Namen verbirgt sich jedoch ein und dasselbe Schicksal: eine historische Figur, die auch Jahrzehnte nach ihrer Erschaffung noch keine Ruhe findet, da ihr, heute mehr denn je, die Schuld für Mexikos soziale und politische Instabilität zugesprochen wird.

Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Malinche vermehrt in zahlreichen Romanen und Theaterstücken Protagonistin, die gegen ihre verschiedenen negativen Mythen, die um sie entstanden sind, ankämpft und dabei versucht, mittels neuer Perspektiven auf die Geschichte der Eroberung, Mexiko die Augen vor der Wahrheit bzw. Unwahrheit zu öffnen und Raum für neue Kritik zu schaffen. Zwei Theaterstücke, die sich jeweils der manifestierten Mythen um Malinche bedienen, sollen in dieser Arbeit im Kontext des mexikanischen Identitätskonfliktes näher untersucht werden. Willebaldo López mit seinem Werk Malinche Show und Víctor Hugo Rascón Banda mit seinem Werk La Malinche gehören beide zu derselben Generation im mexikanischen Theater und verfolgen gemeinsame Ziele mit ihren Darstellungen: offene und direkte Kritik an der politisch- sozialen Situation Mexikos. Dafür verwenden beide Autoren verschiedene Techniken und Stilmittel, wenngleich die Thematik im Kern dieselbe ist. Ziel dieser Arbeit ist es, die Anwendung der Mythen um Malinche im Theater anhand beider vorliegenden Beispiele zu untersuchen. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern die historische Figur thematisch im Zentrum des nationalen Diskurses steht und welche Rolle ihre verschiedenen Interpretationen dabei spielen. Eine genaue Betrachtung der zwei Werke soll im Rahmen einer Analyse der sozialen und politischen Situation Mexikos entstehen. Die Hybridisierung in Mexiko führt vor allem heute zu großen Identitätskonflikten im Land, mit denen Malinche unmittelbar verknüpft ist. Das erste Kapitel der Arbeit behandelt den Identitätskonflikt Mexikos genauer. Dazu wird zunächst ein allgemeiner Überblick zur Entstehung und Entwicklung des Konflikts gegeben, anschließend wird dieser im Kontext der sozial-politischen Situation im 20. Jahrhundert genauer erörtert. Eine Betrachtung der verschiedenen Mythen Malinches schließt das erste Kapitel ab. Der darauf folgende Abschnitt widmet sich einleitend dem mexikanischen Theater im 20. Jahrhundert und dessen Besonderheiten, um anschießend beide Autoren, ihre Arbeiten und ihre hier analysierten Werke vorzustellen. Das letzte Kapitel beschäftigt sich genauer mit der Repräsentation Malinches in den Werken von López und Banda. Dabei werden zunächst in einem theoretischen Rahmen grundlegende Elemente beider Werke untersucht, die Intertextualität und das Metatheater. Eine Klärung beider Begriffe und deren Funktionen führen zu einem besseren Verständnis in der Analyse beider Theaterstücke. Diese Analyse stellt den Abschluss des letzten Kapitels dar und erörtert wichtige Szenen und Elemente beider Werke. Im Rahmen der Arbeit ist es nicht möglich, alle Besonderheiten hervorzuheben. Die wichtigsten werden jedoch Teil der Arbeit und bei der Frage nach der Verbindung zwischen der Geschichte und der Realität zu Antworten führen. Ein Fazit mit einem möglichen Ausblick komplettiert die vorliegende Thesis.

2 Mexikos Identitätskonflikt

Der Identitätskonflikt in Mexiko ist im 20. Jahrhundert präsenter denn je zuvor. Er stellt auch heute noch eines der delikatesten und umfangreichsten Themen des Landes dar. Die Eroberung im 16. Jahrhundert durch die Spanier ist der zentrale Ursprung dieses Konfliktes, der ein Phänomen im gesamten lateinamerikanischen Raum darstellt und im Laufe der Geschichte vor allem in Mexiko an zunehmender Bedeutung gewinnt. Die Spanier treffen, wie Hernández betont, auf debile und anfällige Strukturen innerhalb der einzelnen Dörfer und unter den verschiedenen Völkern gibt es kaum Zusammenhalt3, was ideale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Eroberung darstellen. Die Unterwerfung präkolumbianischer Reiche wie die der Azteken und Maya, unterdrückt von Anfang an, seit der Einreise der Spanier, traditionelle Kulturen und bereits etablierte Systeme. Der endgültige Sieg über das aztekische Imperium führt zu einer sogenannten Akkulturation, dem Überschreiben der indigen Kultur mit der spanischen.4 Die Spanier, die die Neue Welt im Rausch erobern, betrachten die indigenen Völker als unzivilisiert und minderwertig, da sie über keinerlei bekannte Attribute und Werte aus der abendländischen Welt verfügen und man sie aufgrund ihrer anderen Sprache auch nicht versteht. Die Indios verlieren durch Versklavung und Ausbeutung seitens der Spanier nicht nur ihre Würde und ihr Leben, sondern führen auch die anschließenden Missionierungen im Land und die Lehre der spanischen Sprache zum Verlust aller Traditionen und Kulturen. Seuchenausbrüche, ausgelöst durch eingeführte Krankheiten aus Europa, führen innerhalb kürzester Zeit zur maximalen Reduzierung der indigenen Bevölkerung auf zehn Prozent.5 Das Blut der Indios vermischt sich fortan mit dem europäischen der Spanier und das indigene Volk wird zur eindeutigen Minderheit. Das Eingliedern in neue Systeme, neue Glaubensrichtungen und neue Hierarchien sowie die Adaption neuer Traditionen führen somit bereits von Anfang an zu existenziellen Identitätsfragen in Mexiko und legen bereits die ersten Weichen für die eine konfliktreiche Zukunft im Land.

2.1 Die politisch-soziale Situation Mexikos im 20. Jahrhundert

Mit den Unabhängigkeitsbewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich Mexiko erstmals offiziell und bewusst mit der Thematik der eigenen nationalen Identität. Doch ist die Initiierung jener Bewegung viel weniger ein Ergebnis indigenen Strebens nach eigener Identität oder hat das Ziel, die Indios aus ihrer unterdrückten Lage zu befreien. Die ethnischen und sozialen Differenzen unter den verschiedenen Gruppierungen erschweren außerdem die Entstehung eines nationalen Bewusstseins. Es ist vielmehr das Resultat der Kämpfe der Kreolen, jene in Mexiko geborenen Spanier, die die Oberschicht repräsentieren, um die alleinige Macht im Land und damit Unabhängigkeit von den spanischen Herrschaften in den Kolonien. Außerdem lassen der eurozentrische Blick und die Orientierung zur Unabhängigkeit keine Nationalität im Wesentlichen zu.6 Erst mit der Wende des 20. Jahrhunderts beginnen auch die mittleren und unteren Schichten wie die Mestizen und Indios im Kontext der mexikanischen Revolution um ihre Rechte zu kämpfen, was zur Folge hat, dass die indigene Bevölkerung an zunehmender Bedeutung im Diskurs der nationalen Identität gewinnt.7 Das neue Aufwerten des indigen Erbes und der Wunsch zur Rückkehr zu den Wurzeln führen auch zur sogenannten „Indigenismo“-Bewegung, welche unter den Intellektuellen im Kontext der nationalen Identität großen Anklang findet.8

Der Nationalismus wird zu einem weitreichenden nationalen Phänomen im kollektiven Gedächtnis der Mexikaner. Betrachtet man die Situation jedoch auf politisch- wirtschaftlicher Ebene, stellt man schnell fest, dass im Laufe des Jahrhunderts nicht die kulturellen und traditionellen Werte im zentralen Vordergrund stehen, sondern die Wirtschaftlichkeit und der Einzug in die moderne Welt - ein Widerspruch in sich.

Die drei Hautparteien sind die PRI (Partido Revolucionario Institucional), die PAN (PArtido Acción Nacional) und die PRD (Partido Revolucionario Democratico). Die PRI, die nach der Revolution 1932 gegründet wird, ist bis 2000 die führende unter den drei Parteien und bekannt für ihre politisch anhaltende Macht. Zunächst bringt sie unter der Leitung des Präsidenten Lázaro Cárdenas del Río Mexiko den wirtschaftlichen Aufschwung und setzt sich vermehrt für die indigene Bevölkerung ein, beispielsweise im Bidungssektor. Im Laufe ihrer Regierungszeit handelt die PRI jedoch nicht mehr lange im Sinne ihrer Gesellschaft. Die Partei, die zu Beginn ihrer Amtszeit auf eine stabile und bessere Zukunft für Mexiko hoffen lässt, entpuppt sich nach gewisser Zeit als dictablanda, eine „freundliche“ und versteckte Diktatur.9 Der einst hoffnungsvolle Keim der Revolution zu Beginn des Jahrhunderts trägt keine Früchte mehr und die Mexikaner wenden sich gegen das politische System. Die Doktrinen der PRI für eine vermeintliche Nationalität grenzen die indigene Bevölkerung aus und die Geschichte Mexikos wird zur Farce. Korruption, Ausbeutung und Unterdrückung regieren im Kostüm der vermeintlich revolutionären Partei PRI das Land. Höhepunkt der Spannungen zwischen Regierung und Gesellschaft ist unter anderem das Massaker von Tlatelolco im Jahr 1968. Eine friedliche Studentendemonstration, die sich für neue Reformen im Land einsetzt, endet als tragisches Blutbad, bei dem hunderte von jungen Menschen durch das gewaltsame Militär und die Polizei ihr Leben verlieren. In den Medien wird das Ereignis als Angriff seitens der Studenten gehandelt, die Wahrheit wird, im Sinne der anstehenden Olympischen Spiele, die erstmals in Mexiko und damit auch erstmals in einem „Ditte-Welt“-Land stattfinden, verschwiegen.

Ein Wirtschafts-Bündnis mit den USA stellt im Laufe der Zeit im politischen Kontext einen weiteren großen Konflikt dar, sein Name ist NAFTA. Jenes Abkommen steht symbolisch für eine Entfremdung der Nation, die sich damit wirtschaftlich einen Eintritt in die moderne Welt verschafft. Doch dabei geht es der Regierung vielmehr um politisches und wirtschaftliches Ansehen, als weniger um die mexikanische Bevölkerung. Am Tag des Inkrafttretens des Abkommens im Jahr 1994 bricht in der Provinz Chiapas ein in die Geschichte eingehender Aufstand aus, bei dem die indigene Bevölkerung für mehr Rechte kämpft. Spannungen im Kontext eines nationalen Bewusstseins und dem Streben nach Identität bestehen in Mexiko bis heute.

2.2 Die Mythen um Malinche

“ Malinalli-Tenepal, Malinche, Malintzin, do ñ a Marina, mujer e ind í gena, madre y puta, traidora y ú tero simb ó lico de la naci ó n mexicana, personaje ambiguo y desconocido, as í es como se nos presenta a la Malinche. [...]; mujer de muchas caras pero jam á s la suya “ . 10

Malinches verschiedene Interpretationen stellen im Kontext des Identitätskonflikts den Kern der Arbeit dar, da sich beide Autoren populärer Versionen der historischen Figur bedienen. Aus dem Zitat von Fernanda Núñez Becarra geht bereits stark hervor, dass es sich bei Malinche um eine vielseitig dargestellte historische Figur handelt, die nicht einfach nur als Übersetzerin von Cortés und Vermittlerin zwischen zwei Kulturen gesehen wird. Vielmehr haben sich im Laufe der letzten Jahrhunderte verschiedene Mythen um ihre Person manifestiert, die sie kontrastreich vor allem zum einen symbolisch als Mutter der Mestizen interpretieren und zum anderen als die Verräterin ihres Volkes. In ihrer Monographie widmet sich Núñez der verschiedenen Bilder, die im Laufe der Zeit um Malinche entstanden sind. Sie bemerkt vor allem die vielen Widersprüche, Ambiguitäten und Leerstellen im Wissen um die Übersetzerin von Cortés11, was nicht zuletzt ein entscheidender Grund der Entstehung verschiedenster Mythen um ihre Person ist. Denn genau dort, wo die Chronisten12, Zeitzeugen13 und Historiker kaum Informationen zu ihrem Leben und ihrer Person bieten, sondern sich einzig auf Erzählungen zur Eroberung beschränken, setzen Wissenschaftler und Autoren aus aller Welt in den folgenden Jahrhunderten an und versuchen, Lücken in ihrer Biografie mit möglichen Ansätzen und Interpretationen zu erklären. Malinche wird weltweit zum literarischen Stoff. In Deutschland stellt Carmen Wurm (1996) eine wichtige Quelle dar, da sie sich genau mit der historischen Figur und ihrer Rezeption in der Literatur beschäftigt, und dabei ebenfalls eine Analyse der Entwicklung der verschiedenen Bilder Malinches vornimmt. Sie merkt die Stellung Malinches zwischen zwei Kulturen ebenfalls als besonderen Aspekt an und reiht sie somit in bereits existierende Traditionen, wie wir sie bei Helena und Medea aus der Antike vorfinden oder ähnlich in Nordamerikas freundschaftlicher Begegnung zweier Kulturen durch die Indianerin Pocahontas.14 Sie bemerkt zudem, dass Malinche unmittelbar nach der Conquista kein zentrales Thema darstellt, sondern vielmehr Cortés und seine Rolle bei der Eroberung im Mittelpunkt literarischer Werke stehen.15

Viele Autoren, auch in Europa, beschäftigen sich im Laufe der Jahrhunderte nach der Conquista mit ihren Protagonisten, doch Malinche, die auch einige Zeit in Vergessenheit geraten zu scheint, wird erst ab dem 19. Jahrhundert, verbunden mit politischen Entwicklungen des Landes, zum zentralen Thema. Die Frage nach nationaler Identität und die Suche nach einer Definition der Kultur Mexikos führen in diesem Jahrhundert zu den Unabhängigkeitsbewegungen, ein über gesamt Lateinamerika verbreitetes Phänomen. Eben genau dieses Streben nach Unabhängigkeit und eigener Identität ist der Beginn der Manifestierung des Verräter-Mythos, der auch noch bis heute an Malinche haftet. „Nacionalistas y antihispanistas“16 begeben sich auf die Suche nach dem Schuldigen in der spanischen Eroberung und einer Definition ihrer Nation. Cypess betont hierbei den Wandel im Malinche-Bild von der biblischen Heldin zur „Mexican Eve“, die Verräterin und Verführerin ihrer Nation.17 In der Literatur wird der 1826 in Philadelphia anonym veröffentlichte historische Roman Jicot é ncal einstimmig als der erste gehandelt, der das Geschehen um die Eroberung aufgreift und Malinche miteinbezieht und ihr dabei ein negatives Bild zuweist.18 Im Mittelpunkt des Romans steht die Zusammenarbeit der Tlaxcaltecen, angeführt vom Protagonisten Xicoténcatl, mit den Spaniern, die mit ihren verbündeten das gemeinsame Ziel verfolgen, die Azteken zu stürzen. Die Tlaxcaltecen, zunächst gegen eine Allianz mit den Spaniern, bringen die entscheidende Hilfe für Cortés und seine Mannschaft bis nach Tenochtitlán vorzudringen und das aztekische Imperium zum Fall zu bringen. Ein erstes Nationalgefühl kommt zum Vorschein, als Xicoténcatl sich der Gefahr durch die Spanier für sein Land bewusst wird. Seinen heldenhaften Einsatz im Namen des Volkes bezahlt er jedoch mit dem Tod.19 Malinche, die im Roman als die christianisierte Marina präsentiert wird, wird im Laufe der Geschichte mit überwiegend negativen Attributen bestückt. So spricht man ihr zwar Leidenschaftlichkeit und Sinnlichkeit zu, doch nur in der Rolle der falschen Verräterin. Die Korruption und der Verrat ihrem eigenen Volk gegenüber und die Liebesbeziehung mit Cortés stehen im Zentrum ihrer Darstellung und lassen eine neutrale Perspektive kaum zu.20 Vielmehr noch wird auf keinerlei Erwähnung ihrer Rolle als Dolmetscherin wertgelegt, es gibt schlichtweg kein Kommunikationsproblem zwischen den Indios und den Eroberern. Die Vorzeichen für das negative Malinche-Bild sind gesetzt und auch Cypess merkt an, dass „[b]y 1870, the phrase ‘seller of her nation’ had become integrally associated with Marina…“.21 Neben dem Vergleich Malinches mit der Legende der Llorona 22 und der Vírgin de Guadalupe23, stellt die Übersetzerin der Spanier zusammenfassend eine starke Ambiguität in ihrer Person dar. Malinche ist symbolisch die Mutter der Mestizen und gleichzeitig Verräterin ihrer Nation. Ignacio Ramírez trägt im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts mit seinen Werken einen ebenso wichtigen Teil zur Entstehung und Manifestierung des negativen Malinche-Bildes bei und führt den Identitätskonflikt mit an. Seine Aussagen konzentrieren sich einzig auf Malinche als Verräterin des Volkes und als Schuldige des Verlustes des Heimatlandes. Hauptschuld an dem Triumph der Spanier über das aztekische Reich und somit über Mexiko tragen demnach alle Beteiligten, die den Spaniern gedient und mit ihnen kollaboriert haben - Malinche ist nicht länger Teil des nationalen Konstrukts.24 Das negative Bild um Cortés‘ Übersetzerin wird im 19. Jahrhundert in der Literatur geprägt und erfährt im 20. Jahrhundert, auch bedingt durch die mexikanische Revolution, einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Mexikaner. Im Folgenden soll die bereits erwähnte Ambiguität des Malinche-Paradigmas aufgegriffen werden. Zwei der populärsten und zugleich konträrsten Mythen, die auch in den Dramen von López und Banda Einzug finden, werden dabei genauer betrachtet. Zum einen handelt es sich dabei um Malinche als Mutter der Mestizen und Symbol des mestizaje, zum anderen um Malinche als Verräterin des Volkes und Verkörperung der Chingada.

2.2.1 Mutter der Mestizen - Symbol des mestizaje

Wie wir aus sicheren Quellen von Chronisten wie Bernal Díaz wissen, hatte Malinche einen Sohn mit Hernán Cortés, den sie nach dessen Vater, Martín, benannt haben.25 In vielen Werken wird Martín als der erste Mestize gehandelt, was aber klar widerlegt werden kann. So merkt beispielsweise auch Gónzales an, dass die Ehe von Gonzalo Guerrero, der bereits 1511 gemeinsam mit dem ersten Dolmetscher von Cortés, Jerónimo Aguilar, als Schiffbrüchiger mexikanischen Boden betrat, mit einer Maya-Frau die ersten Mestizen hervorbrachten.26 Carmen Wurm weist zudem noch darauf hin, dass Guerrero sich, anders als Aguilar, gegen eine Rückkehr nach Spanien entschied und im Folgenden sogar gegen die Spanier kämpfte. Einzig diese Tatsache macht ihn bei einigen zum eigentlichen Vater der mexikanischen Nation.27 Es lassen sich Parallelen erkennen zwischen Malinche und Guerrero, da beide sich für eine neue Kultur entschieden haben und somit symbolisch für eine Hybridisierung zweier kultureller Welten stehen.28 Cortés und Malinche gelten als Gründerpaar Mexikos, Malinche als die Mutter aller Mestizen. Diese symbolische Zuschreibung wird in vielen Werken mit ihrem außerordentlichen Mut gegenüber den Spaniern begründet, findet aber dennoch nicht bei allen Anerkennung.

2.2.2 Malinche als Verräterin und La Chingada

Der Negativismus gegenüber Malinche verschärft sich zunehmend im Laufe der Zeit durch weitere Adaptionen verschiedenster Autoren und findet nach der Revolution seinen Höhepunkt in dem Werk des mexikanischen Schriftstellers und Vertreters der intellektuellen Mittelschicht Octavio Paz. El laberinto de la soledad (1950) stellt heute eines der meist untersuchtesten Essays in Bezug auf den mexikanischen Identitätskonflikt dar. In dem Kapitel Los hijos de la Malinche, in dem Paz nicht nur Bezüge zwischen der Eva und Malinche und der Llorana Legende und Malinche herstellet, bringt er vor allem die historische Figur und ihren Verrat erstmals mit dem Begriff der Chingada in Verbindung und verstärkt somit die schwarze Legende um Malinche. Sein Essay findet vor allem einen Ursprung in dem in der mexikanischen Gesellschaft vorherrschenden Machismo, der eine traditionelle Geschlechterportion darstellt und hier von Paz kritisiert wird. Auf psychoanalytische Theorien von Freud und C. G. Jung basierend, versucht er den Mexikaner in seiner Rolle in der Gesellschaft zu definieren und beobachtet dabei die passive und verletzliche Weiblichkeit und erkennt in der Männlichkeit eine gewaltsame Verschlossenheit.29 Mit einer einzigartigen Detailliertheit definiert Paz den Begriff als Ganzes und analysiert zudem auch noch sein dazugehöriges Verb chingar. Der Versuch der Rekonstruktion der Begrifflichkeit basiert auf dem nationalen Ruf der Unabhängigkeit, der jährlich am Vorabend des Nationalfeiertages (16.9.) zur Unabhängigkeit zum Ausdruck kommt: „¡Viva México, hijos de la Chingada!“30 Während das Verb chingar in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Regionen vielfache Bedeutungen besitzt, die nahezu alle negativ konnotiert sind31, kommt dem Wort Chingada durch Paz nur eine Bedeutung zu, die der „Madre“:

„Ante todo, es la Madre. No una madre de carne y hueso, sino una figura mítica. [...] La Chingada es la madre que ha sufrido, metafórica o realmente, la acción corrosiva e infamente implícita en el verbo que le da nombre.”32

Malinche wird also als die Mutter dargestellt, die sich ihrem Schicksal, den Spaniern und vor allem Cortés, hingibt, ohne Widerstand zu leisten.

[...]


1 Díaz del Castillo (2005: 141)

2 Dröscher, Barbara, 2001: „La Malinche: Zur Aktualität der historischen Gestalt für die Lateinamerikaforschung“. In: Barbara Dröscher Carlos Rincón (Hgg.). La Malinche: Ü bersetzung, Interkulturalit ä t und Geschlecht. S.15.

3 González Hernández (2002: 17)

4 Borsò Gerling (2014: 73)

5 Borsò Gerling (2014: 73)

6 Ebd., S.75.

7 Wurm (1996: 176)

8 Wurm (1996: 176)

9 Migdail (1987: 110)

10 Núñez Becerra (1996: 9)

11 Ebd., S.22.

12 Margo Glantz merkt in ihrem Beitrag Do ñ a Marina y el Capit á n Malinche an, dass Díaz sie als äußerst positiv darstellt und neben ihrem schönen Körper vor allem aber ihre Intelligenz und Exzellenz hervorhebt: „ A Marina la caracteriza, le otorga cualidades morales, adem á s de las est é ticas. “ Glantz (2001: 126)

13 Cristina Gónzales Hernández weist darauf hin, dass in den Chroniken und Briefen der Eroberer besonders die Loyalität Marinas gegenüber der Spanier betont wird, insbesondere bezüglich der Verschwörung von Cholula. Es sei demnach nicht verwunderlich, dass im späteren Verlauf ein negatives Bild der Malinche entsteht, würden sich Autoren und Schriftsteller eben auf diese Aussagen beziehen. González Hernández (2002: 95)

14 Wurm (1996: 13)

15 Ebd., S.15.

16 González Hernández (2002: 95)

17 Cypess (1991: 9)

18 Ebd., S.10.

19 Wurm (1996: 140)

20 Ebd., S.142

21 Cypess (1991: 10)

22 Die noch heute populäre Legende der Llorona existiert bereits seit vielen Jahrhunderten in mehrfachen Versionen. Dabei handelt es sich um eine in der Nacht durch die Straßen ziehend, weinende Frau, die mit ihren Tränen die Sorge um ihre Kinder zum Ausdruck bringt. In Bezug auf Malinche bedauert diese, den Spaniern bei der Eroberung geholfen und ihr Volk verraten zu haben. González Hernández (2002: 155)

23 Während des Strebens nach Unabhängigkeit in Mexiko wird die Virgen de Guadalupe zum Nationalsymbol. Bereits zur Zeit der Azteken erscheint sie als Göttin und wird schnell als Nationalfigur verehrt. Demnach symbolisiert sie das ideale Frauenbild sowie die Mutter und Hüterin der Nation. Wurm (1996: 121)

24 Gonzáles (1999: 191)

25 Díaz del Castillo (2005: 146)

26 González Hernández (2002: 132)

27 Wurm (1996: 187)

28 Ebd.

29 Dröscher (2001: 26)

30 Paz (1996: 31)

31 González Hernández (2002: 148)

32 Paz (1996: 31)

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
"Malinche" im Diskurs mexikanischer Nationalität
Untertitel
"Malinche Show" (Willebaldo López) und "La Malinche" (Víctor Hugo Rascón Banda). Zwei Werke, ein Mythos
Hochschule
Universität Konstanz
Note
2,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
44
Katalognummer
V415811
ISBN (eBook)
9783668666856
ISBN (Buch)
9783668666863
Dateigröße
690 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
malinche, diskurs, nationalität, show, willebaldo, lópez, víctor, hugo, rascón, banda, zwei, werke, mythos
Arbeit zitieren
Silvana Borchardt (Autor:in), 2016, "Malinche" im Diskurs mexikanischer Nationalität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/415811

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