Wunder und Illuminierung in Hesses "Steppenwolf"


Bachelorarbeit, 2016

37 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1. Das Konzept und die leitenden Fragen der vorliegenden Abschlussarbeit

2. Klarung der wichtigsten Wirklichkeitsbegriffe in der Literaturwissenschaft

3. Narratologische Kurzanalyse des Romans

4. Die sozialen Wirklichkeiten von Harry
4.1 Soziale Wirklichkeiten — Harry und Hermine
4.2 Soziale Wirklichkeiten — Pablo und Harry

5. Hilfsmittel bei der Uberwindung der Realitat

6. Einflusse fernostlicher Religionen

7. Bezuge zwischen derjungschen Psychoanalyse und dem Steppenwolfroman

8. Kurze Ausschau auf die Rezeptionsgeschichte des Romans

Resumee

Resume

Literaturverzeichnis

Abstract

The goal of my Bachelor Thesis is to demonstrate the representation of Trans-reality and Surre- ality in the roman Steppenwolf by Hermann Hesse along with its literary, cultural and historical connections. In this process I took into account the eastern religious influence as well as the ef­fect of Carl Gustav Jungs Analytical Psychology. Because of the successful reception of the book in the USA in the early 60s, in my work I intended to explore the internal reasons for the late yet overwhelming success of the book. For a better confirmation of my Analysis I recapitu­late the narratological concept of Gerard Genette as well.

Key words:

Epic of Hermann Hesse, Reality, Surreality, Representation of Wonder and intoxication in the modern epic prose, Traces os Psychoanalysis and Buddhism

Kurze konzeptuelle Zusammenfassung (Abstract)

Das Anliegen meiner Abschlussarbeit besteht darin, die literarische Darstellung literarischer Trans- und Surrealitat in dem Steppenwolfroman von Hermann Hesse in seinen literatur- und kulturgeschichtlichen Zusammenhangen herauszuarbeiten. Dabei berucksichtige ich fernostli- che Einflusse sowie die Einwirkungen der analytischen Psychologie von Carl Gustavjung. Da der Rezeptionserfolg des Romans in den USA der i96oerJahre einsetzte, beabsichtige ich in dieser Arbeit auch die inneren Grunde fur diesen verspateten, aber uberwaltigenden Erfolg auf- zudecken. Zur besseren Fundierung meiner Analyse rekapituliere ich in aller Kurze auch das narratologische Konzept von Gerard Genette.

Schlusselworte

Epik von Hermann Hesse, Wirklichkeit, Surralitat, Darstellung von Wunder und Trunkenheit in der modernen epischen Prosa, Spuren des Studiums von Psychoanalyse und Buddhismus

1. Das Konzept und die leitenden Fragen der vorliegenden Abschlussarbeit

Das Anliegen der vorliegenden Abschlussarbeit besteht darin, das Verhaltnis zwischen Realitat und Surrealitat in Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf unter moglichst vielfaltigen Aspek- ten literaturwissenschaftlich zu untersuchen. Es liegt an der exegetischen Natur dieser Aufga- benstellung, dass dabei alien voran narratologische Gesichtspunkte schwer ins Gewicht fallen. Wie bekannt, sollte der Roman Jahrzehnte nach seiner Veroffentlichung auf die nordamerikani- sche Hippiegeneration einen pragenden Einfluss ausuben. Es wird daher der Frage nachzugehen sein, wieso ein ursprunglich durch und durch deutscher, mithin europaischer Roman aus der er- sten Halfte des 20. Jahrhunderts ausgerechnet im Amerika der i96oer und i97oer Jahre, mithin in einer fremden Sprache, Kultur und Zeit eine so enorme Wirksamkeit entfalten konnte. Gera- de in dieser Hinsicht scheint uns die Frage nach dem Verhaltnis zwischen Wirklichkeit und dem, was weit dahinter liegt und ebendeshalb alles nur nicht evident ist, von besonders grower Wichtigkeit zu sein.

Es wird dabei auch zu bedenken sein, warum gerade nach dem Ersten Weltkrieg Fragen des Wirklichkeitsbezugs so pragnant in den Vordergrund treten und zu einem leitenden Thema der deutschen, darunter der hesseschen Epik werden. In diesem Zusammenhang von Realitat und Surrealitat soil indessen auch auf das Verhaltnis zwischen dem hesseschen Roman und der jun- gischen Psychoanalyse eingegangen werden. Dabei drangt sich uns vor allem die Frage auf, an welchen Punkten und aus welchem Grund das literarische Erlebnis der narrativ vorgetragenen Ereignisse des Romans das ursprunglich psychologische Grundkonzept der Psychoanalyse uberschreibt und die neuromantische Weltbetrachtung mit einer nahezu surrealistischen Sicht kombiniert.

Die vorliegende Abhandlung hat zudem die Absicht, auch die Parallelen zwischen der Kom- plexitat der fur Hesse vor dem Zweiten Weltkrieg so charakteristischen neuromantischen Wirk- lichkeitsbetrachtung einerseits und der Vielfaltigkeit sowie Abgrundigkeit der menschlichen Personlichkeit andererseits herauszuarbeiten. Dabei soil auch thematisiert werden, wie und aus welchen Grunden die pra- und fruhmoderne Illusion der menschlichen Fahigkeit, uber die als absolut gesetzte Wirklichkeit und das als konstant identische gedachte eigene Ich verfugen zu konnen, im Verlauf der Romanerzahlung aufgegeben werden muss. Es werden in diesem Zu­sammenhang vor allem spieltheoretische und psychoanalytische Gesichtspunkte uberwiegen.

2. Klarung der wichtigsten Wirklichkeitsbegriffe in der Literaturwissenschaft

Zunachst sollen als terminologische Einfuhrung ein paar Grundbegriffe geklart werden, die bei der Behandlung der Thematik der vorliegenden Arbeit von grower Wichtigkeit sind. Es geht da- bei um die Begriffe Realitat, Wirklichkeit und Wahrheit. Anschliehend wird in aller Kurze das Verhaltnis einiger wichtigen Stromungen des 19. und 20. Jahrhunderts zur Wirklichkeit erlau- tert und in Zusammenhang mit der fur Hermann Hesse so wichtige Psychoanalyse gesetzt.

In der Alltagssprache wird die Gesamtheit des Realen als Realitat bezeichnet. Der Begriff geht auf das lateinische Wort realitas zuruck. Es leitet sich aus dem lateinischen Grund- undJe- dermanns Wort res (zu Deutsch Sache, Ding, Wesen) her. Nach der Erlauterung zum sprachlich- kulturellen Ursprung des Wortes, ist es uns auch wichtig, die Bedeutung in einen etwas umfas- sendere Kontext zu setzen. Real wird zum einen etwas genannt, das nicht von dem Urteil eines Einzelnen abhangt und somit frei von individuellen Wunschen, Uberzeugungen und Betrach- tungen ist. Insofern kann es sich bei den Begriffen realitas und Realitat nie um eine blobe Illusi­on oder Einbildung handeln. Nach dem Prinzip der zweiseitigen Medaille kann die Realitat je- doch auch etwas sein, das so real anmutet, dass es einem unmoglich ist, es von der Ubrigen Realitat zu unterscheiden. An diesem Punkt stellt sich die Frage, welche Charakterzuge es denn sind, deren es zur Realitat von etwas bedarf?

Die eine der in Frage kommenden Eigenschaften ist die Robustheit. Robust (lat. robustus, bartwie das Eichenbolz) muss die Realitat sein, da sie der Stichhaltigkeit bedarf und somit nicht nur in einer Hinsicht und nicht nur zeitweise authentisch sein muss. Was einem als real erschei- nen mag, hat auch einer uberwiegenden Mehrheit aller zur selben Zeit lebenden Individuen ebenfalls als stichhaltig, zutreffend und handfest vorzukommen. In einem Sinne ist die Realitat dasjenige, dem zumindest eine gewisse Bestimmtheit zugeschrieben werden kann.

In bezug auf die Realitat gibt es zudem Positionen, die teilweise mit wissenschaftlicher Ziel- setzung umfassendere Erklarungen und Erlauterungen anstreben. Mit dem Begriff 'Wirklichkeit wird z. B. eine Realitat gemeint, die auf solche Dinge und Wesen eingeschrankt ist, die in Wech- selwirkung zu anderen bereits als real erkannten Dingen und Wesen stehen. In etwas weiterem Sinne kann als Realitat alles das begriffen werden, was sich als Gegenstand des individuellen Be- wusstseins auffassen lasst, gerade eben auch soziale Tatbestande, spirituelle Gegenstande, deren Existenz von einer Gemeinschaft angenommen wird, aber sowohl fremde wie auch eigene Gefuhle, Einstellungen, Sichtweisen, insofern diese nicht einer bloben Willkur entspringen und gewissen festen Regeln menschliche Erkenntnis strukturierender Denkprozesse unterstehen.

Zur Charakterisierung der Realitat wird oft der Begriff der Wirklichkeit herangezogen. Mit diesem philosophischen Fachwort wird meistens all das bezeichnet und teilweise auch schon beschrieben, was sozusagen der Fall, mithin so vorgefallen ist, dass es nun eine Vielzahl von Menschen in ihrem Tun, Denken, Fuhlen und Meinen beeinflusst. Die Philosophic unterschei- det schon seit ihren Anfangen in der griechischen Klassik, also seit der Zeit von Platon und Aristoteles, aufgrund der Modalitat des Seins von etwas Gegebenem zwischen Wirklichkeit, d.h. der sogenannten bloben Moglichkeit, die jedoch nicht verwirklicht ist, und der Notwen- digkeit. Eine Wirklichkeit, die nicht notwendig ist, wird als kontingent bezeichnet. Das Wort geht auf das mittellateinische contingens zuruck. Das Verb contingere bedeutet beruhren, tref- fen. Dem Wort liegt also die Erfahrung zugrunde, dass sich etwas, in unserem spezifischen Fall die Wirklichkeit, so getroffen, so ergeben hat. Die philosophische Fachsprache geht dabei von der Moglichkeit aus, dass diese kontingent genannte Wirklichkeit auch hatte anders werden konnen. Das unter 'Wirklichkeit Verstandene umfasst also Kontingentes und Notwendiges. Un- mogliches hingegen kann niemals wirklich geschehen.

Das deutsche Wort Wirklichkeit wurde von Meister Eckhart als Ubersetzung von lateini- schem actualitas gepragt. In ihm ist neben der Handlung [actus, *Werck) auch ein Bezug zur zeitlichen Nahe der Gegenwart mit gemeint. Der semantisch-morphologische Zusammenhang zu Wirken und Werk ruckt das deutsche Wort Wirklichkeit indessen auch in die Nahe des be- kannten aristotelischen Philosophems Energeia, das auf Ergon (griechisch Werk) zuruckgeht, und das in den philosophischen Traktaten der Scholastik meist durch actualitas wiedergegeben wurde.

Zur Wirklichkeit haben sich auch sogenannte Gegenbegriffe entwickelt. Die bekanntesten darunter und wegen der literarischen Zusammenhange unseres Anliegens unbedingt erwah- nenswert sind ohne Zweifel die Warter Schein, Traum oder Phantasie.

Oft wird zwischen Wirklichkeit und Realitat Uberhaupt keine Unterscheidung getroffen. Es gibt aber auch Begriffsverwendungen, in denen mit dem Begriff 'Wirklichkeit eine Art Realitat gemeint ist, die auf solche Dinge eingeschrankt ist, die einen Effekt erzielen sollen, die Auswir- kungen zeigen sollen oder auch ausuben konnen, die also als physikalische Gegenstande betrachtet werden.

Auber Realitat und Wirklichkeit verwendet man in diesem Zusammenhang auch den Begriff Wahrheit. Dieser hat verschiedene Bedeutungen, denen wir in aller Kurze ebenfalls auf den Grand denken wollen. Am haufigsten versteht man unter "Wahrheit eine Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit einer Tatsache oder einem Sachverhalt, aber auch einer Absicht oder einem bestimmten Sinn.

Man denkt aufgrund des zugrundeliegenden Adjektivs wahr oft ausschlieblich an Begriffe wie Echtheit, Richtigkeit, Reinheit oder Authentizitat einer Sache. So wird zumeist ausgedruckt, dass es sich um eine gewisse Handlung oder um eine Person handelt, die sich als rein, glaubwurdig oder zuverlassig erwiesen haben {ein wahrer Freund, ein wahres "Wander").

Wir sollten auch die Moglichkeit nicht aus den Augen verlieren, den Begriff der Wahrheit aus dem Winkel der sogenannten Alltagssprache und der Alltagserfahrung zu untersuchen. Da dient der Begriff meist zur Unterscheidung von Wahrem und Falschem. "Wahrheit kann so auch als ein Gegenwort zur Luge als absichtlich falscher Aussage gedacht werden. Wahr kann zu- gleich auch als das Gegenteil eines Irrtums, einer falschen Annahme verstanden werden. Dies alles ist in der Umgangssprache des Alltags nur moglich, weil in der Vorstellung und Wortbe- deutung der Sinn der Zuverlassigkeit und der nachtraglichen Uberprufbarkeit anklingt. Das deutsche Wort "Wahrheit entspricht in dieser Hinsicht durchaus dem biblisch-hebraischen Be­griff Emet. Es ist stammverwandt mit dem Wort amen (aman) und meint so viel wie Verlasslich- keit, die Unverbruchlichkeit eines gegebenen Wortes, Festigkeit und im Ubertragenen Sinn auch die Treue von Personen.[1]

Unter Surrealismus versteht man eine geistige Bewegung, die in den i92oer Jahre um sich greift. Seither ist dieser Begriff mit Bedeutungen wie Lebensfuhrung und Lebenskunst ver- flochten. Im Unterschied zum Dada treten im Surrealismus vor allem Theorien in den Vorder- grund, die die rational nicht erschliebbare, traumhafte, absurde und phantastische Seite des menschlichen Bewusstseins zu ergrunden helfen. Dabei gewinnen psychoanalytische Erklarun- gen immer mehr an Bedeutung.

Das Wort Surrealismus bedeutet wortlich uher dem Realismus und meint etwas, was uber das Reale hinausgeht und somit der gewohnlichen Realitat transzendent ist. Dieses Uberreale zeigt eine nur zu deutliche Parallele zum Konzept des Unterbewusstseins.[2] In beiden Fallen muss der sich ergrundende Mensch uber die Grenzen seines Bewusstseins hinwegtreten. Hermann Hes­ses Steppenwolf wird zwar meistens der Neuromantik zugeordnet, und zwar mit gutem Grund, doch durfen wir im Zusammenhang der Wirklichkeitsdarstellung die auch bei Hesse begegnen- den Ansatze eines surrealistischen Literaturkonzepts weder uberbetonen noch ubersehen. Die oben genannten Merkmale des Surrealen kommen am meisten im Magischen Theater zum Vor- schein.

Als eine starke Parallele zum Surrealismus und zur spaten Romantik im 19. Jahrhundert ist wohl anzusehen, dass die grobe Reise ins Magische Theater von Harry Haller, dem Romanhel- den, teilweise durch Drogenkonsum ermoglicht wird. Nach der Einnahme des Rauschgiftes wird sein Verstand nicht etwa beeintrachtigt, wie man es erwarten konnte, sondern geradezu beflugelt und um eine neue Dimension erweitert. Erst wird er uberhaupt bereit fur den Eintritt ins Paralleluniversum einer magischen Literatur. Das ist es eine Welt, in der das nie Gewesene durchaus geschehen kann und wo das Unmogliche moglich wird. Diese Erweiterung der Wirk- lichkeit um all ihre Moglichkeiten greift auch auf den Roman selbst uber. Er bietet keine einzig mogliche Losung. Das Literarische ist hier nicht das Endziel. Es ist vielmehr wie ein Schlussel fur die Turen. Die Tur ist das an gewohnlichen Wirklichkeitsvorstellungen geschulte menschli- che Verstandnis. Dies entspricht einerseits der ablehnenden Haltung der Romantik gegenuber der Aufklarung, sowie der Neuromantik gegenuber der realistischen Erzahlkunst, andererseits aber dem provokativen Radikalismus, mit dem der Surrealismus die logisch-rationale, die soge- nannten Jburgerlichen” Kunstauffassungen hinter sich lieb. Im Vordergrund dieses entschlosse- nen Erneuerungswillen gilt der Surrealismus mit Recht als anarchistisch, bzw. revolutionar im Bezug zu der Kunst oder der Weltauffassung im Allgemeinen. Ein Moment, das im Magischen Theater grobartig ins Spiel kommt. Dieser antiburgerliche Neuansatz lasst sich auch auf der Ebene der Personen der Erzahlhandlung des Romans beobachten. Harry Haller nennt sich nicht von ungefahr einen Steppenwolf, mithin ein Wildtier der Steppen. Diese Selbstbezeich- nung druckt den Versuch aus, sich von dieser Art burgerlicher Welt loszulosen. Deshalb sind ihm konventionelle Regeln samt ihren Wertvorstellungen verhasst.

Sowohl bei Breton als auch bei seinen Anhangern lasst sich die Auffassung als dominierende Leitidee beobachten, dass es keine objektiv gegebene aubere Wirklichkeit gibt. 1st dem indessen so, dann vermag auch die noch so kunstvolle Sprache die Welt nicht „objektiv” darzustellen. Die Sinnbilder der herkommlichen sprachlichen Tradition der europaischen Literatur macht weder neue Erfahrungen noch neue Erkenntnisse moglich. Das Neue verfangt sich immer wie- der im Netz alter Denkgewohnheiten und Vorurteile. Die Vertreter des Surrealismus lehnten in diesem Zusammenhang an das grobe Vorbild des franzosischen Symbolismus an. Auch die Symbolisten stellten das Herkommliche in Frage und versuchten mit grobter sprachlicher In- novationskraft, die Welt der Phantasie und des Traums, die sich einer rationalistischen Festle- gung entziehen, der Literatur zu erschlieben.

Diese Wendung zur dichterischen Phantasie und zur Welt der Traume steht mit einer weite- ren literarischen Traditionsstrang in Verbindung, der fur den Steppenwolfroman von Hesse zweifelsfrei ausschlaggebender Wichtigkeit ist, namlich mit dem Literaturkonzept der Roman- tik. Die sogenannte Neu- oder Neoromantik, mitunter auch literarischer Jugendstil genannt, griff zwar vor allem in den Jahren zwischen 1890 und 1915 um sich, sie hinterlasst jedoch auch an Hesses erst ein gutes Jahrzehnt nach Ausklang dieser literarischen Stromung veroffentlich- tem Roman. Sie versteht sich als eine Art Gegenbewegung zum nahezu wissenschaftlichen Ra- tionalismus von Naturalismus und Moderne. Sie griff auf das Dichtungskonzept der eigentli- chen Romantik im fruhen 19. Jahrhundert in vielfaltiger Weise zuruck, sie empfing allerdings auch von dem Symbolismus wichtige Impulse.

Wie schon in der Romantik,[3] findet auch in neuromantischen Romanen oft eine Flucht ins Mittelalter statt.[4] Da das Mittelalter katholisch, also biblisch gepragt war und so, allerdings in der romantischen Rezeption des Mittelalters, alle einen unmittelbaren Zugang zur religiosen Fi- teratur hatten, wertet sich der katholische Suden als exotischer Schauplatz in der Neuromantik auf. Das Wunderbare, Geheimnisvoll-Magische und das Skurrile gewinnen ebenfalls an Bedeu- tung. Auch die ausgepragte Vorliebe fur Sagen, Mythen und Marchen lasst sich in der neuro­mantischen Fiteratur beobachten. Neuromantische Werke legen mit ihren marchen- und my- thenhaften Zugen eine Flucht in die wunderbare Welt der Phantasie und in das wirre, rational nie ganz auslotbare Traumhafte geradezu nahe. Zugleich verliert die Hoffmannsche Forderung, das Fiktive solle auf dem Wirklichen beruhen,[5] ihre Gultigkeit nicht. Magische, geheimnisvolle und nicht alltagliche Elemente mischen sich haufig mit durchaus sachlichen Bezugen zur Reali- tat des zeitgenossischen Alltags. Da sich auch diese Stromung als Gegenbewegung zum Natu- ralismus und vor allem dessen Szientismus verstanden hat, konnen den Menschen auch die Neuromantiker nicht langer als ein Ergebnis von Genetik und sozialem Milieu denken. Viel- mehr kommt er ihnen als ein Ratsel, ja als ein unergrundliches Mysterium vor.

Der Steppenwolf ist zwar allein schon wegen des Zeitpunkts seiner Entstehung, er wurde mehr als zehn Jahre nach Ausklang der Neuromantik verfasst, kein typisches Werk der Neuromantik, er tragt dennoch viele der bereits erwahnten Charakterzuge der neuromantischen Stromung.

In diesem Zusammenhang konnte sich die Frage einstellen, wieso die Hesse-Philologie den Steppenwolfroman der Neuromantik zurechnet, obwohl er ein gutes Jahrzehnt nach der eigent- lichen Zeit nach ihrem Ausklang veroffentlicht worden ist? Warum ordnet man ihn nicht eher dem Surrealismus zu, mit dem er doch sowohl thematisch wie auch zeitlich zusammenfallt? Der Grund dafur durfte in der Erzahlweise von Hermann Hesse liegen. Die Art, wie die Ent- wicklungsgeschichte der Personlichkeit des Romanhelden erzahlt wird, erinnert mehr an die Erzahlweise der Grohepik des 19. Jahrhunderts. Sie meidet die Radikalitat der narrativen Inno- vationen der Surrealisten. Auch eignet dem Protagonisten eine gewisse Sehnsucht nach Werten der Vergangenheit. Zudem konnte der Aufbau der Erzahlung viele Literaturwissenschaftler ebenfalls an reprasentative Erzahlungen der Spatromantik erinnern. Wir haben vor, auf die Ahnlichkeiten mit E.T.A. Hoffmanns Dergoldene 7op/spater ausfuhrlicher einzugehen. So sehr sich auch ausgepragte Parallelen mit der romantischen und neoromantischen Literatur beobach- ten lassen, bedeutet dies indessen noch lange nicht, dass wir die thematische und konzeptionel- le Nahe zum Surrealismus aus den Augen verlieren durfen. Wir werden versuchen, sie ebenfalls herauszuarbeiten.

3. Narratologische Kurzanalyse des Romans

Mit den Fragen und Phanomenen literarischer Erzahlung setzt sich die Narratologie, eine jun- ger sich dynamisch entwickelnder Zweig der Literaturtheorie auseinander. Im Folgenden stut- zen wir uns auf die Terminologie von Gerard Genette, einem franzosischen Literaturtheoreti- ker, der zudem auch als einer der wichtigsten Theoretiker der Intertextualitat gilt.

In seiner Theorie unterscheidet er zwischen Modus und Fokus, also zwischen Sprechweise und Sichtweise.

Diese Differenzierung ist durch die konsequente Unterscheidung zwischen Erzahlung und Erzahlen moglich. Dem Erzahlen als narrativer Tatigkeit kommt ein Weltcharakter zu. Er uber- nimmt von Aristoteles einen wichtigen Begriff und bezeichnet das narrative Vorgehen als Die- gese (franzosisch diegese - Erzahlung, Erorterung, Eroffnung).

Dieser Termin ist also ein terminologisches Mittel zur Analyse. Er macht den Sachverhalt sichtbar, ob sich etwas innerhalb oder auberhalb der erzahlten Welt befindet.

Unter Diegese versteht er »eher ein ganzes Universum als eine Verknupfung von Handlun- gen. Sie ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt«.

Als diegetisch (oder intradiegetisch) bezeichnet Gerard Genette all das, was zur erzahlten Welt gehort. Ein Text kann mehr als eine diegetische Ebene haben. In der Regel heiben gleichwohl die Elemente der Haupthandlung Diegese, vorausgesetzt, dass sich eine solche bestimmen lasst.

Die narrative Theorie von Gerard Genette lasst sich bei der Analyse von Hesses Steppen- wolfroman besonders gut verwerten, da er nahezu alle Erzahltypen, Foci und Modi einsetzt.

Dem narratologischen Schema von Genette zufolge stellt der Anfang des Romans, das Vor- wort des Erzahlers eine extradiegetische Erzahlebene dar. Sie ist insofern homodiegetisch,[6] als die erzahlende Person als eine Randfigur der Haupterzahlung ausweisen kann. Das Vorwort er- weist sich jedoch auch als extradiegetisch,[7] insofern es dem eigentlichen Erzahlstrang vorge- schaltet ist. Diese Rahmenerzahlung erlangt dadurch besonderes Gewicht, dass sie den Erzahl- helden Harry aus der Perspektive einer burgerlichen Instanz, als die der Verleger anzusehen ist, grundlich charakterisiert. Die Aufzeichnungen, im Sinne von Genette der autodiegetische Haupterzahlstrang, werden dadurch in ihrer Authentizitat bestatigt. Schon im 'Vorwort spiegelt sich Harrys aubere und innere Lebenswelt wider. Auch das kontrapunktische Verhaltnis zwi- schen freiheitssuchtigem Steppenwolf und burgerlich-ordentlichem Menschen wird bereits hier in grohter Scharfe umrissen, wodurch eine solide Grundlage fur die gesamte spatere Erzahlung geschaffen wird.

Innerhalb der Aufzeichnungen von Haller, dem eigentlichen Protagonisten des Romans, be- finden sich, um wieder einmal die Terminologie von Genette zu verwenden, metadiegetische Texte: das Traktat und die beiden Gedichte Ich Steppenwolf trabe und trabe und Die Unsterbli- cben, die von Harry verfasst wurden. Das lyrische Ich des ersten Gedichts lasst sich durch den intradiegetischen Zusammenhang der Aufzeichnungen mit Harry identifizieren. In dem zweiten Gedicht hingegen begegnet ein lyrisches Wir. Die Erweiterung des lyrischen Ichs zum lyrischen Wir spiegelt einerseits Harrys Gedanken uber die sogenannten Unsterblichen wider, anderer- seits deutet sie auch die innere Entwicklung des Protagonisten an. Beide Gedichte werden als li- terarischer Ausdruck von Harry, dem intra- und autodiegetischen Erzahler und Helden des Ro­mans, markiert.

Harry der Hauptfigur der Erzahlung ist eine autodiegetischer Erzahler.[8] Er ist allein schon deshalb kein allwissender Erzahler. Er ist nicht in der Lage, in den Gedanken der anderen Figu- ren des Romans, d. h. seines eigenen Lebens, zu lesen. Im Gegenteil, er ist auch nicht imstande, sein eigenes Leben zu fuhren, da er in standiger Verwirrung lebt und immer wieder psychischen Tauschungen erliegt. Harry weib zwar viel uber sein Umfeld, allein dieses Wissen, sein gebilde- ter und feiner Intellekt hilft ihm nicht uber Missverstandnisse, Tauschungen, Selbsttauschun- gen und Fehleinschatzungen hinweg. Uber sein inneres Durcheinander wird der Leser durch die Auherungen anderer Charaktere der Erzahlung aufgeklart. Diese Personen sind in der Lage, in Harrys Seele zu lesen und sie besser zu deuten als Harry selbst. Da sie offensichtlich auch noch dazu imstande sind, den Haupthelden bis in die psychischen Untiefen des Unbewussten hinein zu interpretieren, stellt sich die Frage, inwiefern die narratologische Rolle eines klassi- schen allwissenden Er-Erzahlers, um mit einem Begriff von Franz Karl Stanzel zu sprechen, un- ter den leitenden und als Seelenfuhrer des Protagonisten auftretenden Figuren der Erzahlung aufgeteilt wird.

Eine der wichtigsten dieser Personen ist Hermine. Sie entwickelt sich rasch zu Harrys See- lenpartnerin. Sie lernt in der Seele von Harry so schnell lesen und das Gelesene auch noch deu­ten, dass sich man fragen mochte, ob sie sich zu Harry in gewissem Sinne nicht so verhalt wie ein allwissender heterodiegetischer Erzahler zu den Charakteren seiner Erzahlung. Auch ihre 8 A.a.O., S. 176. erste Begegnung weist in diese Richtung. Die beiden treffen sich in einer Kneipe, kurz nachdem Harry sich zum Selbstmord entschlossen hat. Nach dieser Begegnung nimmt Harrys auseinan- derfallende Alltagsrealitat eine grobe Wende. Das Madchen erkennt Harrys Angste und wes- halb er aus die Gesellschaft fluchten will. Sie erkennt auch, dass er ein wertvoller, aber ent- tauschter Mensch ist. Sie durfte denselben oder einen sehr ahnlichen Lebensweg gegangen sein. Sie wird zur Seelenfuhrerin von Harry. Sie fuhrt ihn in eine neue Welt und das heibt auch: sie entfuhrt ihn aus der burgerlichen Realitat der Konventionen, um ihn sowohl glucklich als auch selig zu machen.

Der andere Seelenfuhrer von Harry, der Musiker Pablo, konnte aus den gleichen Grunden ebenfalls als ein Charakter verstanden werden, der gewisse Funktionen eines allwissenden hete- rodiegetischen Erzahlers ubernimmt. Er scheint Harrys Gefuhle tiefer ergrunden zu konnen als jemand mit ausgepragtem Sinn fur das Psychische. Seine Fahigkeit, Harry zu helfen und sein Leben zu verandern, scheint mit der zusatzlichen Fahigkeit, in Harrys Seele wie in einem Buch zu lesen, sehr eng zusammenzuhangen. Wenn der allwissende Er-Erzahler der Literaturtheorie schon seit langem als ein kleiner Schopfergott, als ein Alter deus vorkommt, so fallt in diesem Zusammenhang das von Pablo erschlossene Magische Theater auf. Darin nimmt Pablo mehrere Personlichkeiten an, die Harry helfen sollten, seine Probleme zu losen.

In deutlichem Kontrast zu den beiden Seelenfuhrern von Harry nimmt der Charakter von Maria keine Grundzuge einer allwissenden Erzahlinstanz an. Sie bleibt mit ihm vielmehr stets auf gleicher Augenhohe. Sie kann und soil ihn nicht besser und tiefer ergrunden als er selbst. Ihre Rolle besteht ja darin, in Harrys Herz das Feuer einer leidenschaftlichen Liebe zu entfa- chen. Die zusammen verbrachten Abende lehren Harry eine neue und tiefe Sinnlichkeit. Er be- greift, was es heibt, jemanden lieben und wahre Gefuhle zeigen.

Das Traktat vom Steppenwolf wird Harry von einer unbekannten Person in die Hand ge- druckt, um ihm bei dem Erschlieben des Magischen Theaters und der dazu notwendigen inne- ren Entwicklung zu helfen. Im Gegensatz zu den beiden ebenfalls metadiegetischen Gedichten ist das Traktat im Stil wissenschaftlicher Abhandlungen in der ersten Person Plural verfasst.

[...]


[1] Vgl.: Eckstein, Kai: Eine judische Perspektive. In: Weifie, Wolfram (Hrsg.): Wahrheit und Dialog. Theologische Grundlagen und Impulse gegenwartiger Religionspadagogik. Munster: Waxmann 2002, S. 37.

[2] Siehe dazu Schweppenhauser, Gerhard: Asthetik. Philosophische Grundlagen und Schlusselbegriffe. Frankfurt: Campus 2007, S. 180 f.

[3] Martin, Ariane: Republikanische Romantik. In: Simon, Michael (Hrsg.): Episteme der Romantik. Volkskundli- che Erkundungen. Munster: Waxmann 2014, S. 75.

[4] Bucquet-Radczewski, Jutta: Die neuklassische Tragodie bei Paul Ernst (1900-1910). Wurzburg: Komgshausen & Neumann 1993, S. 24.

[5] „Ich meine, dab die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in hohere Regionen, befestigt seyn musse im Leben, so dab jeder nachzusteigen vermag. Befindet er sich dann immer hoher und hoher hinaufgeklet- tert, in einem phantastischen Zauberreich, so wird er glauben, dies Reich gehore auch noch in sein Leben hinein, und sey eigentlich der wunderbar herrlichste Theil desselben.” Hoffmann, E.T.A: Die Serapions-Bruder. Berlin: Keimer 1827, S. 113.

[6] Genette, Gerard: Die Erzahlung. Munchen: FinkVerlag 1998, S. 178.

[7] Ebenda.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Wunder und Illuminierung in Hesses "Steppenwolf"
Autor
Jahr
2016
Seiten
37
Katalognummer
V415707
ISBN (eBook)
9783668654600
ISBN (Buch)
9783668654617
Dateigröße
605 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hermann Hesse, Realität, Steppenwolf, Wunder, Illuminierung, Hippiegeneration, Literatur
Arbeit zitieren
Istvan Mako (Autor:in), 2016, Wunder und Illuminierung in Hesses "Steppenwolf", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/415707

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