Die Bedeutung des Buchtitels und der Zwischentitel in Ralf Rothmanns Roman "Stier"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

15 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2.1 Kapitel 1 – „Stein auf Stein“
2.2 Kapitel 2 - „Die weiße Lüge“
2.3 Kapitel 3 - „Schnaps für die Sektionsgehilfen“
2.4 Der Buchtitel „Stier“

3 Schluss

4 Literatur:

1 Einleitung

In dieser Arbeit wird Ralf Rothmanns „Stier“ untersucht; Hauptbestandteil sind der Titel und die Zwischentitel der drei Kapitel und die damit verbundenen Motive.

Der Romantitel „Stier“ und die Zwischentitel „Stein auf Stein“, „Die weiße Lüge“ und „Schnaps für die Sektionsgehilfen“ führen als roter Faden durch den Roman. Die Zwischentitel erfüllen die Funktion eines sehr kurzen Abstracts, denn sie greifen den emotionalen, metaphysischen Kern der Kapitel auf. Dabei tauchen die Zwischentitel „Stein auf Stein“ und „Die weiße Lüge“ fast wortgleich in den jeweiligen Kapiteln des Buches auf – „In den folgenden Wochen, während ich Stein um Stein aneinanderfügte, [...]“[1], „ Die weiße Lüge , daß Leben leicht sei[2]. Dass das letzte Kapitel kein Pendant im Text hat ist symptomatisch: Nun wird das Leben des Protagonisten Kai Carlsen[3] in „geregelte“ Bahnen gelenkt. Er kann seinen eigenen Weg finden und lebt nicht mehr nach den Idiomen anderer.

Der Romantitel selber ist an das Sternzeichen von Kai, Irene Sommer und vor allem an Eckis Stier-Erzählung gekoppelt. Man kann folglich eine Verbindung von Eckis Geschichte zu Kai und von dort zu den Zwischenkapiteln ziehen.

2.1 Kapitel 1 – „Stein auf Stein“

Es lässt sich tatsächlich eine Beziehung zwischen der Form und der Kapitelüberschrift herstellen. Der Roman beginnt in den frühen 90ern in Berlin mit dem mittlerweile 36-jährigem Autor KC. In anfänglich kurzen Passagen wird von nun an Stück für Stück oder eben „Stein auf Stein“ die Vorgeschichte erzählt, die die eigentlich Handlung des Buches darstellt. Das gesamte Buch ist also Stein um Stein aufgebaut und somit klar gegliedert wie eine gemauerte Wand: Jedes der Kapitel beginnt mit dem Schriftsteller KC in Berlin, der sich an seine Jugend erinnert; später werden Erinnerungen in die Erinnerungen eingeschoben, wenn z.B. Salzburg seine und Schnuffs Leidensgeschichte erzählt.

Begibt man sich auf die Inhaltsebene, kann man diese Symbolik ist in der gleichen Deutlichkeit auch mit KCs Jugend verbinden. Die Entwicklung des jugendlichen KC lässt sich durchaus mit dem Mauern einer Wand vergleichen, denn ebenso wie eine Wand Stück für Stück hochgezogen wird, setzt sich die Entwicklung eines Individuums aus einzelnen Fragmenten zusammen. KC wird seine spießige Existenz im Laufe der Pubertät mehr und mehr bewusst. Besonders belastend ist für ihn der kleinbürgerlichen Haushalt der Familie und die Ausbildung als Maurer, denn auf dem Bau scheint die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht einmal zu existieren[4]. Ist er anfänglich noch ein integrer Teil des Kreislaufs und nimmt mit Begeisterung an den Saufgelagen im „Siedlerkrug“ oder der „Elpenbachklause“ teil, so gelangt er doch relativ schnell zu der Einsicht, dass er sich von seiner Existenz als Maurer eingemauert fühlt:

„Ich kam nun öfter zu spät zur Arbeit und nahm mir immer wieder frei, so daß ich bereits zu Ostern den größten Teil des Jahresurlaubs verplempert hatte. Ich achtete nicht mehr auf den Zustand meines Werkzeugs, arbeitete langsamer und schlampiger und musste mich fragen lassen, ob ich mit der Bierflasche gelotet hätte. Wie lächerlich kam mir diese rechtwinklige Welt der Baustellen vor, […]“.

Auf der Suche nach neuen Grenzen, entwickelt sich der „kurze Besuch im »Blow Up« zu einer Nacht im Fegefeuer[5]. Dort lernt Kai scheinbar Gleichgesinnte kennen und dort lernt er vor allem zu „leben“. Augenfällige Kennzeichen für Kais Freiheitsdrang und somit im Umkehrschluss der Drang die alten Mauern einzureißen sind der Autokauf[6] und seine ersten Drogenerfahrungen: Gerade letzteres ist für KC ein Element, welches sein Reaktionspotential mit dem Element Freiheit entscheidend erhöht und schließlich, als einer von vielen Faktoren dazu führt, dass Kai seinem bisherigen Umfeld entflieht. Auch die Besuche bei der Prostituierten Claudia sind ein Teil der Idee von „grenzenloser Freiheit“, denn anstatt sich auf eine Beziehung, die aus Geben und Nehmen und infolgedessen Verantwortung besteht, einzulassen, genießt Kai die Besuche im Rotlichtviertel[7], da er sich hier gehen lassen kann und nicht den gesellschaftlichen Regeln folgen muss. Schließlich macht ihm Claudia aber bewusst, dass nicht das egoistische Kopulieren, sondern das Teilen gemeinsamer Gefühle der entscheidende Teil einer Beziehung ist.

Hinzu kommt die endgültige Entfremdung von den Eltern die mit dem langhaarigen, lebensfrohen und intelligenten postpubertärem jungen Mann nichts anfangen können. Dies wird spätestens durch das Streitgespräch mit dem betrunkenen Vater klar; dem Sohn wird nichts als Unverständnis entgegengebracht, was seine Lebensweise betrifft, und Undankbarkeit gegenüber seinen Eltern vorgeworfen. Bereits zu Anfang wird der Generationskonflikt sichtbar, denn Kais Mutter kommentiert dessen Begeisterung für den Beatclub[8] mit einem skeptischem „Was für eine Welt […]“[9] und verlässt das Zimmer. Dabei ist die Rockmusik der 70er[10], mit ihrem übergroßen Ideal Freiheit, für KC ein Katalysator – einerseits lindert sie die psychischen Schmerzen, die ihm seine enge Existenz bereitet[11], andererseits senkt die Reaktion zwischen Kai und Rockmusik seine Hemmschwelle mit der Gegengesellschaft engeren Kontakt aufzunehmen. Der Protagonist wird sich bewusst,

„daß eine Änderung fällig war – so radikal wie der jäh erwachte Ekel vor den Sicherheiten und Konventionen, in die ich mich einbetoniert sah; ein Schritt oder Sprung, der aus meinem tarifvertraglich geregelten, daunengefederten, desodoriertem Dasein eine Existenz machte, nicht mehr und nicht weniger. Armut, Hunger, Obdachlosigkeit – meinetwegen; ich wollte mich durchschlagen, durchbeißen und in einen Zustand gelangen, in dem nichts zu verlieren war. Ich wollte die Arme ausbreiten und sagen: Mein Chef ist der Regen.“[12]

Die Thematik Spießergesellschaft wird wieder aufgegriffen, als Kai im letzten Kapitel „Schnaps für die Sektionsgehilfen“ auf die Mutter Eckis trifft. Denn auch diese konnte die Wandlung ihres Sohnes nicht nachvollziehen und sich nicht einmal an die Bezeichnung erinnern, die Eckis damalige Freundin Carolin, für seine ursprüngliche Lebensweise benutzte:

„Beschimpfte ihn immer mit einem Spezialwort, warten Sie, das hat man damals oft gesagt, Spinner nicht, Spicker oder so. – Spießer? fragte ich. – Oder so. Sie wollte dauernd, daß er alles hinschmeißt, erst das Studium und später die Stelle, und mit ihr durch die Welt bummelt, Jupheidi! Dabei waren wir so froh, wie er Bauingenieur wurde. Mein einziger Studierter.“[13]

In dieser Situation treten noch einmal ganz deutlich die einzelnen Ziegel der Mauer, also die Paradigmen der damaligen Gesellschaft, hervor, die es einzureißen gilt: Egoismus, Ignoranz, Intoleranz.

Aufgearbeitet wird das Thema „Umgang“ mit Freiheit auch in Schnuffs Erzählung ab S. 84ff. Er und Salzburg können nicht mit der Freiheit umgehen, weshalb sie sich aus Angst vor selbiger, noch kurz vor der Entlassung aus dem Gefängnis entfliehen und schließlich sogar einen Selbstmordversuch unternehmen. Erst Ecki kann ihnen durch die Begrenzung der Perspektive - in der kleinen Wohnung im 13ten Stock - den richtigen Weg weisen. Beide waren zwar in der Lage die vorherrschenden Strukturen zu zerstören, aber von sich aus Neue aufzubauen, schien ihnen unmöglich. Nur die Negation des Geregelten, Bekannten und gesellschaftlich Normalen lenkt ein Individuum nicht automatisch in die gewünschte Richtung. Dazu bedarf es neuer Perspektiven: „Aber was unseren Bammel betraf, unsere Angst vor der Freiheit, meine ich, da zitierte er mal was, das ging mir nie mehr aus dem Kopf […] : »Um deine Angst zu überwinden, mußt du das tun, was du am meisten fürchtest.«[14]

[...]


[1] Rothmann: Stier, S. 67 – sämtliche Seitenangaben beziehen sich im Folgenden auf Rothmanns Roman

[2] S. 186

[3] Im weiteren Verlauf der Arbeit als KC abgekürzt.

[4] S. 101: „Hast du eigentlich nie Lust gehabt was anderes zu machen? Warst du immer glücklich hier? […] Glücklich? Warum? Was’n das schon wieder für ein neumodisches Gequatsche!“ S. 79: „Mit meinen Freunden, den Akkordarbeitern, Fußballfans und Autonarren über so etwas wie Seele zu reden, hätte ungefähr dasselbe Gelächter hervorgerufen wie das Eingeständnis, daß man Intimspray verwendet…

[5] S. 67

[6] Vgl. S. 70

[7] Vgl. S. 40ff

[8] S. 50: „Mister Move blickte Seriös in die Kamera. Seine Augen waren geschminkt, und er strich sich mit Fingern voll riesiger Ringe eine Strähne hinters Ohr und schüttelte den Kopf. – Nein, sagte er, durchaus nicht. Das heißt, daß wir immer Drogen nehmen. Schnitt. Und VELVET UNDERGROUND, alle Musiker in schwarzem Leder, spielten mit dem Rücken zum Publikum.

[9] S. 50

[10] Vor allem im ersten Kapitel wird die zentrale Rolle von Musik durch die Nennung real existierender Musikgruppen und deren konsequente Großschreibung hervorgehoben. Beispiele sind neben VELVET UNDERGROUND, auf Seite 56 die EDGAR-BROUGHTON-BAND, auf Seite 75 CAN und auf Seite 76 PINK FLOYD.

[11] S. 32: „Durch und durch Träumer [...] wollt ich sowieso nur Popstar werden und spielte täglich endlose, halsbrecherische Gitarrensoli auf dem Teppichklopfer oder wälzte mich auf dem Boden und brüllte »I’m down! I’m really down!« in die Zahnpastatube, das Mikrofon.

[12] S. 67

[13] S. 354

[14] S. 97

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung des Buchtitels und der Zwischentitel in Ralf Rothmanns Roman "Stier"
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
Literatur des letzten Jahrzehnts
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
15
Katalognummer
V41526
ISBN (eBook)
9783638397681
Dateigröße
505 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Bedeutung, Buchtitels, Zwischentitel, Ralf, Rothmanns, Roman, Stier, Literatur, Jahrzehnts
Arbeit zitieren
Philip Baum (Autor:in), 2003, Die Bedeutung des Buchtitels und der Zwischentitel in Ralf Rothmanns Roman "Stier", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41526

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