Inszenierte Authentizität. Eine Aufführungsanalyse von "TESTAMENT" als Expertentheater


Masterarbeit, 2013

40 Seiten, Note: A


Leseprobe


Inhalt

Einleitung: Was ist Expertentheaer?

1. Wirklichkeit und Theatralität

2. „König Lear“ und „TESTAMENT“
2.1 Der Grundbegriff der Aufführungsanalyse
2.2 Zusammenfassung von „TESTAMENT“
2.3 Transformation von „König Lear“

3. „Authentizität“ des Expertentheaters
3.1 Begriffsbestimmung der Authentizität
3.2 Inszenierung des Expertentheaters
3.3 Vergleich authentischer Darstellungen
3.4 Authentizität als (Schau)Spiel

4. Schauspieltheorie des Expertentheaters
4.1 Definition des professionellen Schauspielers
4.2 Schauspieltheorie von Micharl Kirby
4.3 Differenzierungen bei der Darstellung von „TESTAMENT“
4.4  Spielerische Darstellung als Figurationsprozess

Schluss: Prozess als theatralische Möglichkeit

Literatur

Einleitung: Was ist Expertentheaer?

Am Anfang der 2000er Jahre ist ein neuer Theaterbegriff, nämlich das „Expertentheater“, im deutschsprachigen Theater erschienen. Einige Gruppe der freien Szene wie Rimini Protokoll, Gob Squad, SheShePop, Auftrag: Lorey gelten als Vertreter dieser neuen Tendenz. Sie haben zwar verschiedene Stile und Ideen, aber trotzdem haben sie eine Gemeinsamkeit, dass auf der Bühne ihrer Aufführung nämlich Laien erscheinen. Sie spielen keine fiktive Rollen eines dramatischen Textes, sondern handeln auf der Bühne als sie selbst. Die meisten Aufführungen entstehen, indem sie über ihr eigenes Erlebens oder Leben sprechen. Z.B. erschienen Leute aus Sozialen Bewegungen, wissenschaftliche Forscher, wirtschaftliche Berater usw. bei der Aufführung „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“(2006) von Rimini Protokoll. Sie sprachen darüber, wie ihr eigenes Leben mit dem Kapital zusammenhänge. Beim Performanceprojekt „Standbild mit Randexistenzen“(2004) von Auftrag: Lorey kamen mehr als 40 Leute, die vorher versammelt worden sind, der Reihe nach auf die Bühne und nutzten ganz frei jeweils eine Minute. Nachdem sie diese Zeit ausgenutzt hatten, mit Sprechen, Singen, oder Schweigen, zogen sie sich hinterwärts zurück und schauten an, was nächsten geschah.[1]

Bei solchen Aufführungen gibt es scheinbar keine konsequente Dramaturgie oder Inszenierungsstrategie, aber in der Tat werden die Motive wie das Kapital oder die inszenatorischen Gedanken nach dem theatralischen Rahmen und der Konstruktion auf der Bühne geschickt reproduziert. Miriam Dreysse schreibt über diese zwei Gruppen:

Anders als bei üblichen Formen des Laientheaters versuchen sie nicht Rollen zu verkörpern, sondern stehen auf der Bühne für sich selbst ein. Und im Unterschied zu Formen der Selbstdarstellung in Fernsehformaten wie den Daily Talks, bei denen die Inszeniertheit des Echtheitseindrucks verdeckt wird, wird im Fall des Expertentheaters wie etwa bei Auftrag: Lorey oder bei Rimini Protokoll die Inszeniertheit der Situation hervorgehoben und der Akt der Selbstdarstellung hinterfragt.[2]

Natürlich gibt es viele andere Beispiele, dass Schauspieler von der Rolle abweichen und als Selbst sprechen. Zwei entsprechenden Tendenzen im zeitgenössischen Theater sind die Performance-Art in Nordamerika und das dokumentarische Theater in deutschsprachigen Ländern der 1960-1970er Jahre. Und wenn man sich an den Verfremdungseffekt von Brecht oder an das improvisatorische Theater der Prämoderne erinnert, kann man sagen, dass der Zusammenhang zwischen Schauspielern und Rollen sehr vielfältig und fließend ist.

Wie unterschiedlich ist dann das Expertentheater seit den 2000er Jahren von solchen früheren Aufführungen? Es bleibt eben, dass beim Expertentheater keine technische Qualität vom Darsteller verlangt wird, während seit der griechischen Antike die auf der Bühne erscheinenden Leute immer eine Art der speziellen Darstellungstechnik (Rhetorik, Affizierung, Deklamation, Gestik usw.) brauchten.[3]

„Experte“ des „Expertentheaters“ bedeutet niemals Schauspieler als Experte des Schauspiels. Gemeint sind Leute, die eine besondere Leistung oder ein besonderes Erleben haben, also werden sie „Alltagsspezialisten“[4] genannt. Eine Aufführung wird „Expertentheater“ genannt, wenn solch ein „Experte“ einem klaren Konzept der Inszenierung nach auf der Bühne erscheint und über sein eigenes Erlebens spricht. Das ist weder bestehendes dramatisches Theater, bei dem es um die Repräsentation des Theaterstückes geht, noch Amateurtheater, das keine Verantwortung für die Qualität der Aufführung hat. Vielmehr werden viele Expertentheatergruppen wie Rimini Protokoll als regelrechtes Theater hoch geschätzt. Das heißt, dass das Expertentheater als kritischer Nachfolger des „Regietheaters“ gilt, das seit den 1960er Jahren im deutschsprachigen Staatstheater blühend ist und seine neue inszenatorische Interpretation des dramatischen Textes auf der Bühne verwirklicht. In der Tat sieht man bei den erfolgreichen Aufführungen des Expertentheaters einerseits die Ergebnisse des Regietheaters wie Ensembleprodukt und metatheatralische Perspektive, anderseits gibt es eine noch radikalere Fragestellung nach der Bedeutung des Schauspielers, der lange nur als Dasein gegolten hat, das den Inhalt des Theaterstückes an den Zuschauer vermitteln sollte.

Natürlich wird das Expertentheater keineswegs bedingungslos angenommen. Es besteht immer eine große Gefahr, im „Dilettantismus“[5] zu verfallen. Außerdem funktioniert die Besonderheit der Laien auf der Bühne als Kritik am bestehenden Theater kontrastiv erst, wenn gleichzeitig die Aufführung von über hohe Technik verfügenden Schauspielern vorausgesetzt wird. In diesem Sinne kann man noch nicht sagen, ob dieser Stil als wesentliche Antithese den Theaterbereich ausweiten kann, oder ob das Expertentheater nur eine zeitweilige und vorläufige Mode bleibt.

Aber eigentlich gibt es auch noch ein Beispiel, das Form und Stil von Rimini Protokoll, dass die Laien auf der Bühne über ihr eigenes Leben sprechen, nicht einfach nachahmt, sondern das Wesen der Laien spielerischer und theatralischer noch als Material der Aufführung benutzt und so einen neuen Ausdruck versucht. „TESTAMENT“, inszeniert von einer Theatergruppe der freien Szene in Berlin, SheShePop, das im Jahr 2010 uraufgeführt und 2011 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, ist der Gegenstand der Aufführungsnalyse in der vorliegenden Arbeit. Es war auffällig, dass eine Gruppe der freien Szene zum Theatertreffen eingeladen wurde, aber vor allem waren die Darsteller bemerkenswert: Wie in der Flugschrift „SheShePop und ihre Väter“ geschrieben, erschienen in der Aufführung „echte“ Väter der Mitglieder von SheShePop. Es wurde eine Aufführung von vier Performern (SheShePop) und drei Vätern.

In „TESTAMENT“ wurde „König Lear“ als Rahmen der Aufführung benutzt, wie schon der Subtitel „Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear“ zeigt. Aber Shakespeares „König Lear“ wird nicht einfach repräsentiert, vielmehr mit dem wirklichen Zusammenhang von Vätern und Kindern auf der Bühne gemischt. Die sieben Leute sprechen auf der Bühne bald den Text von Lear nach, bald reproduzieren sie eigene Dialoge untereinander. Sind sie denn Schauspieler? Oder Experten des eigenen Selbst?

In der vorliegenden Arbeit geht es um die Untersuchung der besonderen Struktur und Wirkung der Aufführung „TESTAMENT“ als Expertentheater. Im ersten Kapitel möchte ich als Voraussetzung den historischen Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und Theatralität verdeutlichen. Wirklichkeit ist ein großes Thema, um über die Theaterpraxis seit den 1960-1970er Jahren zu diskutieren. Die damaligen Theatermacher versuchten, auf andere Weise als beim naturalistisch realistischen Theater den Zusammenhang zwischen Wirklichem und Fiktivem auf der Bühne darzustellen. Deswegen sollte jetzt auch der Begriff der Theatralität selbst im Zusammenhang mit der Wirklichkeit erklärt werden. Theatralität ist weder Fiktives noch Wirkliches, sondern entsteht aus dem Zusammenhang der beiden.

Im zweiten Kapitel geht es um die Transformation von „König Lear“ zur Aufführung. Da werden die Fragen thematisiert, wie die Dramaturgie des Textes in der Aufführung dargestellt wird, welche Elemente des Textes ausgewählt wird oder nicht und wie man die Aufführung als Rekonstruktion von „König Lear“ interpretieren kann. Es ist allerdings gleichsam eine unvermeidliche Art für „dramatisches“ Theater, eine Aufführung nur aus der Perspektive der dramatischen Handlung des Textes zu betrachten. Damit man ein „postdramatisches“ Theater wie Expertentheater analysiert, sollte man andere Arte annehmen. Da gibt es einige Möglichkeiten: Körper, Musik, Atmosphäre, Rhythmus, Wahrnehmung usw. Im dritten Kapitel wird besonders Authentizität, die zwischen Darstellung und Wahrnehmung entstehen kann, thematisiert, um zu analysieren, was bei „TESTAMENT“ nicht immer vom Text abgehängt überzeugend ist. Authentizität wird im Zusammenhang sowohl mit der Inszenierung als auch mit dem „Schauspiel“ im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Theater untersucht.

Das Thema des letzten Kapitels ist die Darstellung von Performern (Kindern und Vätern). Die Darstellung der Auftretenden wird im Zusammenhang mit der formalistischen Schauspieltheorie von Michael Kirby, die auch in der deutschen Theaterwissenschaft schon anerkannt ist, unterschieden. Durch die vielfältige Sprache wird ihre Darstellung auf jeweilige Weise von den Zuschauern wahrgenommen. Was durch die unterschiedlichen spielerischen Strategien thematisiert wird, ist der Prozess selbst der Figuration und der Wahrnehmung. Aus diesem Prozess entsteht Authentizität dieser Aufführung.

1. Wirklichkeit und Theatralität

Theater ist sowohl Kunst der Repräsentation als auch Kunst der Präsenz. Es ist der Schauspieler selbst, der die Doppelseitigkeit des Theaters am klarsten ausdrückt. Der Schauspieler ist einerseits immer ein Künstler als Subjekt, der einen Gegenstand repräsentiert, anderseits ein Werk als Objekt, das von Künstlern dargestellt wird. Er/sie ist Spieler und Instrument, Künstler und Material. Der Körper als Präsenz erscheint durch die Repräsentation eines Gegenstandes, also durch die Selbst-Präsentierung. Trotzdem versuchten die meisten Theatermacher seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss des naturalistischen Realismus, in dem ideale Repräsentation als ideales Theater gilt, die Wirklichkeit oder die Präsenz aus dem Theater auszuweisen. Theater sei ein Raum gewesen, wo das Theaterstück „treu“ dargestellt werden sollte.

Natürlich gab es in jeder Zeit „große“ Schauspieler, deren Präsenz die Zuschauer faszinierte. Aber es war der historische Avantgardismus, der die bewusst oder bewusstlos verdeckte Doppelseitigkeit des Schauspielers erst thematisierte. Da wurde vor allem das Wesen des Schauspielers, also die Wirklichkeit im Theater, beachtet: Edward Gordon Craig kritisierte etwa die Schauspieler des naturalistischen Realismus, dass sie als „Sklaven des Geistes“ „immer noch unterjocht sein“[6] wollten.

Interessanterweise wurde der Begriff „Theatralität“ besonders entwickelt. In der Malerei zu Anfang des 18. Jahrhunderts war Theatralität noch der Gegenbegriff zu Natürlichkeit. Also wurde es „theatral“ genannt, wenn das Model des Gemäldes zweifefllos erkennen ließ, dass da der Maler gestanden hatte. Und es wurde „natürlich“ genannt, wenn er/sie gemalt war, „als ob“ da niemand gewesen wäre.[7] Da kann man sagen, dass der Konflikt zwischen Theatralität und Wirklichkeit schon begonnen hatte. Bis zu den 1960-1970er Jahren hatte der Begriff der Theatralität als Synonym für Fiktionalität gegolten.

Aber seit den 1970er Jahren änderte sich der Begriff der Theatralität sehr radikal im Bezug auf den Bereich der Kulturwissenschaft und der Soziologie. Erika Fischer-Lichte bezieht diesen Begriff auf die Rezeptionsästhetik bei kulturellen Performanzen, die Körperbewegung als Kommunikationsmittel und die Performanceästhetik. Sie unterscheidet diesen Begriff nach vier Aspekten: Performance, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung. „Diese vier Aspekte bestimmen in ihrer Gesamtheit und in je wechselnden Konstellationen den Begriff der Theatralität“[8], erklärt sie. Diese Begriffsbestimmung bietet gleichzeitig die Antwort zur Frage an, was Theater ist. Theater ist Kunst der Aufführung (Performance), in der die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Schauspielern vorausgesetzt wird, Kunst der Inszenierung, die den klaren Willen zum Ausdruck und den Rahmen enthält, Kunst des Körpers, die durch den Körper des Schauspielers und des Zuschauers als Media/Material konstruiert wird, und Kunst der Wahrnehmung, die von der Wahrnehmung des Zuschauers abgehängt wird. In diesem Sinne sind Theatralität und Wirklichkeit keine Gegenbegriffe mehr. Vielmehr entsteht Theatralität, indem die „wirklichen“ Materialien wie der Körper des Schauspielers oder die Wahrnehmung des Zuschauers in die repräsentierten theatralischen Elemente wie die Rolle oder die Dramaturgie verflochten werden.

Es ist das Expertentheater, besonders beispielhaft eine von einem klassischen Text, nämlich „König Lear“, ausgehende Aufführung namens „TESTAMENT“, das einen solchen neuen Begriff der Theatralität im zeitgenössischen Theater verkörpert und weiter neu entwickelt. Dabei geht es weder um die „theatralische“ Repräsentation der fiktiven Rolle im Text, noch um die „Wirklichkeit“, dass „echte“ Menschen auf der Bühne erscheinen und über ihr eigenes Erlebens sprechen, sondern um jene neue und besondere Theatralität. Durch die Analyse dieser Aufführung soll eine neue praktische Möglichkeit der Theateraufführung gezeigt werden, die sich vom dokumentarischen Film und Theater, von der Performance-Art und vom bestehenden repräsentativen Theater unterscheidet. Ab dem nächsten Kapitel wird konkreter der Inhalt der Aufführung untersucht. Zunächst wird es um die Analyse der Aspekte im Kontext des dramatischen Regietheaters gehen, wie nämlich der Text bei der Aufführung interpretiert und rekonstruiert wird.

2. „König Lear“ und „TESTAMENT“

2.1 Der Grundbegriff der Aufführungsanalyse

Es war Max Herrmann, der Anfang des 20. Jahrhunderts den Hauptbegriff der Theaterwissenschaft als „Aufführung“ festgesetzt hat. Aber erst in den 1980er Jahren wurde die Aufführungsanalyse zur wichtigeren Aufgabe für die Theaterwissenschaft vor der Textanalyse. Der grundsätzlichen Forschung von Christopher Balme nach ist das Hauptthema der Theaterwissenschaft seit 1980er Jahren der ganzheitliche Zusammenhang der drei Stufen: Text, Inszenierung, Aufführung. Er hat „Transformationsanalyse“ und „Strukturanalyse“ dazu als Arten der konkreten Analyse vorgeschlagen.[9] Erstere ist ein diachronisches Verfahren, um die aus einem(oder mehreren) Theaterstück bestehende Aufführung zu analysieren. Dabei geht es darum, wie der Text durch die Inszenierung zur Aufführung transformiert worden ist. Die Strukturanalyse ist ein synchronisches Verfahren, um besonders Aufführungen ohne vorhandenen Text zu analysieren. Da wird die Frage der Ausgangspunkt, was für Materialien bei der Aufführung verwendet und wie sie konstruiert werden.

Bei der Analyse von „TESTAMENT“ fragt die Transformationsanalyse, wie die Motive des Textes „König Lear“ in der Aufführung interpretiert und dargestellt werden, und die Strukturanalyse, wie die Materialien d.h. der Körper des Darstellers, die Aufnahme, die Musik usw. ganzheitlich zusammenwirken. Der Vorschlag von Balme ist zwar zum Teil gültig, um die Aufführungsanalyse theoretisch anzuordnen, aber man braucht die konkreteren Ansätzen, um eine Aufführung praktisch zu analysieren. In diesem Sinne ist ja die Art der Strukturanalyse von Fischer-Lichte wegweisend. Sie unterscheidet semiotische Ansätze als Analyse der Zeichen auf der Bühne von phänomenologischen Ansätzen als Analyse des Wechselverhältnisses zwischen Zuschauerraum und Bühne.[10] Bei den semiotischen Ansätzen geht es darum, die Bedeutung der vielfältigen Theaterzeichen (Sprache, Gestik, Bühnenbilder, Beleuchtung usw.) „richtig“ zu lesen und zu interpretieren. Bei den phänomenologischen Ansätzen sind auf die Materialien auch außer den Zeichen, nämlich Wahrnehmung oder Atmosphäre, zu achten. Bei diesen Ansätzen wird die Frage erst gestellt, wie der Analysierende als ein Zuschauer die Aufführung erlebt, während bei den semiotischen Ansätzen die Aufführung ein objektiverer Gegenstand ist. Es ist sehr auffällig, dass Fischer-Lichte die Aufführungsanalyse von der Text- oder Bildanalyse ganz deutlich unterscheidet. Wenn man einen Text oder ein Bild analysieren will, kann man den Gegenstand immer wieder wahrnehmen und sich prinzipiell aus den räumlichen und zeitlichen Beschränkungen befreien. Aber die Analyse einer Aufführung kann wegen der wesentlichen Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der Aufführung subjektiver und partieller sein. Deswegen ist es praktisch, nicht nur die Transformationsanalyse, sondern auch die Strukturanalyse, vor allem phänomenologische Ansätze, zu benutzen, um das zeitgenössische Theater zu analysieren, wo Improvisationen oder ein Wechselverhältnis zwischen Zuschauern und Schauspieren zum Hauptthema der Aufführung geworden sind.

Eine semiotische Analyse ist also, ebenso wie eine phänomenologisch ausgerichtete, einseitig. Beide müssen zusammengefasst werden. Wie die vorstehenden kurzen Analysen gezeigt haben, kann die Analyse je nach Aufführung und Erkenntnisinteresse an den unterschiedlichsten Momenten, Abläufen und Elementen der Aufführung einsetzen. Meist wird der Analysierende als Ausgangspunkt einen Moment wählen, der ihn in besonderer Weise angesprochen – irriiert, fasziniert, abgestoßen, erschreckt, gebannt oder auch gelangweilt oder geärgert – hat, oder einen Moment, der ihm in der Rückschau mit Blick auf seine Fragestellung besonders relevant erscheint. Feste Regeln – in welcher Reihenfolge oder nach welcher Ordnung vorgegangen werden sollte – lassen sich sinnvollerweise nicht aufstellen.[11]

In der berlinischen Schule der Theaterwissenschaft (Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Jens Roselt, Christel Weiler usw.) gibt es eine solche Tendenz, von subjektiven und partiellen Theatererfahrungen aus die Aufführung zu analysieren. Es ist verdienstvoll, dass sie nach der Theatersemiotik, die in den 1970er Jahren schon beherrschend war, noch einen neuen Ansatz gefunden haben, nämlich die Wahrnehmung des Analysierenden zum Ausgangspunkt zu nehmen. Auch für die Analyse von „TESTAMENT“ ist nicht nur die Interpretation des Theaterzeichens auf der Bühne notwendig, sondern auch die Untersuchung der Wahrnehmung des Zuschauers, weil in dieser Aufführung die Identität oder die Bedeutung der Darsteller nicht immer deutlich festgesetzt ist, vielmehr sichtlich der Wahrnehmung der Zuschauer überlassen wird.

2.2 Zusammenfassung von „TESTAMENT“

Wie ich schon in der Einleitung geschrieben habe, wurde „TESTAMENT“ im Jahr 2010 von einer freien Theatergruppe namens SheShePop im Theater HAU in Berlin uraufgeführt. Zu SheShePop gehören sieben Schauspieler und Schauspielerinnen. Obwohl diese Gruppe zuvor für die feministische Neuinterpretation klassischer Theaterstücke bekannt gewesen ist[12], sieht es bei dieser Aufführung vielmehr so aus, dass die De- und Rekonstruktion von „König Lear“ durch die Zusammenarbeit zweier aufeinander folgender Generationen das hauptsächliche Thema ist.

Auf der rechten Seite stehen drei Sessel, auf der linken wird der Text von „König Lear“ an die Wand projektiert. Davor ist ein Tisch, auf dem Getränke und Süßigkeiten stehen. Das Bühnenbild schaut insgesamt wie ein Wohnraum der Mittelschicht aus.

Der Verlauf der Aufführung verfolgt prinzipiell die Dramaturgie des Textes. Wenn das Wort „Erster Akt“ projektiert wird, erscheinen vier Schauspieler und sprechen über die Erinnerungen an ihre eigenen Väter. Dann wird der Satz „König Lear tritt auf“ projektiert, und es erscheinen drei Väter und setzen sich auf die drei Sessel. Auch ihre Oberkörper werden durch die Projektion auf der Wand in der Mitte der Bühne gezeigt, so dass es scheint, als ob dort drei Porträts von Königen aufgehängt wären. Sie alle singen ziemlich undeutlich einen Pop-song von Nancy Sinatra (und auch ihrem Vater Frank Sinatra) „Something stupid“. Ein Schauspieler erklärt die Zusammenfassung des ersten Aktes von „König Lear“, dann lesen sie miteinander laut aus dem Text vor. Im folgenden steht ein kurzer Teil aus dem Textbuch[13]:

Regan(Sohn Sebastian): Das sage ich und erhalte trotzdem nur das zweite Drittel, das mir ohnehin gesetzlich zusteht.(...)Wir sind alle gespannt, wie meine jüngste Schwester Cordelia vorgehen wird, die auch die Lieblingstochter unseres Vaters ist.

Lear(Vater Peter): Nun, unsere Freude, du jüngste, nicht Geringste. Was sagst du, dir zu gewinnen ein reicheres Drittel als die Schwestern? Sprich.

Cordelia(Tochter Fanny): Nichts, gnädiger Herr.

Lear(Vater Peter): Nichts?

Cordelia(Tochter Fanny): Nichts.

Lear(Vater Peter): Aus Nichts kann nichts entstehen. Sprich noch einmal.

Cordelia(Tochter Fanny): Ich Unglückselige! Ich kann nicht mein Herz auf meine Lippen legen. Ich lieb’ Eure Hoheit, wie’s meiner Pflicht geziemt. Nicht mehr, nicht minder.

Tochter Lisa: Das ist jetzt eine herbe Enttäuschung für den alten Vater.

Lear(Vater Joachim): Sie war mein Liebling und ich hofft’ auf Trost von ihrer sanften Pflege. Fort, mir aus den Augen!

Cordelia(Tochter Fanny): Das war also der dunkle Plan unseres Vaters. Ich sollte ihn pflegen. Dieser Plan ist gründlich schiefgegangen. Ich habe mich dem Wettstreit entzogen, ich werde enterbt und verstoßen und bin erst’mal draußen.

[...]


[1] Vgl.Miriam Dreysse: ≫ Was tue ich hier eigentlich? ≪ In: Jens Roselt, Christel Weiler. Hg: Schauspielen heute. Transcript, 2011, S.125-136.

[2] Ebd., S.126.

[3] Vgl. Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft. Erich Schmidt Verlag, 1999, S.121-129.

[4] Dreysse, S.129.

[5] Theaterheute 2011.05, S.13.

[6] Edward Gordon Craig: Der Schauspieler und die Über-Marionette. In: Jens Roselt. Hg. Seelen mit Methode. Alexander Verlag Berlin, 2005. S.261.

[7] Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. In:Erika Fischer-Lichte u.a. Hg. Inszenierung von Authentizität. A. Francke Verlag Tübingen und Basel, 2000. S.15-16.

[8] Ebd., S.18.

[9] Balme, S.96-97.

[10] Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft. UTB Stuttgart, 2009, S.81-88.

[11] Ebd., S.88-89.

[12] Vgl. Die Theaterkritik von Katrin Bettina Müller. In:taz Berlin 29.04.2011.

[13] Ich habe das Textbuch von der DVD(2010) und von der Version für Radio(2011) rekonstruiert.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Inszenierte Authentizität. Eine Aufführungsanalyse von "TESTAMENT" als Expertentheater
Hochschule
Keio University  (Institut für Germanistik)
Note
A
Autor
Jahr
2013
Seiten
40
Katalognummer
V412633
ISBN (eBook)
9783668638921
ISBN (Buch)
9783668638938
Dateigröße
679 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
inszenierte, authentizität, eine, aufführungsanalyse, testament, expertentheater
Arbeit zitieren
Ehito Terao (Autor:in), 2013, Inszenierte Authentizität. Eine Aufführungsanalyse von "TESTAMENT" als Expertentheater, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412633

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