Identität und Authentizität im Schatten des Fundamentalismus


Hausarbeit, 2013

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Abstrakt

Amin Maalouf definiert morderische Identitat als diejenige, die das Individuum auf lediglich eine einzige seiner Zugehorigkeiten reduziert. Stattdessen argumentiert er fur eine alternative Auffassung der Identitat, welche sich uber das Leben des Individuums hinweg andert, welche alle moglichen Zugehorigkeiten eines Individuums einschliefit und ausdruckt - seien sie religiosen, kulturellen, linguistischen, oder intellektuellen Ursprungs (Maalouf 2000). Weil Maalouf die Ansicht vertritt, dass fundamentalistische Taten vonjenen Personen begangen werden, deren Identitat bedroht ist, ist er davon uberzeugt, dass die Adaptation einer - wie man es wohl nennen darf - dekonstruierten Identitat beitragen wurde, fundamentalistische Taten zu verhindern.

Obwohl ich diese Ansicht teile, scheint mir, dass Maaloufs Pladoyer fur eine dekonstruierte Identitat gewisse Dilemmas aufier Acht lasst, welche zunachst erortert werden mussen, bevor eine dekonstruierte Identitat zu adaptieren ware: Vorausgesetzt, dass eine dekonstruierte Identitat adaptiert ist, mit welchen Kriterien entscheidet man nun, ob Werte - gesellschaftliche, religiose, kulturelle Werte etc. - anzunehmen bzw. zuruckzuweisen sind? Wie kommt man zum Entschluss, dass eine Handlung authentisch ist? Und nach der Adaption einer dekonstruierten Identitat, was wird aus der Beziehung zwischen dem Individuum und der Heimat? Mithilfe der Philosophie von Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, und Friedrich Holderlin - die ihrerseits eine dekonstruierte Identitat befurworten - adressiere ich solche Dilemmas. Es wird sich herausstellen, dass interkulturelle Bildung als auch die Erschaffung von Kunst erforderlich sind fur die Adaption einer dekonstruierten Identitat.

Einleitung

Dekonstruierte Identitat wird hier als terminus technicus eingefuhrt, um sie vom ublichen Identitatsbegriff zu unterscheiden, welcher in der formalen Logik verwendet wird, welcher hier als die formale Identitat bezeichnet ist. Die erste urkundliche Erwahnung der formalen Identitat ist von Platon, danach wurde die formale Identitat in Euklids Elementen fur die Axiome der Geometrie in Anspruch genommen, und sie bleibt bis heute notwendig zur Begrundung logischer Schlusse. Uber die modeme Logik trifft Frege die rein teleologische Entscheidung, die formale Identitat als Grundsatz zu verwenden; er konne sich nicht vorstellen, wie die Gultigkeit der formalen Identitat bewiesen werden konne (Frege 1964); somit gilt die formale Identitat als ein unbeweisbarer Grundsatz. Das Bezweifeln eines unbeweisbaren Grundsatzes fuhrt oft zu grofiem Fortschritt; zum Beispiel wurde das parallele Axiom der euklidischen Geometrie von Riemann in Frage gestellt, dessen Verneinung ihn ermoglichte, die nicht-euklidische Geometrie zu entwickeln.

Die dekonstruierte Identitat ist wohl das, was von Identitat ubrig bleibt, nachdem die Gultigkeit der formalen Identitat bezweifelt ist. Die formale Identitat ist nichts mehr als das Prinzip, dass alles mit sich selbst identisch ist. Oder in anderen Worten: das Prinzip besagt nichts mehr als diese Gleichung: a = a. Selbst wenn dieses Prinzip auf den ersten Blick vollkommen richtig scheinen mag, gibt es Grunde es zu bezweifeln. Wenn die Welt der formalen Logik verlassen wird, und die Welt, in der Menschen leben, betretet wird, scheint der Identitatsbegriff sich zu verkomplizieren.

Sartre druckt es folgendermafien aus (Sartre 1943): Ich bin meine Vergangenheit, welche schon vergangen ist, und somit nicht existiert, und ich bin auch meine Zukunft - im Sinne von meinen Planen, Zielen und Wunschen - die nicht realisiert sind, und somit nicht existieren: Also ist mein Existenz teilweise ein nicht-Existenz. Demzufolge ist die formale Identitat wohl fragwurdig: ich = ich scheint lediglich einen Aspekt menschlicher Existenz wiederzuspiegeln. Denn daruber hinaus bin ich einerseits das, was ich nicht (mehr) bin, und andererseits das, was ich (noch) nicht bin. Insofern ist der Satz ich = ich nicht gultig (da ich = nicht-ich gultig ist) und demzufolge ist die formale Identitat (a=a) ebenfalls ungultig. Was ubrig bleibt ist eine dekonstruierte Identitat, welche nie sich selbst gleich ist, weil sie sich standig andert.

Obwohl Maalouf betont, dass er keine philosophische Auffassung der Identitat entwickeln mochte (Maalouf 2000), lasst er sich jedoch auf philosophischen Diskurs ein. Der philosophische Diskurs erortert die resultierenden Dilemmas einer sich standig andernden Identitat: Zum Beispiel fehlt die Grundlage fur die Festlegung von personlichen Eigenschaften bei einer dekonstruierten Identitat. Die Handlungstheorie (engl. action theory) betrachtet es so: Wenn sich Identitat standig andert, ist die Identitat wohl eine Vielfaltigkeit von Identitaten; und wenn diese Identitaten sich widersprechen konnen, fehlt die normative Grundlage, mit der festgelegt werden kann, ob diese oder jene Handlung rational (d.h. authentisch) ist; diese Art der Rationalitat nennt sich Koharenz (Bratman 1987). Eine Folge der dekonstruierten Identitat druckt sich beispielsweise durch folgendes Dilemma ausdrucken: Wie weifi ich, dass diese oder jene Handlung koharent mit meiner Identitat ist, wenn sich meine Identitat standig andert? Koharenz heifit bei Heidegger wohl Eigentlichkeit, welche sich herausstellt als eines der Dilemmas, das hier adressiert wird. In diesem Aufsatz verwende ich das Wort Authentizitat fur Eigentlichkeit und Koharenz.

Im Ganzen mussen drei Dilemmas ausgearbeitet werden: 1. Das Umgehen mit Werten: Im Normalfall konnte derjenige Wert angenommen werden, dessen Ursprung sich in meiner (authentischen) Kultur befindet; jedoch, wie schon oben angemerkt, ist der Sinn von authentisch anhand der dekonstruierten Identitat nicht leicht auszulegen. Ahnlich wie Maalouf pladiert Nietzsche fur die Adaption einer dekonstruierten Identitat. In Also sprach Zarathustra spricht Nietzsche von dem Umgehen mit Werten und bietet meiner Meinung nach eine Losung zu diesem Dilemma an (Nietzsche 2010). 2. Authentizitat: In Sein und Zeit bezieht sich Heidegger auf eine dekonstruierte Identitat und setzt zwei verschiedenen Arten der Handlung entgegen: die eigentliche und die uneigentliche; somit mochte er den Sinn der Eigentlichkeit (Authentizitat) klar ausdeuten (Heidegger 2000). 3. Heimat: Angesichts einer dekonstruierten Identitat reicht der Geburtsort als Heimat nicht aus. Holderlin befurwortet eine dekonstruierte Identitat in seiner Schrift Urteil und Sein (Holderlin 1962). Durch sein Gedicht Heimkunft und mit Hilfe Heideggers Analyse wird Holderlins Verstandnis von Heimat, und somit eine Losung zu diesem letzten Dilemma, dargestellt.

Das Umgehen mit Werten

Es ist allgemein bekannt, dass Nietzsche fur einen Begriff der Identitat pladiert, der die gleiche Form hat, wie der von Maalouf, namlich eine dekonstruierte (de Man 1975). Identitat fur Nietzsche ist eine Frage dessen, was ich will und was ich mache, eine Frage meines Engagements in der Welt. Folglich ist Authentizitat nach Nietzsche eine Art der Selbstbestimmung, welche wohl im Wettbewerb mit religiosen, sozialen, kulturellen, und historischen Werte erlangt werden muss.

In Also sprach Zarathustra wird eine Allegorie von drei Verwandlungen erzahlt, die wohl als eine Parabel uber Werte zu verstehen ist. Jede Verwandlung betrifft den Geist, der sich wahrend des Erwerbs, der Zuruckweisung, oder der Erschaffung von Werten unterschiedlich verhalt, agiert, und reagiert. Anstatt eines sich verandernden Geistes andert sich der von dem Geist ausgeubte Wille. Angesichts dessen ist die Dialektik weder intern noch extern: Sie ist ein intra-dynamischer Tumult zwischen dem Geist und der Welt der Werte. Jedoch besitzt jede Verwandlung eine ontologische Dimension: Jede Verwandlung ist eine Verwandlung des Geistes. Das bedeutet, dass Nietzsche den Leser ermutigt, den erheblichen Effekt zu betrachten, welchen Werte auf derer Besitzer ausuben. Denn der Umgang mit Werten ist der (dekonstruierten) Identitat wesentlich.

Zum Umgang gibt es drei Prototypen: das Kamel, den Lowen, und das Kind; wobei alle drei, wie oben angemerkt, lediglich ein und derselbe Geist sind. Das Kamel erwirbt Werte, der Lowe weist sie zuruck, und das Kind erschafft Werte. Jede Figur besitzt eine entsprechende

Gesinnung (zum Beispiel hat das Kamel die Gesinnung Ehrfurcht), welche den Umgang der Figur mit den Werten bestimmt. Am Ende (also beim Kind) nehmen Werte die Gestalt an, welche dem Willen des Geistes entspricht. Diese Wertanderung ist wohl eine Perspektivanderung, d.h. eine neue Auslegung von Werten uberhaupt.

Die erste Verwandlung wird durch die Dreierstruktur des Kamels, der Ehrfurcht und des Schwere dargestellt. Durch ihr Verhaltnis fuhrt Nietzsche vor Augen, dass die nun zu erwerbenden Werte schwierig und auch wichtig sind. Nachdem das Kamel die verschiedenen Werte an und aufnimmt (erwirbt), reist es tief in die Wuste. Sobald das Kamel sich einsam (d.h. allein unter anderen Wesen) fuhlt, findet die zweite Verwandlung statt.

Die zweite Verwandlung stellt eine Dreierstruktur des Lowen, seines Wunsches nach Freiheit, und der Zuruckweisung der Werte dar. Der Lowe sucht nach der Befreiung von jeder moglichen Beschrankung und aufiert ein ,,heiliges Nein“ bezuglich der Werte. Daher schafft der Lowe sich die Freiheit, Werte zu schaffen; dennoch ist der Lowe nicht in der Lage neue Werte zu erschaffen; dafur muss der Lowe zum Kind werden.

Die letzte Verwandlung - die des Kindes - birgt Hinweise auf das Tubinger Stift, worin Holderlin sein Studium in Tubingen verbrachte (Nietzsche 2010: 29; ,,Unschuld ist das Kind“). In seinem Briefroman Hyperion sagt Holderlin folgendes uber das Wesen des Kindes (Holderlin 2008):

,,...ein gottlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamaleonsfarbe der Menschen getaucht ist.

Der Zwang des Gesetzes und des Schicksaals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein. In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen ... Aber wir haben ja nur Begriffe von dem, was einmal schlecht gewesen und wieder gut gemacht ist; von Kindheit, Unschuld habe wir keine Begriffe.“

Holderlins Auffassung bereitet eine schwierige Lage. Denn wir, sagt Holderlin, besitzen keine Begriffe fur das Denken des Kindes. Diese Passage erinnert mich an das Dilemma in der heutigen Entwicklungspsychologie: Kinder im Alter von drei oder junger beherrschen die Sprache noch nicht, und als Folge davon ist es wohl vernunftig zu argumentieren, dass die Kognition eines Kindes nicht mit Begriffen funktioniert. Das Dilemma ist nun, wenn Erwachsene die Kognition eines Kindes auffassen mochten, mussen Begriffe in Anspruch genommen werden; d.h. erwachsene Kognition scheint der kindlichen Kognition inkommensurabel zu sein (Davidson 1999). In anderen Worten druckt das Wesen des Kindes eine Art der Authentizitat aus, welche wohl-moglich nicht bei Erwachsenen realisiert werden kann.

Die Dreierstruktur des Kindes stellt ein ,,Spiel des Schaffens“ dar, das fur die Erwachenden wohl eigenartig wirkt, aber fur die Etablierung der eigenen Werte notwendig ist. Stellen Sie sich ein Kind vor, das einen Burgersteig entlang lauft, froh und scherzhaft eine leere Aluminiumdose herumtretend. Fur den erwachsenen Zuschauer ist des Kindes Spielzeug blofi eine leere Aluminiumdose. Ein Erwachsener kame nie auf die Idee, eine leere Dose als Objekt der Freude zu begreifen. Allerdings schaut das Kind die Welt nicht durch die Begriffe der Erwachsene an. Zwar sagte Kant, ,Anschauungen ohne Begriffe sind blindaber trotz der fehlenden Begriffe ist das Kind nicht blind: Das Kind schaut eine Welt an, in der vollig verschiedene Werte existieren, welche fur Erwachsene vollig fremd waren. Danach zeigt sich die Welt des Kindes als authentisch. Oder wie Heidegger es wohl sagen wurde: Die Welt des Kindes ist sowohl eigentlich als auch eigenartig.

Nun mochte ich die Resultate zusammenfassen, welche sich aus der Auslegung der drei Verwandlungen ergeben. Welche von den dreien geht mit Werten authentisch um? Nur das Kind verhalt sich den Werten authentisch gegenuber. Denn es erschafft seine eigenen Werte. Aber wie? Indem es mit fremden Werten spielt. Hier heifit Spielen wohl einen begrifflosen Umgang. Aber was konnte begrifflos bedeuten? Mit scheint begrifflos gleichbedeutend mit vorurteilslos zu sein. Ohne zuerst das Urteil zu fallen, obein Wert fremd ist, wird der Wert zunachst erworben; danach wird mit dem Wert gespielt, um herauszufinden, ob der Wert Freude bereitet, und wenn er dies namlich tut, wird der Wert sich zu eigen gemacht. Somit wird der Wert eigentlich, d.h. authentisch. Es folgt daraus, dass die Adaption einer dekonstruierten Identitat die Integration fremder Werte erfordert. Auf dieses Ergebnis gehe ich am Schluss nochmal ein.

Authentizitat

Da das menschliche Wesen mit anderen menschlichen Wesen verbunden ist, wende ich mich an die Philosophie von Martin Heidegger, der es betont, dass sich das Dasein - sein Wort fur das menschliche Wesen - stets in einer Welt von anderen befindet. Heidegger entwickelt dabei einen Ansatz, wie authentische Handlungen trotz der Immersion in einer teilweise fremden Welt vollzogen werden konnen — in der heideggerschen Sprache wird authentisch mit dem Wort eigentlich ersetzt, denn Heidegger mochte eine Anspielung auf eigen-tlich vor Augen fuhren.

In Sein und Zeit hebt Heidegger hervor, dass Schlusse uber das Dasein zu ziehen ebenfalls bedeutet Schlusse uber das Sein an sich zu ziehen; d.h. beijedem Versuch Dasein aufzufassen, wird ein Seinsverstandnis vorausgesetzt (Heidegger 2000). In der formalen Logik reprasentiert ein solches Schlusseziehen einen Teufelskreis: Man setzt das voraus, was man letztendlich beweisen mochte — wie bereits in der Einleitung angemerkt, zerbricht die formale Logik, wenn die formale Identitat ersetzt wird durch eine dekonstruierte Identitat. Heidegger bemerkt allerdings, dass es faktisch keinen Teufelskreis gibt. Bei Heidegger ist faktisch ein terminus technicus, der wohl praktisch bedeutet. Was Heidegger damit sagen will, ist, dass das Dasein Bestimmungen des Daseins erlangen kann, selbst wenn es keinen festen Seinsbegriff besitzt, weil Dasein schon Dasein ist. Dies ist ein komplexer Gedanke; also mochte ich ihn zunachst ausarbeiten, bevor ich fortfahre.

Stellen Sie sich vor: Sein als Verb bezeichnet nun einen aktiven Vorgang. Also reprasentiert der Satz „/ch bin Mensch “ eine Art Tun. In anderen Worten ist Sein etwas, das man tut. Diese Art Tun schliefit nun die Vielfalt des menschlichen Daseins ein: Denken, Fuhlen, Sprechen, Lieben, Arbeiten, etc. Somit verleihtjede Tat Einsicht in das Dasein. Deshalb selbst wenn das Dasein (d.h. auch Ihres, Heideggers, meines, etc) keinen festen Seinsbegriff besitzt (d.h. einen wohl-definierten Begriff, womit logische Schlusse gezogen werden konnen) vermag Dasein dennoch Aussagen uber das Dasein zu fallen; denn im praktischen Leben (d.h. durch Verhalten und Handeln: engl. through behaviors and actions) wird Erkenntnis uber Dasein erlangt.

Dies hat zur Folge, dass die Struktur des Daseins entdeckt wird, indem die Alltaglichkeit - d.h. unreflektiertes praktisches Leben - untersucht wird. Jedoch befindet sich der Mensch stets im Prozess irgendeiner Art des moglichen Daseins. Das heifit, das Wesen des Daseins ist stets eine Frage irgendeiner Moglichkeit. Weil die Moglichkeit ein notwendiges Teil der menschlichen Existenz ist, ist das menschliche Wesen in der Lage, das, was es ist, zu wahlen, und als Folge davon, realisiert das Dasein seine ausgewahlten Ziele oder eben scheitert an derer Realisierung. Dieses Erreichen und Scheitern deutet darauf hin, dass zwei Modi des Daseins existieren: bzw. das Eigentliche und das Uneigentliche. Das Dilemma fur Heidegger ist daher, wie Eigentlichkeit angesichts des Hintergrunds der moglichen Modi des Daseins verstanden werden kann. Durch die Struktur des In-der-Welt-Seins wird die Losung dargestellt, wie sich das Dasein eigentlich oder uneigentlich verhalt.

Nach einer Darlegung des In-der-Welt-seins erhebt sich die Frage, „Wer ist es, der in der Welt ist?” Zunachst ist der das Ich. Wegen des demonstrativen Charakters des Ichs zeigt sich, dass Ich logischerweise die Auffassung von Anderen einschliefit. Heideggers Pointe wurde Hegel wohl so ausdrucken (Hegel 2006): Dajede Person das Wort Ich verwendet, um auf sich selbst Bezug zu nehmen, ist nun der Ich-Begriff nicht blofi ein Ich-begriff, sondern auch ein Wir-Begriff. Daher stellt Heidegger fest, dass Identitat nie als ein isoliertes Ich gegeben ist. Daher ist die menschliche Identitat stets ein Mitdasein. Heidegger hebt dabei hervor, dass Identitat nie in der Hinsicht verstanden werden kann, dass sie von Anderen zu trennen ware. Dieses prasentiert ein neues Dilemma fur die Suche nach der Authentizitat, weil das menschliche Wesen als Ich nie blofi ein Ich ist.

Heidegger bezeichnet wegen dieser Feststellung das uneigentliche Dasein durch das

Pronomen man. Man ist wohl das „Ich im Wir“. Wenn ich denke, wie man denkt, oder wenn ich mich verhalte, wie man sich verhalt, ist mein Denken bzw. mein Verhalten uneigentlich, d.h. unauthentisch. Dieses Man, pladiert Heidegger, ist das Resultat der Alltaglichkeit, welche durch das In-der-Welt-sein erzeugt wird. Hinsichtlich der Eigentlichkeit (Authentizitat) beschreibt Heidegger verschiedene Modi des eigentlichen Daseins. Die Thematisierung dieser Modi wurde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, also gebe ich mich zufrieden mit diesem einen Befund Heideggers: der Bruch mit der Alltaglichkeit ist dem eigentlichen (d.h. authentischen) Dasein wesentlich. Das heifit, eine dekonstruierte Identitat erfordert einen Bruch mit der Alltaglichkeit. Auf dieses Ergebnis gehe ich am Schluss nochmal ein.

Heimat

Im vorherigen Abschnitt wurde klar, dass authentische Handlungen (als Funktion einer dekonstruierten Identitat) einen Bruch mit der Alltaglichkeit erfordert. Dennoch ist hier ein Paradox. Ein Aspekt der Alltaglichkeit ist der dekonstruierten Identitat wesentlich, und zwar: die Heimat. Denn die Heimat ist sowohl die Quelle der Alltaglichkeit - als der Ort, in dem der Alltag zumeist stattfindet - als auch die Quelle der Authentizitat: Wo bin ich ich, wenn nicht an dem Ort, wo ich hingehore? An dieser Stelle wende ich mich an Holderlins Gedicht Heimkunft, welches von Heidegger folgendermafien beschrieben ist (Heidegger 1981: 16),

„Nach seinem Namen sagt dieses Gedicht Holderlins von der Heimkunft. Wir denken dabei an die Ankunft auf dem Boden der Heimat und an die Zusammenkunft mit den Landesleuten in der Heimat.

Das Gedicht erzahlt eine Fahrt uber den See »von schattigen Alpen her« nach Lindau. Der Hauslehrer Holderlin ist im Fruhjahr 1801 aus dem thurgauischen Ort Hauptwyl bei Konstanz uber den Bodensee nach seiner schwabischen Heimat zuruckgefahren. So konnte das Gedicht »Heimkunft« eine Poesie uber eine frohliche Heimreise darstellen. Doch die letzte auf das Wort der »Sorge« gestimmte Strophe verrat nichts von der Frohlichkeit dessen, der sorglos in der Heimat ankommt.”

Meiner Meinung nach enthullt dieses Gedicht eine Wahrheit uber die Heimat: der Heimatbegriff entwickelt sich im Laufe des Lebens standig. Diejenigen, die fur lange Zeitspannen im Ausland leben oder gelebt haben, kennen wohl, wie es ist, heimzukehren, und sich wie ein Auslander zu fuhlen. Den Zuruckgekehrten betrachten Mitburger in einem anderen Licht. Von dem Zuruckgekehrten wird die Heimat aus einer anderen Perspektive empfunden, der Perspektive eines Auslanders. Die seit der Ruckkehr einwickelten Werte kommen dem Zuruckgekehrten fremd vor. Von seinen Mitburgern wird der Zuruckgekehrte nicht langer als einer von ihnen angesehen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Identität und Authentizität im Schatten des Fundamentalismus
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
16
Katalognummer
V412278
ISBN (eBook)
9783668642034
ISBN (Buch)
9783668642041
Dateigröße
440 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hölderlin, Nietzsche, Heidegger, Identität, Interkulturelle Bildung, Fundamentalismus, Flüchtlingsdebatte
Arbeit zitieren
John Dorsch (Autor:in), 2013, Identität und Authentizität im Schatten des Fundamentalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412278

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