Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung


Seminararbeit, 2005

24 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition

3. Begriffsklärung

4. Geschichtlicher Überblick
4.1 Beginn der Hospitalismusforschung
4.2 Die Klassische Deprivationslehre
4.3 Die Versorgung behinderter Menschen im 20. Jahrhundert

5. Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung heute
5.1 Aktuelle Risikofaktoren für Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung
5.1.1 Krankenhausaufenthalte
5.1.2 Mutter-Kind Bindung
5.1.3 Heimunterbringung
5.1.4 Einschränkung der Mobilität
5.1.5 Einschränkung der Kommunikation
5.1.6 Einschränkung der Wahrnehmung
5.1.7 Soziale Ausgrenzung
5.1.8 Modell zur Entstehung von Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung
5.2 Folgen der Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung
5.3 Prävention/Therapie von Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung
5.3.1 Basale Stimulation
5.3.2 Unterstütze Kommunikation
5.3.3 Gesellschaftliche Ebene

6. Schlussfolgerung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Anfangs des 20. Jahrhunderts starben in den Findelhäusern Deutschlands rund 70% der Säuglinge. (vgl. Spitz 1969, 77) Die Tatsache, dass Kinder aufgrund deprivierender Lebensbedingungen sterben können ist erschreckend. Auch behinderte Menschen litten während des letzten Jahrhunderts unter enorm isolierenden und deprivierenden Bedingungen. Die Enthospitalisierungs- und Normalisierungsdebatte haben dazu beigetragen, die Lebensumstände von behinderten Menschen stark zu verbessern. Doch gibt es heute wirklich keine deprivierende Faktoren mehr? Ist Deprivation bei Menschen mit Behinderung im 21. Jahrhundert kein Thema mehr? Solche und ähnliche Überlegungen liessen mich folgende Fragestellung formulieren:

‚Inwiefern ist Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung ein heute noch aktuelles Thema?’

Anhand folgender Arbeit möchte ich verschiedene Faktoren zusammentragen, welche die Aktualität des Themas deutlich machen.

Als Einstieg dient eine Definition des Begriffes Deprivation. Da es einige eng mit Deprivation verwandte Begriffe gibt, scheint eine anschliessende Begriffsklärung notwendig. Folgend verschafft das vierte Kapitel einen Überblick über die Geschichte der Deprivationsforschung. Dabei werden auch die Lebensbedingungen behinderter Menschen im letzten Jahrhundert betrachtet. Anschliessend gehet das Fünfte Kapitel auf verschiedene, aktuelle Risikofaktoren für Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung ein. Die folgenden Kapiteln beschäftigen sich mit den Folgen und der Prävention von Deprivation. In der Schlussfolgerung wird obige Fragestellung beantwortet.

Literarisch stützt sich die Arbeit auf verschiedene Bücher und Artikel zum Thema. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die Werke von Theunissen (1991, 1999) und eine Studie von M. Seifert (2002). Leider gibt es nur wenig aktuelle Literatur zum Thema.

2. Definition

Die Enzyklopädie der Sonderpädagogik definiert Deprivation wie folgt:

„Werden einem Individuum die Objekte der primären (biogenen) und sekundären (soziogenen) Bedürfnisbefriedigung vorenthalten, liegt eine Deprivation vor. Die Ausschaltung optischer, auditiver und taktiler Reize im Sinne einer sensorischen Deprivation bedingt Veränderungen der Hirnfunktionen, innere Unruhe, verstärkte Reizbarkeit, Sinnestäuschungen, Depressionen und Beeinträchtigung der kognitiven und motorischen Funktionen. Soziale Deprivation durch das Vorenthalten von Kontakt und Kommunikationsmöglichkeiten vor allem innerhalb des ersten Lebensjahres bedingt schwerwiegende Störungen des emotionalen Verhaltens, der Entwicklung sozialer Beziehungen und Beeinträchtigungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Die negativen Auswirkungen sensorischer und sozialer Deprivation für die kindliche Entwicklung sind als Hospitalismusschäden bekannt geworden. Relative soziale Deprivation meint die subjektiv erlebte soziale Benachteiligung gegenüber Individuen mit vergleichbarer Stellung.“ (Dupuis et al. 1992, 126)

Diese Definition macht die verschiedenen Facetten des Begriffes deutlich.

3. Begriffsklärung

Da es verschiedene mit Deprivation eng verwandte Begriffe gibt möchte ich auf die wichtigsten kurz eingehen.

Hospitalismus:

Ein mit Deprivation eng verwandter Begriff ist der des psychischen Hospitalismus: „psychische Reaktion eines Säuglings, Klein- oder Vorschulkindes (seltener auch Schulkindes) auf die Trennung von der Mutter durch einen Klinikaufenthalt. Die Symptome verlaufen häufig in folgenden Phasen: 1. Angst, Verunsicherung, schreiende Abwehr jeglichen fremden Kontaktes; 2. Apathie, Resignation; 3. Anpassung. Die Erholungsphase nach der Heimkehr zur Mutter kann stark verzögert verlaufen, bleibende psychische Schäden sind nachgewiesen.“ (Dupuis et al. 1992, 296)

Die Beobachtungen über die Reaktion kleiner Kinder auf Krankenhausaufenthalte standen am Anfang der Deprivationsforschung Mitte des letzten Jahrhunderts. Der Begriff Hospitalismus wird heute nur noch selten verwendet, er gilt als veraltet und wird vielfach durch den Begriff Deprivation ersetzt. Für Steinhausen ist der psychische Hospitalismus im Sinne einer ‚Krankenhausschädigung’ eine Variante von Deprivation. (vlg. Steinhausen 2002, 240)

Vom psychischen Hospitalismus muss der Begriff des infektiösen Hospitalismus abgegrenzt werden. Infektiöser Hospitalismus bezeichnet die Ausbreitung bakterieller Infektionen in Krankenhäusern. (vgl. Dupuis et al. 1992, 195)

Vernachlässigung:

Ein weiterer eng verwandter Begriff ist Vernachlässigung: „Von Vernachlässigung wird gesprochen bei unzureichender Ernährung, Pflege, Gesundheitsvorsorge bzw. Gesundheitsfürsorge, Betreuung, Zuwendung, Anregung und Förderung, Liebe und Akzeptanz sowie bei unzureichendem Schutz vor Gefahren. Zu unterscheiden ist zwischen aktiver und passiver Vernachlässigung. Passive Vernachlässigung erfolgt unbewusst, und liegt meist in der Unkenntnis oder in mangelnder Einsicht der Eltern oder einer anderen für die Erziehung verantwortlichen Person begründet. Bei der aktiven Vernachlässigung wird dem Kind die notwendige Fürsorge bewusst verweigert.“ (http://www.kinderschutz.ch/seiten_d/themen/vernachlaessigung.php)

Die Begriffe Vernachlässigung und Deprivation werden oft synonym verwendet. Während der Begriff Vernachlässigung vor allem die Rolle des Täters beschreibt, weist der Begriff Deprivation vorallem auf die Folgen für die psychische und physische Entwicklung des Opfers hin.

Verwahrlosung:

Früher wurde der Begriff Verwahrlosung im Zusammenhang mit der Fürsorgeerziehung gebraucht, im neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz wurde er durch den Begriff des ‚sozial auffälligen Verhaltens’ ersetzt. (vgl. Thesing et al. 1999, 72) Heute wird der Begriff wie folgt definiert:

„Das andauernde, alle sozial wichtigen Lebensbereiche betreffende Abweichen eines Individuums von den sozialen Verhaltenserwartungen (= persistente, generalisierte Dissozialität). In der Regel verhalten sich Verwahrloste weder in der Familie noch in der Schule oder am Arbeitsplatz, noch als Staatsbürger gemäß den gebräuchlichen Normen. Sie stehen deshalb außerhalb der Gesellschaft und bewusst oder unbewusst in Opposition zu ihr. Diese Absonderung bzw. dieses Außenseitertum wird durch komplexe Faktoren verursacht: Persönlichkeitsfaktoren, Familiendynamik, gesellschaftlich-kulturelle Bedingungen.“

(http://www.lexikon-psychologie.de/begriff/Verwahrlosung.php)

Diese Definition von Verwahrlosung aus einem Psychologie Lexikon betont vor allem die soziologische Perspektive des Begriffes. Während die Begriffe Vernachlässigung und Deprivation mehr auf Täter und Opfer hinweisen, betont der Begriff Verwahrlosung vor allem die aktive Rolle des Individuum selbst.

Der Begriff Verwahrlosung wird im alltäglichen Sprachgebrauch oft synonym mit Vernachlässigung verwendet, obwohl die Begriffe keineswegs dieselbe Bedeutung haben!

4. Theorie-geschichtlicher Überblick

4.1 Beginn der Hospitalismusforschung

Schon vor langer Zeit wurde herausgefunden, dass Nahrung allein nicht ausreicht um zu überleben. Bereits im 11. Jahrhundert machte Kaiser Friedrich II ein interessantes Experiment: Er wollte herausfinden, welches die Ursprache des Menschen ist. Zu diesem Zweck liess er mehrere Kinder von Geburt an von Ammen aufziehen, die den Auftrag hatten, nicht in Gegenwart der Kinder zu sprechen, aber sich ihnen in jeder Weise anzunehmen. Der Kaiser hoffte auf diese Weise herauszufinden, ob die Kinder spontan beginnen würden Hebräisch, Arabisch, Griechisch oder Latein zu sprechen. Leider scheiterte das Experiment kläglich: Die Kleinen starben alle. (vgl. Heinisch 1994, 196-200) Diese historische Anekdote zeigt, welchen lebensentscheidenden Einfluss der soziale Umgang im allgemeinen und die Beziehung zu einer Mutterperson im besonderen für die Entwicklung eines Kindes besitzt.

Dem Wiener Kinderarzt Pfaundler (1925) gebührt der Verdienst, Spitalsschädigungen als erster mit der Muttertrennung in Verbindung gebracht zu haben. Ihm fiel auf, dass sich Kinder in der natürlichen Umgebung, in welcher oft ein viel geringerer Grad an Hygiene herrschte als in Spitälern, unter sonst gleichen Ausgangsbedingungen wesentlich schneller erholten. Er stellte auch als erster Vergleiche zwischen Kindergruppen mit unterschiedlicher Zuwendungsintensität und Entwicklungsverläufen fest. Er unterteilte die Hospitalismusschäden, wie oben beschrieben (vgl. S. 4) in drei Phasen.

(Vgl.: http://rpss23.psychologie.uni-regensburg.de/lehre/internetangebote/paedpsy/famein/famein_324.htm)

4.2 Klassische Deprivationslehre

Die Autoren Goldfarb, Spitz und Bowlby haben in den 50ern und 60ern durch ihre Untersuchungen und ihre theoretischen Konzepte das Nachdenken und Forschen über die emotionale und soziale Entwicklung von Kindern angestossen. (vgl. Schmidt 1992, 35) Ihre Arbeit wird als ‚Klassische Deprivationslehre’ bezeichnet. Sie untersuchten die hohe Sterblichkeit von Kindern in den Kliniken und Anstalten: „Am Anfang dieses Jahrhunderts hatte eines der grossen Findelhäuser in Deutschland bei den Säuglingen im ersten Lebensjahr eine Sterblichkeitsquote von 71.5%.“ (Spitz 1969, 77)

Die drei Autoren kommen zum Schluss „ dass das Fehlen liebevoller mütterlicher Zuwendung zum Säugling und Kleinkind irreversible schädliche Folgen für dessen Entwicklung mit sich bringe.“ (Lehr 1974, 17)

Weiter glaubten die Autoren, anhand ihrer Beobachtungen nachgewiesen zu haben, dass in Heimen untergebrachte Säuglinge nach längerem Aufenthalt irreversible physische, emotionale und kognitive Schäden davontragen würden. Ihren Untersuchungen sind später mehrere methodische Schwächen nachgewiesen worden und die Allgemeingültigkeit ihrer Feststellungen wurde in Frage gestellt. (vgl. Steinhausen 2002, 241) Vor allem die These der Irreversibilität der Deprivationsschäden ist in den letzen 15 Jahren von verschiedenen Gegner der klassischen Deprivationslehre entschärft worden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung
Hochschule
Universität Zürich  (Institut für Sonderpädagogik)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
24
Katalognummer
V40941
ISBN (eBook)
9783638393263
Dateigröße
590 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deprivation, Menschen, Behinderung
Arbeit zitieren
lic. phil. Eliane Zürrer-Tobler (Autor:in), 2005, Deprivation bei Menschen mit einer Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40941

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