Die Sprachursprungsdebatte bei Johann Gottfried Herder


Magisterarbeit, 2004

98 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert

3 Philosophischer Kontext der Herderschen Sprachursprungsdebatte
3.1 Erkenntnisphilosophie, Sprache
3.1.1 Rationalismus
3.1.2 Empirismus
3.1.3 Sensualismus: Condillac
3.2 Sprachursprungstheorien im 18. Jahrhundert

4 Herders Frühwerk
4.1 Sprachphilosophisches vor der Abhandlung
4.1.1 Werke vor den Fragmenten: 1764 - 1766
4.1.2 Über die neuere deutsche Literatur – Fragmente (1766/67)
4.2 Ursprungsdenken vor der Abhandlung

5 Abhandlung über den Ursprung der Sprache
5.1 Anlass und Aufbau
5.2 „Sprache der Empfindung“
5.3 Kritik der Kontrahenten: Condillac, Rousseau, Süßmilch
5.4 „Besonnenheit“ – Verhältnis von Mensch und Tier
5.5 Erkenntnistheorie, Ursprung der Sprache
5.6 Laut, Gehör, Bedeutung, Artikulation
5.7 2. Teil: Progression, Konstitution von Gesellschaft
5.8 Kritik und Rechtfertigung der Abhandlung

6 Herders spätere Jahre
6.1 Sprachphilosophisches nach der Abhandlung
6.1.1 Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774)
6.1.2 Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778)
6.1.3 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 - 1791)
6.2 Ursprungsdenken nach der Abhandlung

7 Bedeutung der Sprachursprungsdebatte für Herders Humanitätsideal

8 Resümee

Abkürzungsverzeichnis der Herderschen Werke

Bibliographie

1 Einleitung

Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) nimmt in der Geschichte der Sprachphilosophie einen wichtigen Platz ein. Zeit seines Lebens beschäftigte er sich mit dem Thema Sprache: Dabei ging es ihm um den Stellenwert von und den Umgang mit Sprache in der Gegenwart ebenso wie um den Ursprung und das Wesen von Sprache. Immer hatte er den Bezug seiner Überlegungen zu Fragen im Auge, die ihn im Hinblick auf die Rolle von Literatur und auf gesellschaftliche Fragen seiner Zeit und zukünftiger Visionen beschäftigen.

Die vorliegende Arbeit behandelt das Thema des Sprachursprungs in Herders Werk. Dabei interessiert zum einen der Begriff des ‚Ursprungs’ an sich, zum anderen konkret der Ursprung von Sprache, der im Laufe der Jahre bei Herder gewissen Schwankungen ausgesetzt war – wenn auch die entscheidenden Überlegungen und ihre Bedeutung für Herders Weltbild konstant blieben.

Das 18. Jahrhundert interessiert sich in besonderem Maße für die Frage des Ursprungs – nicht nur für den von Sprache. Zunächst beschreibt diese Arbeit dieses besondere Interesse der Epoche der Aufklärung für die Frage des Ursprungs und speziell des Ursprungs von Sprache. Anschließend wird ein Überblick über den philosophischen Kontext der Herderschen Sprachursprungsdebatte gegeben, um später zeigen zu können, auf welche geistigen Traditionen Herder zurückgreift. Dabei interessieren zum einen die Bereiche der Erkenntnisphilosophie und der Sprache, zum anderen der Überblick über wichtige andere Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts vor Herder.

Anschließend rücken Herder und sein sprachphilosophisches Werk selbst ins Blickfeld. Es wird eine Einteilung seines Gesamtwerkes vorgenommen, die sich nach dem Erscheinen seines sprachphilosophischen Hauptwerkes richtet: Die Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1], erschienen im Jahre 1772, markiert den Übergang vom Früh- zum Spätwerk.

Zunächst wird das Frühwerk unter zwei Gesichtspunkten behandelt: Zum einen geht es um das sprachphilosophische Denken dieser Zeit, zum anderen um die Kategorie des „Ursprungs“. Nach einer eingehenden Betrachtung der Abhandlung wird entsprechend der Behandlung des Frühwerks nach den sprachphilosophisch wichtigen Stationen der späteren Jahre gefragt und schließlich nach den Kernaussagen in Hinsicht auf die Kategorie des „Ursprungs“.

Abschließend wird das Thema „Sprachursprung“ in den Gesamtzusammenhang des Herderschen Werkes gestellt. Seine Bedeutung für Herders Humanitätsideal wird herausgearbeitet und gezeigt, dass Herders Beschäftigung mit dem Thema niemals losgelöst von weiteren Bezügen gesehen werden sollte: Herder interessiert der Ursprung von Sprache in seiner Bedeutung für das Verständnis des menschlichen Wesens und für die Möglichkeiten der menschlichen Gesellschaft, ihr Zusammenleben zu verbessern und dem einzelnen Menschen zu einem erfüllten und glücklichen Dasein zu verhelfen.

2 Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert

Das 18. Jahrhundert war eine Zeit des Umbruchs, gekennzeichnet durch die Bewegung der Aufklärung, die den Menschen aus der Vormundschaft einer religiösen und fremdbestimmten Weltsicht zu befreien suchte, um ihm ein selbstbestimmtes, autonomes Leben in einer freien, sich an den Maßgaben der Vernunft orientierenden menschlichen Gesellschaft zu ermöglichen.

Im Rahmen der christlichen Weltanschauung hatte der Mensch stets seinen festen Platz im Gefüge des Weltgeschehens besessen, der ihm von der Theologie zugewiesen worden war. Die Aufklärung mit ihrer aufkommenden Propagierung der selbstständigen Verstandesfähigkeit des Menschen stürzte das menschliche Selbstverständnis in eine Krise: Fortan war die Frage danach eine beunruhigende. Nicht mehr sicher war es, welchen Stellenwert der Mensch besaß, welcher Art überhaupt die menschliche Natur war, welche Aufgaben und Möglichkeiten für ihn bestimmt waren.

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch eine zunehmend organische Sicht der Welt, die versuchte, das Leben aus sich selbst heraus zu erklären und nicht mehr am Vergleich des lebenden Organismus mit einer Maschine festzuhalten, wie ihn René Descartes (1596-1650) geprägt hatte – eine Ansicht, die jahrzehntelang die Einstellung zum lebenden Körper bestimmt hatte. Von den seelenlosen Automaten, welche lebende Körper darstellten, hob sich nach Descartes einzig der Mensch dadurch ab, dass er neben dem Körper noch über eine unkörperliche, denkende Seele verfügte. Deren vernünftige Gedanken drückten sich in Sprache aus sowie in der Fähigkeit des menschlichen Geistes, sich den verschiedensten Situationen anzupassen. Beides betrachtete Descartes als vom Körper hervorgebrachte, den Menschen vom Tier unterscheidende Merkmale.

Eine weitere wichtige Denkrichtung ging von den exakten Naturwissenschaften und Isaac Newton (1642-1727) aus; Newton suchte die Welt nach strengen mathematischen und kausalen Gesetzen zu erklären. Jedoch verfügte auch sein Gedankenmodell über einen eindeutigen religiösen Bezug: Die Abläufe der Natur, exakt beschrieben durch mathematische Gesetze, offenbarten die Existenz und das Wirken eines unsichtbaren Gottes. Aufgabe des Naturwissenschaftlers war es, beschreibend und beobachtend Gottes Absichten in der Schöpfung zu zeigen.

Dieser Bund von Religion und Wissenschaft begann erst zu bröckeln, als mit Forschern wie Georges Louis Leclerc Comte de Buffon (1707-1788) die Naturforschung sich von der Theologie zu emanzipieren begann. De Buffon versuchte, die Phänomene der Natur nicht auf religiöse Dimensionen zurückzuführen; stattdessen wollte er ihre Bedeutung in ihrer natürlichen und auch in ihrer historischen Verkettung verstehen. So wandelten sich naturwissenschaftliche Untersuchungen im 18. Jahrhundert zu „Anschauungsweisen, die durch eine zunehmende Einbeziehung der Empirie, durch Beobachtung und Experiment gekennzeichnet waren.“[2] Herders Methode, den Ursprung von Sprache nicht einfach religiös abzuleiten, sondern seinen Überlegungen das Konzept des Organisch-Lebendigen zugrunde zu legen, steht ganz im Zeichen seiner Zeit.

Typisch für das philosophische Denken des 18. Jahrhunderts ist, dass es sich nicht einfach den Phänomenen der Welt überlässt, sondern immer zu ihrem Ursprung vordringen will, um von dort aus ihr Ziel vorausschauen zu können:

Die Epoche […] fühlt sich von einer mächtigen Bewegung ergriffen und vorwärts getrieben; aber sie kann und will sich nicht damit begnügen, sich dieser Bewegung einfach zu überlassen, sondern sie will sie in ihrem Woher und ihrem Wohin, in ihrem Ursprung und in ihrem Ziel begreifen. Dieses […] erscheint ihr als der eigentliche Sinn des Denkens überhaupt und als die wesentliche Aufgabe, die ihr gestellt ist.[3]

Es gibt mehrere Gründe dafür, dass im 18. Jahrhundert ein Interesse für Ursprünglichkeit erwacht, wie es vorher nicht existiert hat:

Viele Einflüsse treffen zusammen, die einen derartigen Umschwung herbeiführen: die poetologische Originalitäts- und Geniedebatte, die ‚Entdeckung’ der Bibel als literarisches Dokument, die ‚Querelle des Anciens et des Modernes’, der Pietismus und insbesondere der anthropologische und geschichtsphilosophische Neuansatz durch Jean-Jacques Rousseau.[4]

Wenn Herder und seine Zeitgenossen von ‚Ursprung’ sprechen, so verstehen sie darunter die Originalität, die Stärke eines Anfangs von etwas, das diese Stärke im Laufe der Entwicklung verloren hat. Darstellungsmittel ist dabei zumeist die organologische Metaphorik[5] - auch bei Herder spielt der Begriff des ‚Organischen’ oder auch der ‚genetischen Kraft’ eine wichtige Rolle. Diese Neuwertung des Ursprungs und die damit einhergehende Neuorientierung von Geschichtsphilosophie bedeutet zugleich eine Umwertung des Wesens des Menschen. Unmittelbar damit zusammen hängt die Frage nach der Sprache, welche als das entscheidende Merkmal gilt, das den Menschen vom Tier unterscheidet.

So ist die Frage nach den Ursprüngen im Allgemeinen und insbesondere die Frage nach dem Ursprung der Sprache mit einer Reihe grundlegender Fragen verbunden; sie impliziert Fragen nach dem Menschenbild und nach der Stellung des Menschen in der Welt. Auch Herders Motivation, in allen Bereichen seiner Erkenntnis nach den Anfängen und Ursprüngen zu fragen, sowie seine Tendenz, das jeweils Erste als das Bedeutendste, Reinste oder auch Kräftigste anzusehen, ist in der Betrachtung und in der Kritik seines eigenen Zeitalters zu sehen: Durch das Erforschen der Ursprünge will er seiner eigenen Zeit den Spiegel vorhalten und Kritik an ihr üben mit dem Ziel, sie schließlich zu verbessern.

Die Entwicklung weg von einer religiös fundierten, in festen und klaren weltanschaulichen Vorstellungen lebenden Gesellschaft, hin zu einer auf Vernunft und den Glauben an menschlichen Fortschritt aufbauenden Gesellschaft geht einher mit einem Verlustgefühl. Es beginnt sich ein Gefühl der Entfremdung, des Identitätsverlusts einzuschleichen; bei der Suche nach Identität ist die Suche nach den Ursprüngen nahe liegend, gibt sie doch Hoffnung auf das Wiederfinden der Wurzeln, des Urtümlichen und des reinen Kerns der eigenen Identität.

Typische Ursprungsüberlegungen des 18. Jahrhunderts verstehen den in der Gegenwart vorgefunden Mangel als Endpunkt einer Entwicklung hinweg von einem positiv verstandenen Urzustand. So auch im Zusammenhang mit Sprache:

Die Verständigung durch Sprache kann nicht immer derart unvollkommen gewesen sein. Zum Vorgefundenen hin muß eine Entwicklung geführt haben, die zurückzuverfolgen Reflexionen über den Ursprung notwendig macht. Ausgangspunkt der Ursprungstheorien ist […] Gegenwart: Sie sind veranlaßt durch den Verlust des unmittelbaren Ausdrucksvermögens von Sprache, den sie in der Sprachgegenwart konstatieren […][6]

Der Zustand der Sprache ist im 18. Jahrhundert Gegenstand häufiger Kritik. Sprachmissbrauch wird in unterschiedlichen Bereichen konstatiert. Im Bereich der Wissenschaft wird der unpräzise Gebrauch von Begriffen kritisiert, der den Erkenntnisgewinn behindert. So prangert etwa John Locke in seinem An Essay concerning human understanding (1690)die Unzulänglichkeit sprachlicher Kommunikation an; er spricht von „imperfection of words“ und vom „abuse of words“:

Außer der Unvollkommenheit, die der Sprache von Natur eigen ist, und der Dunkelheit und Verwirrung, die sich beim Gebrauch der Wörter so schwer vermeiden lassen, gibt es noch eine Reihe absichtlicher Fehler und Nachlässigkeiten, deren sich die Menschen bei dieser Art der Mitteilung schuldig machen. Sie machen diese Zeichen dadurch in ihrer Bedeutung noch weniger klar und verständlich, als sie es von Natur aus zu sein brauchen.[7]

In der Literatur wird kritisiert, dass sie sich im Gebrauch der Sprache von deren Ursprüngen zu weit entfernt und die ursprüngliche Kraft eingebüßt hat, die sie einmal besaß. Auch im alltäglichen Gebrauch von Sprache hat sich diese, so ihre Kritiker, zu weit von den Ursprüngen entfernt. Der Literatur kommt daher eine besondere Aufgabe zu:

In der Diskussion um eine Theorie des Sprachursprungs wird der Literatur im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine neue Aufgabe zugewiesen; Literatur soll die Sprache zu ihrem Ursprungsaugenblick zurückführen, von dem sich diese im alltäglichen Gebrauch immer weiter entfernt.[8]

Der Umgang mit und die Betrachtungsweise von Sprache erfährt im Verlauf des 18. Jahrhunderts einen Wandel. Bedeutete sie für Locke noch die zeitliche Entwicklung des möglichen menschlichen Wissens, an deren Ende ein Zustand steht, der eine völlige Übereinstimmung zwischen der natürlichen Ordnung der Ideen und der dann entstandenen Ordnung der Sprache darstellt, so sehen etwa Rousseau und Herder nun etwas Grundlegenderes in ihr.

Sprache wird zu einem paradoxen Problem eines unmöglichen Anfangs, über den nachzudenken sich zwar lohnt, der sich aber niemals exakt wird beschreiben lassen. Dabei sind im hypothetischen Moment des Beginns von Sprache Gefühle und deren sprachlicher Ausdruck noch identisch. Im Verlauf der Geschichte entfernt sich Sprache dann immer weiter von diesem Zustand hin zu der Situation, wie sie in der Gegenwart konstatiert und kritisiert wird: Gefühle und ihr Ausdruck in Sprache unterscheiden sich voneinander – Sprache verliert Authentizität.

Zudem erhält sie eine weitere Bedeutung: In ihr lagert sich die reale Geschichte der Menschheit ab. Durch unterschiedlichen Umgang mit Sprache kann diese den Zugang zum Ursprung sowohl ermöglichen als auch verhindern. Daraus resultiert die neue Aufgabe von Literatur:

Der Literatur wird nun die Aufgabe zugewiesen, gerade die Erfahrung mit der Sprache möglich zu machen, die von der Verlust- und Entfremdungsgeschichte der Sprache unmöglich gemacht worden ist; Literatur simuliert seit Rousseau und Herder die Rückkehr in den Ursprung der Sprache.[9]

Sprache wird so zum „konstitutiven Medium, innerhalb dessen Welterfahrung für den Menschen nur möglich ist“.[10]

Stetter beschreibt die Beliebtheit der Frage nach dem Ursprung der Sprache im 18. Jahrhundert zudem als Folgeerscheinung tief greifender sozialer Veränderungen in den europäischen Gesellschaften, die einher geht mit der politischen Emanzipation des Bürgertums. Demnach sind es die bürgerlichen Philosophen, die Modelle bürgerlicher Verfassungen entwerfen, welche sie dem absolutistischen System entgegensetzen.

So entwirft Rousseau in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755)[11] das Modell eines auf Konventionen gegründeten „état social“, in dem Unrecht und Ungleichheit quasi strukturbedingt vorhanden sind. Diesem Modell steht die Idee des Menschen im Naturzustand gegenüber, wie er vor der Entstehung der neuen Gesellschaftsform existiert habe. Dies impliziert einen Übergang vom natürlichen zum gesellschaftlichen Zustand – der wiederum unvermeidlich die Frage nach dem Ursprung der Sprache als wichtiges Merkmal des modernen Menschen stellt.

Zugleich geht die bürgerliche Aufklärung mit einem Prozess der Säkularisierung einher. Religion war bislang eine der tragenden Säulen des gesellschaftlichen Systems gewesen und nun wird plötzlich die Theologie selbst den Prinzipien rationaler Schriftkritik unterzogen. All diese verschiedenen Aspekte der intellektuellen Debatte finden sich in der Diskussion über den Sprachursprung wieder.

Michel Foucault beschreibt die Beziehung des Menschen zum Ursprung als Zeichen, „qui caractérise à la fois le mode d’être de l’homme et la réflexion qui s'adresse à lui“.[12] Dabei bezeichnet das Ursprüngliche im Menschen nicht den Moment seiner Entstehung oder den ursprünglichsten Punkt seiner Erfahrung:

[…] il [der Ursprung] le lie à ce qui n’a pas le même temps que lui ; et il délivre en lui tout ce qui ne lui est pas contemporain [...] Ce qui s’annonce dans l’immédiat de l’originaire, c’est donc que l’homme est séparé de l’origine qui le rendrait contemporain de sa propre existence [...][13]

Ursprung verleiht dem Menschen also die Möglichkeit, Fähigkeiten in sich wiederzuentdecken und freizusetzen, die ihm im Laufe seiner Entwicklung verloren gegangen sind, die aber nichtsdestotrotz immer noch existent in ihm sind, wie sie es seit seiner Entstehung waren.

So war die Frage nach dem Ursprung der Sprache ein geläufiges Thema im 18. Jahrhundert und es verwundert nicht, dass die Berliner Akademie sie zum Thema ihrer Preisfrage im Jahre 1769 machte, die Herder mit seiner Abhandlung beantwortete.

3 Philosophischer Kontext der Herderschen Sprachursprungsdebatte

Die Frage nach dem Ursprung, der Funktion und der Beschaffenheit der menschlichen Sprache spielt seit jeher eine wichtige Rolle in der Philosophie. Ein Abriss der kompletten Geschichte der Sprachphilosophie bis hin zu Herder würde über den Rahmen dieser Arbeit natürlich hinausgehen. Die Herdersche Sprachursprungsdebatte losgelöst von der historischen Entwicklung der Sprachdebatte zu betrachten hieße jedoch, die notwendige Einbettung wenigstens in einen überschaubaren Zusammenhang zu unterlassen.

Bevor sich diese Arbeit daher konkret mit der Sprachphilosophie und der Ursprungsdebatte Herders beschäftigt, soll kurz auf die jüngste Geschichte der Erkenntnis- und Sprachphilosophie in der Zeit vor Herder eingegangen werden, um seine Überlegungen zumindest in ihrem unmittelbaren zeitlichen Umfeld in einen geistesgeschichtlichen Kontext zu stellen.

Von direkter Bedeutung für Herders Sprachphilosophie waren die Sprachauffassungen des Rationalismus und des Empirismus im 17. und frühen 18. Jahrhundert.[14] Als „Form des Empirismus“[15] ist auch der Sensualismus von essentieller Wichtigkeit für die Herdersche Sprachdiskussion; für das konkrete Problem des Sprachursprungs ist er von noch direkterer Bedeutung als der Empirismus selbst. Er soll ebenfalls in seinen wichtigsten Grundzügen erläutert werden – immer unter dem Gesichtspunkt einer Konzentration auf sprachphilosophische Aspekte. Wichtiger Vertreter des Sensualismus ist Étienne Bonnot de Condillac (1714- 1780), der auch in Herders Abhandlung immer wieder explizit genannt wird – wenn auch in ablehnender Weise. Auch seine Gedanken zum Thema Sprachursprung müssen in dieser Arbeit kurz dargestellt werden.

3.1 Erkenntnisphilosophie, Sprache

3.1.1 Rationalismus

3.1.1.1 Occam, Cusanus

In der Geschichte des Rationalismus und seines Verhältnisses zur Sprache kann man zeitlich weit zurückgehen, wie dies Gaier tut, der seinen Abschnitt über den Rationalismus mit Bemerkungen über Wilhelm von Occam (1270 – 1347) und Nicolaus Cusanus (1401 – 1464) beginnt.

Occam gilt als der bedeutendste Vertreter des Nominalismus, Rudolf Eisler nennt ihn einen der „bedeutendsten Denker des Mittelalters überhaupt“.[16] Occam lässt mehrere Standpunkte oder Arten von Wahrheit zu, die einander durchaus widersprechen können. Darin ähnelt er Herder durchaus; auch er lässt unterschiedliche Arten von „Logiken“ nebeneinander bestehen und betrachtet den Menschen als ein Wesen, das seine verlorene Integrität erst durch die Vereinigung seiner verschiedenen Merkmale und Fähigkeiten wiedererlangen kann. Zwei entscheidende menschliche Eigenschaften sind zum einen der Verstand und zum anderen das Gefühl – zwei Pole, die, gerade in der Diskussion zwischen Rationalisten auf der einen und Empiristen oder Sensualisten auf der anderen Seite, stets als sich gegenseitig ausschließende Kategorien betrachtet wurden.

Herders Vision des Zusammenführens dieser scheinbaren Gegensätze, sein Wunsch, dem Menschen zu seinem eigentlichen, vollständigen Dasein zu verhelfen, wird an späterer Stelle dieser Arbeit noch besprochen und auch im Zusammenhang mit der Form seiner Texte zu einem kongruenten Bild gefügt werden – wie dies in der Forschung erst relativ spät erfolgt ist; lange galten Herders Texte mit ihrer eigenartigen Mischung aus abstrakt-theoretischem und emotional-bildlichem Schreiben als minderwertig im Sinne einer logisch und konsequent zu führenden Argumentation.

Auch Occam lässt Ratio und Intuition als einander fremde, aber sich nicht ausschließende Formen von Wahrheit nebeneinander bestehen:

Eine Theologie als rationelle Wissenschaft ist nicht möglich. An Gott muß einfach geglaubt werden und es muß der Wille zum Glauben bestehen. Von Occam und seinen Anhängern wird die Lehre von der zweifachen Wahrheit - einer philosophischen und einer theologischen, die einander widersprechen können - erneuert.[17]

Die Philosophie des Occamschen Nominalismus geht von einer zunächst sprachfreien, intuitiven Erkenntnis der Dinge aus, die zeitlich erst nach dieser intuitiven Erkenntnis mit Namen versehen werden. Erst deren „extensive Generalisierung“ führt schließlich zu einem allgemein zu verstehenden Begriff von Dingen und Qualitäten. Occam befindet sich mit dieser Ansicht im Widerspruch zur „realistischen“ Auffassung, nach der die Begriffe den göttlichen Schöpfungsideen vorausgehen und somit die Dinge selbst antizipieren und als deren Zeichen auf sie verweisen.

Ebenso widerspricht er dem Konzeptualismus, nach welchem die göttlichen Schöpfungsideen sich zwar in den Dingen selbst befinden, aber nicht vom Menschen als solche erkannt werden. Erst aus der vergleichenden Betrachtung der Dinge können sie demnach hypothetisch abstrahiert werden und sind dabei grundsätzlich dem Zweifel ausgesetzt.

Cusanus löst schließlich das Problem der unterschiedlichen Sichtweisen auf, indem er zwei getrennte Schöpfungsprozesse annimmt - ebenso wie zwei Formen der Erkenntnis und der Sprache. Demnach ist die von Gott geschaffene

Welt […] gleichsam stimmhafter Laut, in dem er das geistige Wort verschiedenartig widerstrahlen läßt, so daß alles sinnlich Erfahrbare gleichsam Reden sind, verschiedenartig ausgesprochen, ausgefalten von Gottvater durch das Sohn-Wort im Geist von allem.[18]

Diese Rede Gottes durch die Schöpfung ist jedoch für den Menschen mit seiner ihm innewohnenden Erkenntnisfähigkeit nicht zu erschließen – zu ungenau sind seine Begriffe und seine sie bezeichnende Sprache. Dem menschlichen Geist und seinen Kapazitäten entsprechen demnach vielmehr Zahlen, Qualitäten und logische und mathematische Verhältnisse; alles Dinge, die der menschliche Geist selbst erschaffen hat und die er demnach auch begreifen kann:

Mathematische Begriffe, die aus unserem Denken hervorgehen und die wir (als ihr Ursprung) in uns einwohnend erfahren, wissen wir als unsere Vernunftwesenheiten genau, nämlich mit der Genauigkeit, mit der sie aus der Vernunft hervorgehen […] Aber die göttlichen Werke, die aus dem göttlichen Intellekt hervorgehen, bleiben uns, wie sie wirklich sind, unbekannt.[19]

Hier ergibt sich nun die Verbindung zum Rationalismus. Es ist die Unterscheidung zwischen zwei Arten menschlicher Erkenntnis, deren eine eine genaue, von der Ratio hervorgebrachte und ihr damit auch angemessene Erkenntnis ist, und deren andere eine eher als diffus betrachtete Erfahrungserkenntnis darstellt. Dies impliziert einen sprachphilosophischen Aspekt, war doch damit der

Gedanke und die Aufgabe einer wissenschaftlichen Präzisionssprache gesetzt, deren Elemente und Verbindungsgesetze ausschließlich rational gewonnen waren und die nicht nur die exakte Notation des Gedachten, sondern auch die Entdeckung von Fehlern und die Berechnung neuer Erkenntnisse möglich machen sollte.[20]

Hier liegt schon das Fundament etwa für Leibniz’ Idee, eine universal gültige Zeichensprache der Gelehrten zu entwickeln (‚characteristica universalis’, sowie die Verbindung zum Themenkomplex der Diskussion um Wort- und Sprachmissbrauch im 18. Jahrhundert. Die rational ausgerichtete Sprachphilosophie führt zum Rationalismus und seinem prominentesten Vertreter René Descartes.

3.1.1.2 Descartes

Für René Descartes (1596-1650) ist die Sprache das Merkmal, welches den Menschen vom Tier unterscheidet. Dabei gilt es zu beachten, dass Sprache an sich nicht das qualitativ unterscheidende Merkmal des Menschen gegenüber dem Tier ist, sondern nur ein Indikator, ein äußerliches Zeugnis für das eigentlich Andere: die Vernunft. Die Vernunft in Form des unsichtbaren Denkens wird durch die Sprache widergespiegelt und durch sie sinnlich wahrnehmbar gemacht. Der entscheidende Unterschied etwa zu Herders Auffassung ist, dass Descartes dem Sprachzeichen als reinem Kommunikationsinstrument die konstitutive Rolle für das Denken abspricht: Auch wenn das Denken zwar erst durch die Sprache zum „materiellen“ Ausdruck, also zur sinnlichen Wahrnehmbarkeit kommt, so kann das Denken selbst, der Akt der Kognition, dennoch vor dem erst darauf folgenden sprachlichen Ausdruck erfolgen. Kognition an sich ist demzufolge unabhängig von der Hilfe der Zeichen möglich. Herder hingegen wird der Sprache eine größere und fundamentale Rolle einräumen und ihr in Hinsicht auf das Denken eine konstitutive Rolle zusprechen: Denken ist bei Herder ohne Sprache nicht möglich.

Die Getrenntheit von Denkvermögen und Sprache sieht Descartes durch die Existenz unterschiedlicher Sprachen belegt. Vernunft hat für ihn einen allgemeinen, universalen Charakter. Dies gilt seiner Ansicht nach jedoch nicht für die Sprache, da sie je nach den verschiedenen Umständen und Nationen auf verschiedene Weise auftritt – nämlich als unterschiedliche Nationalsprachen. Für Descartes wirkt sich konsequenterweise eine enge Beziehung zwischen sinnlicher Sprache und unkörperlichem Denken negativ auf die Erkenntnistätigkeit aus – ebenso wie die sinnliche Vorstellung.

Der Sprache wird in der Cartesianischen Sprachphilosophie also nur eine recht geringe Bedeutung zuteil, ganz anders als im Empirismus von Thomas Hobbes (1588 – 1679) und John Locke (1632 – 1704).

3.1.2 Empirismus

Auch der Empirismus denkt in seinen sprachphilosophischen Bezügen in gewisser Weise nominalistisch, in dem Sinne, dass nach seiner Auffassung den in der Wahrnehmung gewonnenen Vorstellungen im Nachhinein Worte und Begriffe zugeordnet werden. Jedoch arbeitet er komplexere psychologische Sachverhalte heraus; der individuelle Aspekt im Prozess des Erkenntnisgewinns wird von den empiristischen Denkern herausgestellt: Sie decken „Quellen der subjektiven und individuellen Bestimmung bei der Wahrnehmung und in den Vorstellungsprozessen auf“. Die „angeborenen Ideen“, die der Rationalismus annimmt, werden von den Empiristen abgelehnt. Vielmehr führt eine individuelle Bestimmung im Prozess der Wahrnehmung zu einem „mehr oder weniger einschneidenden Skeptizismus in der Erkenntnistheorie“ und regt an zum „Studium der Seelenkräfte […], die zu jener subjektiven und individuellen Bestimmung führen.“[21]

3.1.2.1 Hobbes

Nicht anders als im Rationalismus ist auch im Empirismus die Sprache zunächst instrumentell definiert. Thomas Hobbes (1588-1679) schreibt dazu:

Vor allem anderen also dienen die Benennungen als Markierungen und Zeichen für unser Gedächtnis. Zum anderen dient die Sprache dazu, dass mehrere Menschen, die dieselben Worte auf irgendeine Art miteinander verbinden und in eine bestimmte Ordnung bringen, sich gegenseitig ihre Eindrücke und Gedanken, ihre Wünsche, Besorgnisse oder sonstigen Leidenschaften übermitteln. Wenn die Worte so genannt werden, werden sie Zeichen genannt.[22]

Von dieser Art der Sprache, also einer in Worten gesprochenen Lautsprache, unterscheidet Hobbes eine innere Sprache von Vorstellungen, Gedanken, den so genannten „train of ideas“:

Unter Gedankengang (train of ideas) verstehe ich das Nacheinander von Gedanken und nenne es, um es gegen das Sprechen abzugrenzen, die Sprache des Geistes.[23]

Diese Unterscheidung einer inneren von einer äußeren Sprache kennzeichnet eine veränderte Sichtweise hinsichtlich der Instrumentalität von Sprache: Der strenge Rationalismus definiert eine eindeutige Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem für alle Sprachbenutzer, im Empirismus wird die sprachliche Instrumentalität zur Zuordnung gemeinsam benutzter Sprachzeichen zu individuell unterschiedlich bestimmten Zeichenketten der inneren Sprache. Dabei gibt es eine natürliche Begrenzung der Divergenzen von individuellen Bedeutungszuweisungen durch den Zwang der Verständigung – da Sprache bei aller unterschiedlichen individuellen Benutzung doch stets ihre kommunikative Funktion zu erfüllen hat.

Dennoch ergibt sich durch den verbleibenden Spielraum feiner unterschiedlicher Bedeutungsnuancen ein verändertes Sprachdenken im Empirismus: Es lässt sich nicht mehr eindeutig vorhersagen, inwieweit ein bestimmtes Wort dazu geeignet ist, bei seinem Adressaten den vom Sprecher beabsichtigen Bedeutungskomplex zu evozieren. Somit ist das Wort an sich nicht mehr nur ein funktionierendes Zeichen, sondern sein „Wesen“ erweitert sich um den Faktor Bedeutung.

Hobbes beschreibt die neue Unvorhersehbarkeit der Wirkung eines Wortes oder auch eines Gedankens wie folgt:

Weil jedoch der Wahrnehmung eines Gegenstandes nicht immer die eines ganz bestimmten anderen folgen muß, sondern sehr unterschiedliche Dinge auf unsere Sinne einwirken, ist es uns keineswegs möglich, vorherzusagen, was für eine Vorstellung sich jeweils auf die vorherige aufbauen wird.[24]

Es spielt also die individuelle Erfahrung eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung von gedanklichen Vorgängen und Bedeutungen. Auch kann sie in ihrer Wirkung eingeschränkt werden – unter dem Druck bestimmter Bedürfnisse oder Interessen.

3.1.2.2 Locke

Auch John Locke (1632-1774) macht als Empirist die Erfahrung zum Ausgangspunkt seiner Philosophie. Locke betrachtet den menschlichen Geist in seinem Urzustand – also vor aller Erkenntnis – als „ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen“[25]. Dieses unbeschriebene Blatt wird durch die Erfahrung mit Eindrücken und Materialien ausgestattet. Hier tritt deutlich der Unterschied zum Rationalismus und seiner Idee von den bereits angeborenen Vorstellungen zutage.

Nach Locke erwirbt der menschliche Geist seine Vorstellungen, Ideen und Begriffe auf zwei Wegen – entweder über die sinnliche Außenwelt oder aber durch die innere Tätigkeit des Geistes. Dabei rufen Gegenstände über die Sinne unterschiedliche Eindrücke hervor, die der Geist aufnimmt und mit denen er operiert. Eine grundlegende Unterscheidung trifft Locke mit der Einführung der Begriffe sensation und reflection. Sensation ist der durch einen äußeren Gegenstand hervorgerufene Sinneseindruck; reflection das Beobachten und Nachdenken mittels innerer Geistesoperationen. Äußere und innere Erfahrungen bilden zusammen die beiden möglichen Quellen von Erkenntnis:

So sind die Eindrücke, die durch Objekte der Umwelt – die für den Geist etwas Äußeres sind – auf unsere Sinne gemacht werden, und des Geistes eigene, auf inneren, ihm eigentümlichen Kräften beruhenden Operationen, die, wenn er selbst über sie nachdenkt, auch ihrerseits Objekte seiner Betrachtung werden […] der Ursprung aller Erkenntnis.[26]

Zwar sind sensation und reflection bei Locke gleichberechtigte Formen der Erkenntnis, dennoch gibt es auch hier eine zumindest zeitliche Hierarchie: Die sensation geht der reflection insofern voran, als zunächst ein sinnlicher Eindruck entstehen muss, bevor anschließend die Operation des Geistes aufgrund der Sinneseindrücke vonstatten gehen kann. Jedoch konstruiert Locke im Verhältnis der beiden Erkenntnisformen keinen kausalen Zusammenhang: Er führt die reflection nicht auf die sensation zurück.

Dae Kweon Kim betont, Locke führe die Entstehung der Sprache auf einen göttlichen Ursprung zurück. Dies kann man sicher so sehen, wenn man folgendes Zitat vom Anfang des Dritten Buches seines Essays betrachtet:

Da Gott den Menschen zu einem geselligen Wesen bestimmt hatte, so erschuf er ihn nicht nur mit der Neigung und versetzte ihn nicht nur in die Notwendigkeit, mit seinen Artgenossen Gemeinschaft zu pflegen, sondern stattete ihn auch mit der Sprache aus, die das hauptsächliche Werkzeug und das gemeinsame Band der Gesellschaft werden sollte.[27]

Die Frage, ob Locke als Vertreter eines göttlichen oder eines menschlichen Sprachursprungs anzusehen ist, wird in der Literatur dennoch unterschiedlich bewertet. Dabei ist strittig, ob, nach Locke, Gott dem Menschen die Sprache als Ganzes oder nur die Fähigkeit zur eigenen Spracherfindung verliehen habe – Letzteres entspricht Herders späterer Position.

Wenige Worte nach letztgenanntem Zitat steht ein Begriff, der vielleicht als entscheidend für die Analyse des Lockeschen Sprachursprungs angesehen werden sollte: „sociable“. Die Betonung der Gabe bzw. Entstehung von Sprache aufgrund gesellschaftlicher Notwendigkeit („necessity“) – zum Zweck der zwischenmenschlichen Verständigung – und die Feststellung, dass Sprache das Band („tie“) der menschlichen Gesellschaft ist, lässt darauf schließen, dass es Locke nicht um die Betonung eines göttlichen Ursprungs geht, sondern darum, dass Sprache aus einer kommunikativen Notwendigkeit heraus entstanden ist.

Dies wiederum bedeutet, dass Locke ein Vorläufer der Position in der bis heute andauernden Sprachursprungsdiskussion ist, welche eben die Sprachentstehung aus einem kommunikativen Bedürfnis heraus erklärt – im Gegensatz zu der Position, die Sprache als in erster Linie auf kognitiven Gegebenheiten basierend betrachtet. Betrachtet man den späteren Konflikt zwischen Herder und Condillac, der paradigmatisch für die bis heute andauernde Uneinigkeit in der Forschung steht, dann wäre Locke auf der Seite von Condillac anzusiedeln. Trabant zeigt auf, wie sich dieser Konflikt zwischen Vertretern der kommunikativen und der kognitiven Position in der Diskussion um den Sprachursprung bis in die heutige Debatte hinein erhalten hat.[28]

Zwar bleibt die Frage, ob Locke ein Vertreter des göttlichen oder des menschlichen Ursprungs von Sprache ist, schwierig zu beantworten. Auch schreibt Kim sehr wohl, dass Locke die kommunikative Funktion von Sprache betont:

Zu­gleich wird die soziale Natur des Menschen hervorgehoben, aus der die Notwendigkeit der Sprache entsteht. Die Sprache dient als das „gemein­same Band der Gesellschaft“ dem gegenseitigen Verkehr der Menschen. Diese kommunikative Funktion stellt Locke als „the chief end of language“ hin.[29]

Jedoch sollte das soziale und kommunikative Element der Lockeschen Theorie noch stärker in den Mittelpunkt gerückt und in die lange Tradition des Streits um den Sprachursprung gestellt werden. Dieser wird später durch die beiden Positionen von Herder auf der einen und Condillac auf der anderen Seite repräsentiert – zwei gegensätzliche Positionen, die sich bis heute gehalten haben. Die herausragende Bedeutung von Lockes Hinweis auf die soziale Komponente von Sprache betont auch Cordula Neis.[30] Neis unterstützt die Ansicht, Locke sei keineswegs als Repräsentant der These des göttlichen Sprachursprungs einzuordnen.[31]

Locke stimmt mit Descartes darin überein, dass die Sprache ein Werkzeug der Kommunikation ist. Jedoch geht er einen entscheidenden Schritt über Descartes hinaus, bereits in jene Richtung, in die auch Herder stoßen wird: Sprache wird als konstitutives Element der menschlichen Natur und Kultur betrachtet, ohne sie ist Denken nicht möglich. Sprache erhält so einen wesentlich größeren und wichtigeren Stellenwert, als dies bislang der Fall gewesen ist.

Eine weitere direkte Verbindung zu Herder findet sich bei Lo>die Menschen, indem sie abstrakte Ideen bilden und diese mit Namen verknüpft im Geist festhalten, ermöglichen, die Dinge gleichsam gruppenweise zu betrachten und zu erörtern. Dies geschieht im Interesse einer leichteren und rascheren Vermehrung und Mitteilung ihrer Kenntnisse.[32]

Dieser Gedanke findet sich bei Herder immer wieder, wie an folgender Stelle der Abhandlung:

Hier hat die Natur eine neue Kette geknüpft, die Überlieferung von Volk zu Volk! „ so haben sich Künste, Wissenschaften, Kultur und Sprache in einer großen Progression Nationen hin verfeinert “ – das feinste Band der Fortbildung, was die Natur gewählet.[33]

Dieser Gedanke ist Herder sehr wichtig, wie an späterer Stelle noch gezeigt wird. Es sei hier nur beispielsweise an die ersten Passagen der Abhandlung erinnert, in welchen sich Herder mit dem Vergleich des Menschen mit dem Tier beschäftigt und als Kontrast zum Menschen – der durch die Sprache sein Wissen weiterreichen und über Generationen hinweg vermehren kann – das Beispiel der Biene anführt:

Die Biene bauet in ihrer Kindheit so, wie im hohen Alter, und wird zu Ende der Welt so bauen, als im Beginn der Schöpfung. Sie sind einzelne Punkte, leuchtende Funken aus dem Licht der Vollkommenheit Gottes, die aber immer einzeln leuchten.[34]

Locke bleibt nicht bei der theoretischen Betrachtung von Sprache stehen, sondern widmet sich auch dem praktischen Sprachproblem. Auch ihm geht es hierbei um den vielzitierten Missbrauch der Worte. Er kritisiert die Unklarheit und Inkonsequenz der zeitgenössischen Schulphilosophie und Metaphysik:

Leute, die sorgfältig auf ihre eigenen Ideen achten und sich mit ihrem Denken mehr nach dem Augenschein der Dinge als nach dem Klang der Worte richten, [werden] mit diesen […] Ausdrücken vielleicht einen klaren […] Sinn verbinden; dennoch fürchte ich […] daß der Ausdruck Fähigkeiten […] zu der unklaren Vorstellung verleitet hat, als gäbe es in uns […] handelnde Kräfte, die ihre besonderen Gebiete und Vollmachten hätten […] Dies hat […] zu vielem Streit, zu Unklarheit und Ungewißheit keinen geringen Anlaß gegeben.[35]

Bei Locke, wie auch später im 18. Jahrhundert unter anderem bei Herder, entspringt das Interesse am Ursprung der von Zimmermann beschriebenen Kritik an einem Mangel in der Gegenwart. Dabei verfolgt er das ideale Ziel eines zukünftigen Zustandes. Am Ende der Sprachgeschichte, wie er sie sich vorstellt, steht ein perfektes Verhältnis zwischen Sprache, Realität und menschlichem Wissen:

für J. Locke [ist] die Entwicklung der Sprache lediglich die zeitliche Entfaltung des möglichen menschlichen Wissens; am Ende der Sprachgeschichte steht idealiter ein perfektes Repräsentationsverhältnis zwischen der natürlichen Ordnung der Ideen und der entstandenen Ordnung der Sprache.[36]

Lockes Ausführungen zur Erkenntnistheorie sind für die Sprachursprungsdebatte des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung, wie etwa Neis betont:

Lockes Ausführungen zum Erkenntnisprozess [waren] von entscheidender Bedeutung für die aufklärerische Sprachursprungsdiskussion. Sie stießen auch in den Beiträgen zur Berliner Preisfrage auf Widerhall.[37]

Im Unterschied zu Descartes, der die Existenz verschiedener Einzelsprachen als Beleg für die körperliche Natur der Sprache im Gegensatz zum unkörperlichen Denken betrachtet, erklärt Locke die Diversität der Einzelsprachen im Sinne einer Sprachrelativität des Denkens[38]. Sprache ist somit nicht mehr, wie bei Descartes, Ausdruck der universellen ratio, sondern sie drückt die von Nation zu Nation unterschiedlichen historischen und sozialen Gegebenheiten aus. Auch hier erkennt man eine Verbindung zu Herder, für den die einzelnen Nationalsprachen ebenfalls Ausdruck national-individueller kultureller, klimatischer, sozialer etc. Bedingungen sind.

3.1.3 Sensualismus: Condillac

Von den bislang genannten Philosophen und philosophischen Strömungen hat der Sensualismus Condillacs den direktesten Bezug zur Herderschen Sprachursprungsdebatte. Allein in seiner Abhandlung erwähnt Herder Condillac 14 Mal namentlich. Die Häufigkeit der Nennung eines Namens mag nicht in direkt proportionalem Verhältnis zur Wichtigkeit dieses Namens für den Verfasser eines Textes stehen; es ist dennoch bezeichnend, dass kein einziger der bislang besprochenen Autoren in der Abhandlung namentlich angeführt wird – mit Ausnahme von Hobbes an wenig auffälliger Stelle.[39] Lediglich Rousseau wird häufiger genannt (21 Mal), und ebenso oft der Name von Herders direktem Gegenspieler Johann Peter Süßmilch.

In der Einleitung seiner in sprachphilosophischer Hinsicht bedeutendsten Schrift Essai sur l’origine des connoissances humaines (1746) definiert Condillac die Metaphysik zunächst positiv als „la science qui contribue le plus à rendre l'esprit lumineux, précis et étendu, et qui, par conséquent, doit le préparer à l'étude de toutes les autres [...].“[40] Jedoch unterscheidet er zwei Arten von Metaphysik.

Die zu anspruchsvolle der beiden versuche, das Wesen der Welt bis in ihren Kern hinein zu durchleuchten. Dies kann nach Condillac aber nur zu Irrtümern führen, da mit undeutlichen Begriffen operiert werde. Daher benutzt er als Grundlage seiner Philosophie eine andere Art von Metaphysik, welche die Grenzen des menschlichen Geistes beachte und nur das zu erklären versuche, was sie auch begreifen kann. Erziele diese Metaphysik auch eine geringere Menge an Erkenntnis, so könne sie dennoch durch klare Begriffe und Urteile viele Irrtümer vermeiden.

Viel verdankt Condillac dem Empiristen Locke. Wie dieser, so macht auch Condillac Erfahrung und Beobachtung zu unverzichtbaren Bedingungen seiner Philosophie:

Notre unique objet doit être de consulter l'expérience, et de ne raisonner que d'après des faits que personne ne puisse révoquer en doute.[41]

Bei der Suche nach der Wahrheit beschreitet Condillac deshalb einen anderen Weg als Descartes. Dieser hatte von einem allgemeinen Prinzip auf die einzelne Erkenntnis geschlossen. Condillac hingegen versucht, von der Erkenntnis von Einzelheiten zu einer allgemeinen Ebene vorzudringen:

Si l'on doit donc avoir des principes, ce n'est pas qu'il faille commencer par là pour descendre ensuite à des connoissances moins générales: mais c'est qu'il faut avoir bien étudié les vérités particulières, et s'être élevé d'abstraction en abstraction, jusqu'aux propositions universelles. Ces sortes de principes sont naturellement déterminés par les connoissances particulières qui y ont conduit [...].[42]

Condillac weist unter Bezugnahme auf den Empirismus auch die Idee der angeborenen Vorstellungen zurück. Er beruft sich auf Lockes Vorstellung der dualistischen Erkenntnisquellen, die bei diesem nicht wertend nacheinander geordnet waren, sondern lediglich temporär. Condillac geht in diesem Punkt einen Schritt weiter und macht aus der rein zeitlichen Abfolge zugleich eine wertende, indem er von „premières pensées“ und „secondes pensées“[43] spricht.

Ohne große Veränderung übernimmt Condillac das empiristische Denken seines Lehrers Lo>Ainsi, selon que les objets extérieurs agissent sur nous, nous recevons différentes idées par les sens, et selon que nous réfléchissons sur les opérations que les sensations occasionnent dans notre ame, nous acquérons toutes les idées que nous n'aurions pu recevoir des choses extérieures.[44]

Das Verhältnis von Körper und Seele ist für Condillac stark religiös geprägt. Der entscheidende Wendepunkt in diesem Zusammenhang ist für ihn der Sündenfall. Körper und Seele sind demnach prinzipiell verschiedene Substanzen: Der Körper vertritt Heterogenität und Vielheit, wohingegen für die Seele, als „sujet de la pensée“[45], die Einheit bestimmend ist. Nur in seltenen Fällen bleibt der Körper die Grundlage für Erkenntnis und nur unter bestimmten Umständen hängt die Seele vom Körper ab. Das wiederum bedeutet, dass die Seele ohne Unterstützung der Sinne bzw. vor deren Gebrauch Vorstellungen erwerben kann. Dazu hält sie den Körper nach Belieben unter Kontrolle. Diese beliebige Kontrolle des Körpers durch die Seele, also der Vorrang der Seele vor dem Körper, entspricht dem Zustand vor dem Sündenfall.[46] Nach der Erbsünde kehrt sich das Verhältnis der beiden Substanzen um: Dabei gerät die Seele in eine solche Abhängigkeit vom Körper, dass sie nur noch durch die Vermittlung der Sinne Vorstellungen gewinnen kann. Diese Abhängigkeit der Seele vom Körper ist der hauptsächliche Gegenstand von Condillacs Forschung. Unter dem Vorbehalt, dass es sich bei all diesen Überlegungen um den Zustand nach dem Sündenfall handelt, folgt Condillac somit dem Lockeschen Denken:

Ainsi, quand je dirai que nous n'avons point d'idées qui ne nous viennent des sens, il faut bien se souvenir que je ne parle que de l'état où nous sommes depuis le péché.[47]

[...]


[1] Im Folgenden kurz Abhandlung genannt.

[2] Gesche, Astrid: Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen, S. 33

[3] Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung, S. 3

[4] Heizmann, Bertold: Ursprünglichkeit und Reflexion, S. 4

[5] Vgl. Ebd.

[6] Zimmermann, Christine: Unmittelbarkeit – Theorien über den Ursprung der Musik und der Sprache in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, S. 11

[7] Locke, John, Versuch über den menschlichen Verstand. Band II, S. 119. Vgl. das Original: Lo>

[8] Borgards, Roland: Artikel „Sprachursprung“ in: Metzler Lexikon: Literatur- und Kulturtheorie, S. 594

[9] Ebd.

[10] Flemmer, Walter: Artikel „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, in: Kindlers Neues Literatur-Lexikon, Band 7, S. 708

[11] Im Folgenden kurz Discours genannt.

[12] Foucault, Michel: Les mots et les choses, S. 339

[13] Ebd., S. 342f

[14] Vgl. Irmscher: Johann Gottfried Herder, S. 41

[15] Kirchner, Friedrich (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 601

[16] Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon, S. 509

[17] Ebd., S. 510

[18] Cusanus: De filiatione Dei, S. 77f

[19] Cusanus: De possest, S. 31f

[20] Gaier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, S. 17

[21] Vgl. Gaier, S. 19

[22] Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 22. Vgl. das Original: Hobbes: Leviathan or, The Matter, Form, and Power of a Commonwealth, Ecclesiastical and Civil. S. 19f.

[23] Ebd., S. 15. Vgl. das Original, S. 11

[24] Ebd. Vgl. das Original, S. 12

[25] Locke, Band I, S. 107. Vgl. das Orginal, Vol. I., S. 82

[26] Ebd., S. 125. Vgl. das Orginal, Vol. I., S. 97f

[27] Ebd., Band II, S. 1. Vgl. das Original, Vol. II, S. 158

[28] Vgl. Trabant, Jürgen: Inner Bleating. Trabant sieht in der heutigen Debatte die Befürworter der kognitiven Position in der Person von Noam Chomsky am prominentesten vertreten.

[29] Kim, Dae Kweon: Sprachtheorie im 18. Jahrhundert, S. 46

[30] Vgl. Neis, Cordula: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts, S. 48

[31] Vgl. ebd.

[32] Locke, Band II, S. 25. Vgl. das Original, Vol. II, S. 185

[33] Abhandlung, S. 806

[34] Abhandlung, S. 772

[35] Locke, Band I, S. 282. Vgl. das Orginal, Vol. I., S. 240

[36] Artikel aus Kulturlexikon „Sprachursprung“

[37] Neis, S. 48

[38] Vgl. Neis, S. 49

[39] „nur man wolle den Menschen nach keinem Lieblingssystem umzwingen. Er ist kein Rousseauscher Waldmann: er hat Sprache. Er ist kein Hobbesischer Wolf: er hat eine Familiensprache.“ Abhandlung S. 795f

[40] Condillac, Etienne Bonnot de: Essai sur l’origine des connoissances humaines, S. 3

[41] Ebd., S. 8

[42] Ebd., S. 27

[43] Vgl. ebd., S. 6

[44] Ebd.

[45] Ebd., S. 7

[46] Er erinnert außerdem an die cartesianische These.

[47] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Die Sprachursprungsdebatte bei Johann Gottfried Herder
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Note
1,5
Autor
Jahr
2004
Seiten
98
Katalognummer
V40588
ISBN (eBook)
9783638390767
ISBN (Buch)
9783638737883
Dateigröße
1051 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprachursprungsdebatte, Johann, Gottfried, Herder
Arbeit zitieren
Florian Görner (Autor:in), 2004, Die Sprachursprungsdebatte bei Johann Gottfried Herder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40588

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