Vormoralisches Theoriesegment und ästhetischer Glücksbegriff in Martin Seels Versuch über die Form des Glücks


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

36 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1.) Einleitung

2.) Die theoretischen Annahmen der Seel´schen Glücksethik
2.1.) „Episodisches“ und „übergreifendes Glück“
2.2.) Die Stellung der Teleologie
2.3.) Der „ästhetische Glücksbegriff“

3.) Schlußbemerkung

Bibliographie

1.) Einleitung

Wie glücklich müssen die Alten gewesen sein...!

Die im stoischen Paradoxon gedachte Unerschütterlichkeit des Glaubens, das gelingende Leben (die Eudaimonia) bestehe trotz und entgegen allem, was einem an Unrecht widerfahren mag, weiter, erscheint uns Heutigen als überlebte Weltenferne, als verlassenes Paradies des Denkens, in das kein Weg zurückführt. Ein anderes Paradies hatte Kant vor Augen: „Der Zweck des Paradieses ist es also, daß in ihm gesündigt wird. Anders gesagt: Paradiese, in denen kein Sündenfall möglich ist, gehören – wenn überhaupt – zum Zweckwidrigen in der Welt.“[1]

Die Identifikation des erstrebten Glücks mit dem um dieses Glückes willen gewählten moralischen Handelns ist heute nicht mehr möglich.

Die Kluft, die sich zwischen der antiken Glücksethik und der seit Kant geläufigen traditionellen, deontologischen Pflichtenethik aufgetan hat, ist in neuerer Zeit wieder in das Blickfeld der philosophischen Betrachtung gerückt worden. Aus weitgehend übereinstimmenden Motiven wurde eine „Rehabilitierung der Glücksphilosophie“ (Joachim Schummer) in Angriff genommen, die aus der Erfahrung einer allzu rigiden und paternalistischen, moraltheoretisch-formalen Gängelung heraus versucht, das von Seneca formulierte Moment der Selbstzuschreibung von Glück („Non est beatus, sequi non putat“) neu zu denken. Gleichzeitig setzt sich – in modernen Lesarten der Moral – die Einsicht durch, daß die „Glücksthematik auch – allen philosophischen Abstinenzversuchen zum Trotze – zentral für jede normative Moralphilosophie (ist); und dies in zweierlei Hinsicht: Erstens bleibt unter motivationalen Gesichtspunkten jede Morallehre in dem Maße abstrakt bzw. in ihrer Umsetzung auf externe Zwänge (...) angewiesen, in dem sie mit menschlichem Glücksstreben disharmoniert. Weder rationale Struktur noch rationale Begründung moralischer Prinzipien enthalten für sich bereits motivationale Komponenten. Moralphilosophische Ansätze müssen sich nolens volens auch daran messen lassen, wieweit sie dem menschlichen Glück förderlich oder hinderlich sind. (...) Zweitens ist es unter moraltheoretischen Gesichtspunkten äußerst fragwürdig, ob eine moralphilosophische Position ohne eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs des Guten auskommt, der nicht schon einen minimalen Begriff des guten Lebens und damit des menschlichen Glücks voraussetzt.“[2]

Um einen solchen Begriff geht es auch Martin Seel in seinem „Versuch über die Form des Glücks“.

Es ist klar zu erkennen, daß mit den zitierten Sätzen Schummers das Problem in mehrfacher Hinsicht erst aufgegeben ist:

Zum einen scheint dem menschlichen Glücksstreben eine gleichsam urwüchsige motivationale und geschehensimmanente Virulenz zu besitzen, die einen Geltungsanspruch ganz eigener Art gegenüber allen „nachgetragenen“ moraltheoretischen Begründungen nicht nur vertreten kann, sondern vielmehr gar nicht vertreten muß: Glücks erfahrung braucht keinen Richter. Zum anderen ergeben sich auch innerhalb einer Moraltheorie, die von dieser individuellen Autonomie des Glücksstrebens weiß und sie affirmativ behandelt, divergierende Konsequenzen: Erkennt sie sie an, ist sie gezwungen, ihre normativen Ansprüche zu relativieren. Infolgedessen gibt sie aber ein wichtiges Instrument aus der Hand, genau dieses von ihr als gewollt und erhaltenswert erkannte Gut auch entsprechend – nämlich normativ – zu vertreten.[3]

Der Konflikt zwischen Glück und Moral ist also ein doppelter:

Nicht nur geht potentiell Moral auf Kosten des Glücks, Glück auf Kosten der Moral, schränken sich also beide gegenseitig ein. Auch leidet die Konsistenz einer jeder der beiden Komponenten in sich durch das Vorhandensein der anderen.

Seels Versuch oszilliert dementsprechend auch zwischen dem identitätsorientierten antiken Entwurf Platons und dem auf „Einheit ohne Identität“ zielenden Konzept Kants. Zum „Inbegriff der Moral“ erhebt aber Seel im Gegensatz zu Kants transzendentalem Ansatz nicht „die Idee einer Auflösung des Konflikts zwischen Glück und Moral“[4], sondern gerade die Existenz dieses Konflikts.

Mit großer Umsicht entfaltet Seel eine Analyse, in der er im Sinne eines Bestehens dieses Konflikts nach formalen Kriterien sucht, die es für das Individuum plausibel machen sollen, sich in die unauflösliche Spannung zwischen Glück und Moral zu begeben und sie auszuhalten. Der Konflikt selbst sowie die auf ihn gerichtete Lebensweise der Individuen wird dabei nicht rein teleologisch als durch die Natur vorgegebene, einzig vorhandene Existenzoption verstanden; angestrebt wird vielmehr ein begriffliches Verständnis eines „Spielraums eines weltoffen selbstbestimmten Lebens“[5], das nicht von seinem Ende her als gelungen, sondern im und durch richtig verstandenen prozessualen Vollzug als „gelingend“ betrachtet werden kann. „Glück“ wird in diesem Programm nicht im Sinne von erreichten oder angestrebten Zielen nebst zugehörigen materialen Bestimmungen verstanden, sondern in Hinsicht auf das Auftauchen des Glücksbegriffs in der Moral auf seinen reflexiven Status hin befragt. Die Kernthese lautet: „Der formale Begriff des Guten nämlich gibt an, in welcher Hinsicht wir unser Handeln als moralische Subjekte allgemein müssen rechtfertigen können. (...) Ein formaler Begriff des Guten ist der materiale Kern einer universalistischen Moral.“[6]

Ausschlaggebend für die vorliegende Arbeit ist nun der Anspruch, den Seel an einen solch formalen Begriff des Guten legt: Er solle „nicht schon moralisch umgrenzt“ sein.[7]

Der Tribut, den Seel an Kant entrichtet, besteht darin, die Anerkennung des Glücksstrebens der anderen als Niederschlag des moralisch guten Willens grundsätzlich zu betonen. Dem ethischen Formalismus Kants hingegen will Seel nun paradoxerweise dadurch überschreiten, daß er den inhaltlichen „Bezugspunkt dieser Begründung (der moralischen Einstellung über die Art der Rechtfertigung von Handlungsnormen und ihrer Anwendung; Anm. von mir)“[8] selbst noch einer formalen Bestimmung unterzieht. Im späteren Verlauf dieser Arbeit wird daher zu fragen sein, ob diese Vorgehensweise Seels (die alsbald die „Selbstbestimmung“, wenn auch nicht explizit „moralische Selbstbestimmung“ zur zentralen Lebenspraxis erhebt) möglicherweise zu einer solchen internalistischen Moralauffassung führt, die schon Kant zur Lösung des ethischen Dilemmas (vgl. Anm. 3) in Gestalt eines metaphysischen Dualismus angeboten hatte, und von der Krämer feststellt: „In Kants Konstruktion kommt entweder das Sollen oder das Wollen zu kurz. Nimmt man den Gedanken der Selbstbestimmung ernst, dann läuft das (unbedingte) Sollen leer, nimmt man das unbedingte Sollen als Grunddatum, dann wird Selbstbestimmung fiktiv oder unter der Hand in eine metaphysische Fremdbestimmung verkehrt. Die Fehlerquelle liegt darin, daß die Vorstellung einer kategorischen Selbstverpflichtung widersprüchlich und illusorisch ist.“[9]

Doch um die moralinternen Konsequenzen kann es erst gehen, wenn die Auswirkungen der formalen Bestimmungsweise auf den zu behandelnden Konflikt zwischen Glück und Moral festgestellt sein werden...

Seel versucht den alten Konflikt neu zu denken, indem er Einschränkungen auf beiden Seiten vornimmt. Nicht nur will er die materialen Bestimmungen, die ein wie immer Pflicht und Neigung zusammenführendes „höchstes Gut“ entstehen lassen, relativiert wissen, auch soll innerhalb der moralischen Einstellung ein (inter-)personales Verständnis zum Tragen kommen, das einen Ausgleich zwischen dem selbstempfundenen und dem den anderen zuerkannten Recht, ein gutes Leben zu erstreben, schafft. Die Kernthese hierzu lautet griffig: „Die Spannung zwischen Glück und Moral – das ist die Moral.“ Und, weiter unten: „Der Unterschied zwischen moralischer Einstellung und moralischer Norm ist der Schlüssel zu einer plausiblen Bestimmung des Verhältnisses von Glück und Moral.“[10]

Diese Aussagen Seels sind indes mit einer gewissen Widersprüchlichkeit behaftet:

Wenn einerseits der gesuchte formale Begriff des Guten nicht schon moralisch eingegrenzt sein, andererseits aber der näher zu bestimmende und zu bewahrende Konflikt zwischen widerstreitenden Interessen bezüglich der eigenen und fremden Glücksmöglichkeiten bei den beteiligten Personen sich nur „innerhalb ihres moralischen Bewußtseins“[11] abspielen können soll, dann stellt sich unmittelbar die Frage,

a) wie konsistent ein solch übergreifender Moralbegriff im Bewußtsein des einzelnen noch ist, bzw.
b) welche Rolle ein wie auch immer gearteter Glücksbegriff neben einem derart zwittrigen Moralbegriff spielt.

Hätte dieser Begriff nicht schon von vornherein das jeweils eigene Glücksstreben moralisch kontaminiert und vereinnahmt?

Geht es hier überhaupt noch um einen Konflikt, bei dem das faktisch Erstrebte konfligiert, oder wird nicht vielmehr die Moral in einen Konflikt mit sich selbst verstrickt, bei dem das durch das Individuum erstrebte „Gewünschte“ eigentlich nur in einer moralischen Identifizierung bestehen kann?

Eine derart erzwungene Identität innerhalb einer agonalen Ethik wäre in der Tat, wie Seel richtig auf einen fiktiven Einwand im Sinne Nietzsches oder Foucaults antwortet, eine „Kastrierung des fraglichen Konflikts“[12], jedoch bedeute die Gegenüberstellung von gelebter Moral und erstrebtem Glück noch nicht, daß die begleitende Moraltheorie ebenfalls agonal konzipiert werden müsse. Vielmehr ergebe sich der Konflikt erst, wenn er differenztheoretisch gefaßt werde: „Ein differentielles und agonales Verständnis des Verhältnisses von (erstrebtem) Glück und (gelebter) Moral ist nur aus der Einsicht in den inneren Zusammenhang dieser beiden Orientierungen möglich. Deswegen ist mit Kants Worten zu sagen: Die Einheit zwischen Glücksstreben und moralischer Orientierung darf nicht als Identität, sondern muß aus ihrer Differenz, als ein primär innermoralischer Widerstreit verstanden werden. (...) Erstrebtes Glück und gelebte Moral stellen keine feste, sondern eine jederzeit auflösbare Verbindung dar. Dennoch, in der Vorstellung eines moralischen Ausgleichs zwischen divergierenden Interessen bleibt ein wichtiges Moment des antiken Einheitsgedankens bewahrt. Moral ist auch hier als eine Institution verstanden, die sich um die Einheit von Glück und Gerechtigkeit sorgt. Nur hat diese Einheit jetzt ein völlig anderes Aussehen gewonnen. (...) Glück und Moral, dieses seltsame Paar, können nur miteinander auskommen, solange sie in Scheidung voneinander leben.“[13]

Es könnte so aussehen, als sei das Problem hier schon an sein vorläufiges Ende gestoßen; um bei der Allegorie zu bleiben: Die Moral als „Scheidungsrichterin“ besiegelt getrennte Lebensverhältnisse und Güterverteilung, verfügt den rechtlichen Status der Gemeinschaft und entläßt die ehemals so innig Verbundenen in die neugewonnene Freiheit; erneute Annäherung nicht ausgeschlossen.

Doch so einfach ist es nicht. Denn auch Seel scheint, trotz aller Bemühungen, der notwendigen Konsequenz einer Rückübersetzung der formal gefaßten Bestimmungen in die materialen Gegebenheiten nicht entkommen zu können, wie die Auseinanderlegung des Verhältnisses von „episodischen“ und „übergreifendem Glück“ auf der Basis eines überraschend starken „ästhetischen Glücksbegriffs“ belegt.

Um diesen soll es in der Konsequenz gehen, und zwar ausgehend von folgender Beobachtung:

Entgegen Seels eigener Argumentation, die den ästhetischen Glücksbegriff (in einem weitergehenden Sinne als: „episodisches Glück“) zwar komplementär mit dem „übergreifenden Glück eines gelingenden Lebens“ gebraucht, ihn aber im Sinne einer „Ästhetik der Existenz“ zurückweist, scheint diesem eine höhere methodische Bedeutung zuzukommen, als es der intendierte theoretische Analysestatus erlaubt; denn nicht nur für die Konstruktion eines Arguments gegen eine „rein“ teleologische Betrachtungsweise wird die Glückserfahrung im Augenblick bemüht. Aus dem weiteren Verlauf der Abhandlung ergibt sich auch, daß Seels Versuch, eine universalistische Moral aus dem materialen Kern eines formalen Begriffs des Guten heraus zu verstehen, ohne argumentative Anleihen bei der Ästhetik gar nicht auszukommen können scheint: Hier wird beispielsweise die erfüllte Augenblickserfahrung in ihrer Tendenz zur Transzendierung der eigenen Wünsche gegen einen weiterreichenden Begriff der Wunscherfüllung abgegrenzt, der eine „Kontinuität mit dem bisherigen Wünschen und Wollen“[14] beinhalten soll.

Der ästhetische Glücksbegriff scheint in beiden Fällen eher unbeabsichtigt in das Zentrum einer Betrachtung zu rücken, deren theoretische Ausrichtung doch in eine ganz andere Richtung verweisen will: Nach Seel soll ein „evaluativer“ bzw. „prozessualer Begriff des Guten“ entwickelt werden, der den unvermeidlichen Konflikt zwischen Glück und Moral zu überspannen vermag und dabei erstens episodisches und übergreifendes Glück in einem eben vormoralischen Sinne als gleichgerichtet auffassen kann, bzw. zweitens die Moral erst aus diesem Konflikt heraus versteht. Hierin ist der Versuch auszumachen, die durch die strukturelle Erfahrungsqualität von Glück auftretende kategoriale Vieldimensionalität auf einen einheitlichen moralischen Erfahrungsnenner hin zu nivellieren, gleichzeitig will Seel aber durch seine vormoralischen Anstrengungen die augenblicksorientierte Analyse dazu einsetzen, einen „positiven Begriff der Fragilität“ eines gelingenden Lebens zuzulassen: „ In ihr (der Analyse; Zusatz von mir) ist ein positives Verständnis der Kontingenz allen Glücks gegeben und damit auch ein positives Verständnis der Grenze aller Selbstbestimmung im Sinne der Verwirklichung personaler Konzeptionen des Lebens. Das Glück des erfüllten Augenblicks überschreitet unsere Vorstellungen von unserem Glück – zu unserem Glück.“[15]

Solche Formulierungen klingen seltsam und unnötig gewunden. Spielt hier Seel das Glück gegen sich selbst aus? Wie läßt sich noch ein „Konflikt“ zwischen Glück und Moral inhaltlich denken, bei dem die Augenblickserfahrung „nicht allein ein Korrektiv des pragmatischen Handelns, sondern eine Form der Erfüllung, die neben dem Streben nach Erfüllung steht“ ist, das übergreifende Glück in der moralischen Orientierung aber in der „Entwicklung einer Haltung zu den eigenen Zielen und Zwecken, die es erlaubt, den plötzlichen Abstand vom eigenen Entwurf als glückhafte Erfüllung zu erfahren“[16] besteht? Wird hier nicht der fragliche Konflikt, anstatt neu gewichtet zu werden, schlicht moraltheoretisch dupliziert ?

Die Schwierigkeiten bestehen, soviel sei Seel von vorne herein zugestanden, in der ethischen Dimension des Problems selbst. Selbstverständlich gewinnt das formale „Wie“ vor dem inhaltlichen „Was“ des Habens einer Konzeption des Guten[17] den Vorrang, wenn das Erfüllungsdogma einer durch Teleologie bestimmten Theorie assimiliert wird durch das Inkrafttreten des Augenblick-Glücks. Es bleibt allerdings unter methodischen Gesichtspunkten zu fragen, wie sich Seels vormoralisch-begrifflicher Verständnisanspruch bezüglich des Glücks in der Genesis der materialen Konkretisierung auf die formal begriffene Selbstbestimmung hin verhält.

2.) Die theoretischen Annahmen der Seel´schen Glücksethik

Gesucht wird von Seel ein formaler Begriff des Glücks. Formal

a) in einem reduktionistischen Sinne: Dem Individuum solle „die Freiheit gelassen werden, nach seinen Vorstellungen vom Glück zu leben“[18], andererseits müsse berücksichtigt werden, daß dieses Zugeständnis selbst schon einen „Begriff des existentiellen Gelingens“ enthält, der nicht voraussetzungslos mit eingebracht werden dürfe. Eine philosophische Analyse habe sich demnach dahingehend zu bescheiden, einen „Begriff des Glücks“ zu formulieren, der „allgemeine Konturen der fragilen Balance eines gelingenden Lebens“ umreißt, ohne daß dieser Begriff noch „leer“ sei in dem Sinne, daß nur Bedingungen eines guten Lebens markiert werden, bzw. ohne daß schon Richtlinien im Sinne einer Lebenskunst angegeben sind, die glückstheoretisch bestimmte Zustände und Ziele des Lebens über eine „günstigste Form des Lebens“ hinaus favorisieren; und

b) in einem offenen Sinne: Der formalistisch-analytische Zugang zum Glück erlaube auch, daß materiale Bedingungen eines guten Lebens formuliert werden, die als nicht-formale Bestimmungen in Hinsicht auf den „existentiellen Spielraum, in dem sich das übergreifende Glück eines im ganzen gelingenden Lebens einstellen kann“, zugelassen werden.

Beide Aspekte bilden zusammen den „vormoralischen“ Charakter der Seel´schen Glücksanalyse. Sie hebt methodisch mit einem hypothetischen, kantisch anmutenden „als ob“ an: „Diese Exposition kann am ehesten gelingen, wenn die Glücksanalyse zunächst einmal so betrieben wird, als würde sie ganz um ihrer selbst willen betrieben.“[19] Seel versucht, die moralphilosophischen Konsequenzen erst zu ziehen, wenn die Relevanz der verschiedenen Bedeutungen des Glücksbegriffs hinterfragt, einzeln geprüft und so ein möglichst reicher Begriff des übergreifenden, gelingenden Lebens als gesichert gelten kann.

Mir, das sei an dieser Stelle als Hinweis eingeflochten, geht es um den kritischen Nachvollzug der Seel´schen Analyse methode (die im zentralen, zweiten Text des Buches entfaltet wird) nicht nur deshalb, weil hier das begrifflich interdependente Spannungsfeld zwischen Glück und Moral zur Disposition gestellt wird und nicht schon eine abschließende ethische Synthese des Problems (wie Seel sie im dritten Text unter dem Leitbegriff des „Anerkennungstheorems“ liefert), bzw. (in Text 4) eine normativ eingefaßte Oberthese gegeben wird. Auch scheint mir Seels Stärke (und sein Problem!) darin zu liegen, die individuellen Angriffspunkte des Konflikts zu berücksichtigen und das Wagnis eines moralischen Nichtbestehens auch einzugehen. Man merkt, und das sei ausdrücklich hervorgehoben: Der Konflikt ist bei Seel kein moralisierendes Lippenbekenntnis, der Philosoph trägt sich mit seinem Problem.

Der oben umrissene formale Ansatzpunkt hat indes seine eigene, philosophiegeschichtliche Bedeutung. Der Anspruch Seels, vormoralische Aussagen überhaupt unter der formalen Annahme einer übergreifenden Selbstbestimmung treffen zu können, weiterhin die Möglichkeit, diese Selbstbestimmung postteleologisch „nicht länger lediglich als ein günstiges Mittel zur Erlangung der höchsten Wünsche, sondern selbst als einen zentralen Lebenszweck zu verstehen“[20], beruht auf einer besonderen ethischen Ausgangslage.

In dem Bemühen, jegliche paternalistisch aussehenden Konsequenzen zu vermeiden, geht Seel primär von solchen Bedeutungen des Glücks aus, die noch keiner apriorischen Bestimmung unterzogen sind. In einer Linie mit M. Nussbaum, E. Tugendhat und U. Wolf fragt er an anderer Stelle „aus der hypothetischen Perspektive eines beliebigen einzelnen, was es für sie oder ihn bedeuten kann, nach Wohlergehen und Glück zu streben und Leid, Not, Unglück (soweit es denn geht) zu vermeiden.“ Dabei könne nicht „>>schlicht festgestellt<< werden, was für alle gut ist“, und das Sollen in der Frage: „Wie soll ich leben?“ sei „noch nicht das moralische Sollen, das uns zu einem bestimmten Verhalten untereinander verpflichtet, sondern zunächst nur ein präferentielles Sollen, das sich auf die für die einzelnen günstigste Art der Existenz bezieht.“[21]

[...]


[1] Sommer, in: Bien; S. 133

[2] Schummer, in: ders.; S. 8f.

[3] Hans Krämer hat in „Integrative Ethik“ dieses für die moraltheoretische Betrachtung eintretende ethische Dilemma zwischen dem „Primat des Wollens oder des Sollens“ so beschrieben: „Das >Ich will< und das >Ich soll< können nämlich nicht beide die erste Stelle einnehmen. Wenn das Wollen erstbestimmend ist, können nur noch hypothetische, aber keine kategorischen Imperative folgen. Von einem unbedingten Sollen könnte dann nur um den Preis einer Bedeutungsverschiebung ins Uneigentliche und Metaphorische die Rede sein. Nähme man dagegen die Unbedingtheit ernst, so führte der Gedanke der Selbstverpflichtung zu einer ineffizienten Zirkularität nach Art einer Münchhausiade: Wozu wir uns selbst verpflichten, wäre vom freien Wollen her jederzeit revidierbar und daher nicht letztverbindlich. (...) Setzt man aber aufgrund dieser Sachlage umgekehrt das Sollen als primär an, wie Kant dies von 1787 an mit dem Hinweis auf das >Faktum der Vernunft< (die ursprüngliche Erfahrung des Verpflichtetseins) tut, dann ist nicht mehr einsehbar, welche Rolle die Selbstbestimmung daneben noch spielen könnte.“ (S. 14)

[4] Seel; S. 26

[5] Seel; S. 136

[6] Seel; S. 11

[7] ebenda. Um Mißverständnissen im Kontext mit der im folgenden von mir behandelten Thematik vorzubeugen: Auch wenn es um den ästhetischen Glücks begriff gehen wird, so doch, d‘accord mit Seel, nicht auch schon automatisch um eine tendenzielle, auf mögliche ästhetische Implikationen zielende Interpretation der Tatsache, daß hier die Moral in gewisser Weise auf den Index gestellt wird: „Ein in diesem Sinne >>vormoralisches<< Verständnis von Glück läßt offen, ob und wie weit ein gutes Leben bereits ein moralisch gutes Leben sein muß; in ihm ist über die Stellung des Glücks zur Moral noch nicht entschieden. >>Vormoralisch<< ist also in dieser Verwendung nicht gleichbedeutend mit >>nichtmoralisch<< oder >>amoralisch<<.“ (Anm. 2/Text 2; S. 52)

[8] Seel; S. 11

[9] Krämer, a.a.O.; S. 15

[10] beide Seel; S. 44

[11] Seel; S. 43

[12] vgl. Seel; S. 46

[13] Seel; S. 47f.

[14] Seel; S. 106

[15] Seel; S. 116

[16] alle Zitate Seel; S. 116f.

[17] vgl. Seel; S. 112

[18] vgl., auch das Folgende: Seel; S. 50ff.

[19] Seel; S. 52

[20] Seel; S. 118f.

[21] alle Zitate Seel, in: Schummer; S. 114

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Vormoralisches Theoriesegment und ästhetischer Glücksbegriff in Martin Seels Versuch über die Form des Glücks
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
HS Philosophische Texte zum Begriff des Glücks ; Universität Bonn im WS 00/01
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
36
Katalognummer
V4045
ISBN (eBook)
9783638125154
ISBN (Buch)
9783638851886
Dateigröße
745 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Hauptseminararbeit versucht anhand des zentralen Kapitels in Seels begrifflicher Analyse, die Verhältnismäßigkeit von moralischen und ästhetischen Erkenntnisansätzen gemäß des Themas darzustellen und kritisch zu hinterfragen. 244 KB
Schlagworte
Glück, Glücksethik, ästhetischer Glücksbegriff, Martin Seel, Moral
Arbeit zitieren
M.A. Frederik Schlenk (Autor:in), 2001, Vormoralisches Theoriesegment und ästhetischer Glücksbegriff in Martin Seels Versuch über die Form des Glücks, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4045

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