Sozialstaatsdiskussion - Deutungsmuster und Handlungschancen


Seminar Paper, 2001

27 Pages, Grade: 1,3


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entwicklung staatlicher Sozialpolitik in Deutschland
2.1 Das Soziale und die Gesellschaft in Philosophie und Ideengeschichte
2.2 Entstehung staatlicher Sozialpolitik um Zuge der Industrialisierung
2.3 Das System der soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland

3. Interpretationsansätze des Sozialstaatspostulats
3.1 Vier Interpretationsansätze
3.2. Der bedürftigkeits- und grenzorientierte Interpretationsansatz
3.3. Der bestandssichernder Interpretationsansatz
3.4. Der gerechtigkeitsorientierter Interpretationsansatz
3.5 Der steuerungspolitischer Interpretationsansatz
3.6 Kritische Gegenüberstellung

4. Der deutsche Sozialstaat in der Krise

5. Handlungschancen bei der Umgestaltung des Sozialstaates
5.1 Benchmarking – das Lernen von anderen Staaten
5.2 Grundeinkommen und Grundsicherung
5.3 Ausbau der Wohlfahrtsgesellschaft

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis:

1. Einleitung

Der Ausbau der Bundesrepublik Deutschland zu einem Sozialstaat, dessen Grundlagen schon mit der zur damaligen Zeit singulären Bismarckschen Sozialpolitik zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gelegt wurden, wird als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen überhaupt angesehen.

In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und eines mit der Globalisierung einhergehenden Druckes auf die Lohnnebenkosten werden Finanzierbarkeit und damit auch die Legitimation des bundesdeutschen Sozialstaates zunehmend in Frage gestellt. Weiterhin führen auch demographische Veränderungen zu neuen Herausforderungen im Bereich der Finanzierbarkeit sozialstaatlicher Errungenschaften.

Diese Situation rief die in Wissenschaft und Medien geführte Sozialstaatsdiskussion hervor, in welcher neben radikalen Forderungen nach dem Abbau kostenintensiver Sozialleistungen inzwischen auch immer mehr Möglichkeiten zum zukunftssicheren Umbau des deutschen Sozialstaats vorgetragen werden.

Ausgehend von der Frage „Welchen Schwierigkeiten ist das Sozialstaatsmodell der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig ausgesetzt? Welche Möglichkeiten einer Neugestaltung ergeben sich hieraus?“ wird in dieser Arbeit die gegenwärtige Sozialstaatsdiskussion skizziert.

Voraussetzung zum Verständnis der Diskussion und einer Bewertung der Handlungschancen zur Neugestaltung ist jedoch eine genaue Kenntnis der Grundstruktur des bundesdeutschen Sozialstaatssystems sowie der unterschiedlichen Interpretationsansätze des Sozialstaatspostulats im Grundgesetz. Will man die Relevanz und Bedeutung der sozialstaatlichen Errungenschaften richtig einschätzen, ist ein Grundwissen über die historische Entwicklung hin zum gegenwärtigen Sozialstaat zudem unerlässlich. Die hierzu notwendigen Informationen sollen in dieser Arbeit gegeben werden.

2. Entwicklung staatlicher Sozialpolitik in Deutschland

2.1 Das Soziale und die Gesellschaft in Philosophie und Ideengeschichte

Sucht man in der neuzeitlichen Philosophie nach Grundgedanken, die auch dem heutigen deutschen Sozialstaat zugrunde liegen, so wird man bei den philosophischen Richtungen des Empirismus und der Aufklärung fündig. Hier werden die Grundlagen für das Verständnis von Staat und Gesellschaft und somit für die der Sozialstaatsidee auch heute noch zugrundeliegende Vorstellung vom Verhältnis zwischen individuellen Interessen und den Interessen des Ganzen geschaffen.[1]

Die bedeutenden Vertreter des Empirismus sind Francis Bacon (1561-1626), Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704).

John Locke geht davon aus, dass jeder Mensch von Natur aus seinen eigenen Vorteil anstrebe und auch dazu berechtigt sei, wenn er die Gesetze der Moral beachte. In Fortführung dieses Gedankens schreibt Thomas Hobbes, dass Staat und Herrschaft für den Ausgleich dieser Einzelinteressen zu sorgen hätten.

Bei Hobbes lässt sich weiterhin der Gedanke finden, dass der Souverän ein Interesse an der Wohlfahrt des Bürgers zu haben hätte. Hierin lassen sich erste Vorstellungen von einem sozial aktiven Staat erkennen.

Blickt man nun nach Deutschland so findet man später in der idealistischen Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Formen eines Denkens in Kategorien von Staat und Gesellschaft. Nach Hegel habe die bürgerlich Gesellschaft ihr Mitglied zu schützen und seine Rechte zu verteidigen. Andererseits habe aber auch der Einzelne das Recht dieser Gesellschaft zu respektieren. Dem Staat verbleibt in dieser Denkweise die Aufgabe, die innere und äußere Ordnung zu sichern. Bei Hegel ist der auch heute noch relevante Gedanke von der sozialen Verantwortung der ganzen Gesellschaft[2] zu erkennen.

Weiterhin konstatiert Hegel die Kluft zwischen arm und reich in der Gesellschaft, beschränkt die soziale Funktion der bürgerlichen Gesellschaft auf die Pflicht für die Sorge der Armen. Hierin werden gewisse parallelen zur „herkömmlichen deutschen Sozialpolitik“[3] deutlich, welche auf die Überwindung besonderer Notlagen wie Armut und Krankheit sowie auf Sicherung gegen Alter und Unfälle angelegt ist.[4]

Zu beachten ist hierbei jedoch, dass die hier vorgestellten Ideen keinesfalls als unmittelbar dem gegenwärtigen Sozialstaat zugrundeliegende Gedanken zu betrachten sind. Man kann sie allenfalls als ein erstes Aufgreifen der Problematik des Sozialen und der Gesellschaft in Philosophie und Ideengeschichte interpretieren und dabei wie geschehen Parallelen hervorheben.

2.2 Entstehung staatlicher Sozialpolitik um Zuge der Industrialisierung

Sieht man die Entwicklung der deutschen Sozialpolitik als eine im Zuge des Pauperismus notwendig gewordene Reaktion der Obrigkeit, wie im Verlauf dieser Arbeit noch aufgezeigt wird, so ist an dieser Stelle ein kurzer historischer Überblick notwendig.

Für die Entstehung der sozialstaatlich ausgeprägten europäischen Nationalstaaten kommt der Französischen Revolution eine herausragende Bedeutung zu.[5] Ihr Beitrag dazu liegt in der Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung. Sie zerschlug die alte Feudalstruktur und die ein halbes Jahrtausend alte ständische Ordnung. Der Staat wurde von der Dynastie und Person des Monarchen losgelöst. Mit der Französischen Revolution wurde der Beweis erbracht, dass die Ideen der Aufklärung von den unveräußerlichen Bürger- und Menschenrechten, die Volkssouveränität und die Gewaltenteilung in einem Verfassungsstaat realisierbar sind. Erstmals wurde hier auf dem Kontinent eine parlamentarische Volksvertretung realisiert.[6]

Weiterhin ist zu bemerken, dass die Französische Revolution auf dem Kontinent auch erst dem wirtschaftlichen Liberalismus den Weg bereitete, welcher wiederum die Industrielle Revolution des beginnenden 19. Jahrhunderts und das wirtschaftliche Wachstum ermöglichte. „Dieses Wachstum stellt das wirtschaftliche Fundament zur Beseitigung der sozialstaatlichen Defizite und zur Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates der Neuzeit dar.“[7]

Die mit dem Fortschreiten der Industriellen Revolution und ihrer Phänomene wie Landflucht, Industriearbeit, Kinderarbeit und Arbeitslosigkeit verbundene Herausbildung neuer sozialer Klassen und die damit einhergehende „soziale Frage“ lassen sich als Anstöße der Sozialpolitik des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnen,[8] da die wirtschaftliche und soziale Entwicklung die vorher bestehenden sozialen Sicherungsnetze auf familiärer, lokaler, zünftiger und genossenschaftlicher Ebene überlastete und sie ineffektiv machte.[9]

Diese Sozialpolitik, welche deutliche Grundzüge der auch heute noch in Deutschland praktizierten staatlichen Sozialpolitik trägt, setzt ab den 1880er Jahren ein.

Als Gründungsurkunde des deutschen Sozialstaats gilt die Botschaft Kaiser Wilhelms I. an den Reichstag vom 17.11.1881, in ihr kündigt der Kaiser eine Gesetzesinitiative zur Sozialversicherung an.[10]

1883 wurde dann eine reichsweite Krankenversicherung in Form einer Zwangsversicherung eingerichtet, welche anfänglich nur auf die Arbeiter der gewerblichen Wirtschaft, später dann auch auf die Arbeiter des staatlichen Transport- und Verladegewerbes ausgeweitet wurde. 1891 wurde eine Alters- und Invaliditätsversicherung geschaffen. Hiermit war erstmals die Grundlage einer Altersrente geschaffen.[11] Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle schon erwähnt, dass eine reichsweite Arbeitslosenversicherung erst im Jahr 1927 folgte.

In Verbindung mit diesen von der Regierung Bismarck initiierten sozialstaatlichen Maßnahmen ist jedoch zu bemerken, dass sie keinesfalls den im gegenwärtigen Sozialstaat üblichen Charakter einer Volksversicherung trugen. Auch lagen ihnen nicht unmittelbar sozial-karitative Gedanken zugrunde. Vielmehr lässt sich hier von einer politischen Strategie sprechen, deren Ziel es war die Staatstreue Arbeiterschaft, vor allem die im industriellen Sektor beschäftigten und in den Ballungszentren lebenden Arbeitnehmer, das Industrieproletariat, zu gewährleisten und damit die Anhängerschaft der oppositionellen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu verkleinern. Man konzentrierte sich bei dieser Sozialpolitik nicht auf die Bedürftigen schlechthin sondern auf die politisch „bedrohlichen Bedürftigen“.[12]

Zieht man diese Merkmale in Betracht, so muß man die bismarcksche Sozialpolitik als innovative Sozialpolitik mit konservativer Intention und paternalistischem Charakter bezeichnen.[13] Weiterhin lässt sich die bismarcksche Sozialpolitik zwar als erstmals wirkungsvoll zur Linderung der sozialen Not, jedoch als zur Linderung der „politischen Not“ des Kaiserreichs mit der Sozialdemokratie höchst uneffektiv beschreiben. So boten die durch das Krankenversicherungsgesetz zugelassenen freien Hilfskassen, die von den Versicherten finanziert und verwaltet wurden, die Chance eines legalen Einflusses der Arbeiterschaft. Die Ortskrankenkassen wurden im Kaiserreich zu Hochburgen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.[14]

Im Verlauf verlor das Sozialversicherungssystem mit der Ausweitung seines Einzugsbereichs jedoch seinen konzentrierten Charakter. Es wurden dann dabei auch materiell besser gestellte Arbeiter und Angestellte sowie Hausgewerbetreibende miteinbezogen.

Die Merkmale der Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre sind: Arbeitnehmerversicherung, Pflichtversicherung, nachträglicher Sozialschutz, Rechtsanspruch, Beitragsfinanzierung, Selbstverwaltung und Vielfalt der Versicherungsträger.[15] Im Verlauf dieser Arbeit wird erkennbar, dass jene Merkmale und Grundprinzipien nach wie vor auch für den gegenwärtigen deutschen Sozialstaat prägend sind. Das Leistungsspektrum war auf wenige Risiken und Bevölkerungsgruppen beschränkt, soziale Sicherung beschränkte sich auf abhängig Beschäftigte und ihre Familienangehörigen.[16]

[...]


[1] vgl. Pilz, Frank: Das sozialstaatliche System der Bundesrepublik Deutschland. München: 1978, Seite 18

[2] Solidaritätsprinzip

[3] Pilz, Frank / Ortwein, Heike: Das politische System Deutschlands. München: 1997, Seite 21

[4] vgl. ebenda

[5] vgl. Lampert, Heinz / Bossert, Albrecht: Sozialstaat Deutschland. München 1992, Seite 1

[6] vgl. Lampert, Heinz / Bossert, Albrecht, a.a.O., Seite 6

[7] Lampert, Heinz / Bossert, Albrecht, a.a.O., Seite 7

[8] vgl. Pilz, Frank / Ortwein, Heike, a.a.O. Seite 28

[9] vgl. Schmidt, Manfred G.: Sozialpolitik in Deutschland. Opladen: 1998, Seite 25

[10] vgl. Schmidt, Manfred G., a.a.O., Seite 22

[11] vgl. ebenda

[12] vgl. Schmidt, Manfred G., a.a.O., Seite 23

[13] vgl. Schmidt, Manfred G., a.a.O., Seite 27

[14] vgl. Ritter, Gerhard Albert: Der Sozialstaat. München: 1989, Seite 34

[15] vgl. Schmidt, Manfred G., a.a.O., Seite 23

[16] vgl. Bäcker, Gerhard / Bispinck, Reinhard / Hofemann, Klaus: Sozialpolitik und soziale Lage in der Bundesrepublik Deutschland, Band 1. Wiesbaden: 2000, Seite 27

Excerpt out of 27 pages

Details

Title
Sozialstaatsdiskussion - Deutungsmuster und Handlungschancen
College
Technical University of Braunschweig  (Institut für Sozialwissenschaften)
Grade
1,3
Author
Year
2001
Pages
27
Catalog Number
V404
ISBN (eBook)
9783638102896
File size
421 KB
Language
German
Keywords
Sozialstaat, Reform
Quote paper
Thomas Kahmann (Author), 2001, Sozialstaatsdiskussion - Deutungsmuster und Handlungschancen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/404

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