Das Frauenbild in den Erzählungen Viktorija Tokarevas


Magisterarbeit, 2002

75 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Viktorija Tokareva: Leben und Werk

3 «Ženskaja proza» und «andere Prosa»: Versuch einer Einordnung
3.1 Die «Ženskaja proza» als Frauenliteratur
3.2 Ist die «Ženskaja proza» Teil der «anderen Prosa» ?

4 Textanalyse und Interpretation
4.1 Die Idee
4.2 Die Geschichte
4.3 Die Titel
4.4 Die Struktur
4.5 Die Zeit
4.6 Sprache und Stil
4.6.1 Bildliche Vergleiche und Metaphern
4.7 Leitmotive
4.8 Perspektivierung
4.9 Konzeption der weiblichen Hauptfiguren
4.9.1 Körperliche und sexuelle Gestaltung
4.9.2 Namensgebung
4.9.3 Bezug zu Raum und Zeit
4.9.4 Verbale Kommunikation und Körpersprache
4.9.5 Soziale Beziehungen
4.9.6 Existenzielle Verfassung der Frauen contra Sinngebung der Welt

5 Schlusswort : Haben Tokarevas Frauen eine Perspektive?

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In der vorliegenden Arbeit wird ein Ausschnitt aus dem Werk Viktorija Tokarevas betrachtet. Bei der strukturellen und sprachlichen Analyse werden zunächst die Besonderheiten ihrer Prosa im Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen Inhalt und Form untersucht.

Der Schwerpunkt soll jedoch auf der Darstellung der Frauenfiguren liegen. Dazu sind drei Erzählungen ausgewählt worden, in denen junge Frauen als Hauptfiguren fungieren. Da das Alter der Protagonistinnen eine bedeutende Rolle für die zu untersuchende Ausbildung der Charaktere, die Figurenkonstellation, die gesamten Lebensumstände bis hin zu einer möglichen Perspektive spielt, liegt die Betonung auf 'jung’.

Dazu sei vorweg gesagt, dass sie aufgrund ihrer Jugend zu den Frauen gehören, die V. Tokareva selbst als: «неустроенные женщины»[1] bezeichnet. Die Autorin zieht auch sofort einen Vergleich zu anderen Frauenfiguren, die in ihrem Werk ebenfalls zahlreich auftauchen: « Они как бурлящие реки. А устроенные - стоячие болота.»[2] Ob und wie sich Tokarevas Einschätzung im Verhalten der Frauen in der Handlung der ausgewählten Erzählungen widerspiegelt, wird zu untersuchen sein.

Dazu werden die drei Frauen als Hauptfiguren innerhalb der Geschichte der jeweiligen Erzählung und im Vergleich zueinander betrachtet, wobei Parallelen und Unterschiede aufgedeckt werden. Bei der Untersuchung der Konzeption der Frauenfiguren sind auch ihr Verhältnis zur umgebenden Welt und die darin liegenden, möglichen Konflikte von Interesse. Überlegungen zur Konfliktlösung stehen am Schluss dieser Arbeit.

Zum tieferen Verständnis der Besonderheiten von Tokarevas Erzählungen muss ihr Werk im zeitlichen und kulturhistorischen Kontext gesehen werden. Aus diesem Grund soll als erstes eine Einordnung ihrer Literatur in die russische «Ženskaja proza» erfolgen, die dabei aus zwei Blickwinkeln betrachtet wird: als weibliches Schreiben und als Teil der «anderen Prosa».

Obwohl Viktorija Tokareva seit über vier Jahrzehnten schriftstellerisch tätig ist, gibt es verhältnismäßig wenig ernstzunehmende literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu ihrem Werk. Dabei ist noch ein Unterschied zwischen dem russischsprachigen Raum und dem deutschsprachigen Raum zu machen. Unter den russischen Arbeiten wären L. Zuchovickijs, V. Novikovs und die sich darauf stützende Untersuchung R. Vejlis hervorzuheben. Sie sehen Tokarevas Literatur im Kontext des sowjetischen/russischen Alltags und behandeln die Frage nach dem künstlerischen Wert von 'Alltagsprosa’. Weiterhin untersuchen sie die Gründe für die suggestive Wirkung und Attraktivität solcher Literatur. Der Wert dieser Arbeiten liegt in der aufmerksamen Betrachtung der kulturhistorischen und sozio-kulturellen Aspekte. Bei der Beantwortung der Frage nach dem 'was’ kommt das 'wie’ allerdings etwas zu kurz. Zu Stil und Struktur werden nur allgemeine Beobachtungen geäußert. Ebenso fehlt der literaturwissenschaftliche Vergleich zu anderen zeitgenössischen Autorinnen.

Neben diesen Arbeiten gibt es zahlreiche, in den letzten zwanzig Jahren in führenden russischen Literaturzeitschriften und Zeitungen erschienene Rezensionen, in denen Tokareva im Kontext der «Ženskaja prosa» betrachtet wird. Aus diesen Texten wird ersichtlich, dass russische Literatur­wissenschaftler und Kritiker diesen Begriff immer noch nicht klar definiert haben. Eine fundierte wissenschaftliche Untersuchung mit einem kultur­philosophischen Interpretationsansatz zu diesem Thema liefert T. Rovenskaja.

Unter den sehr wenigen deutschsprachigen Arbeiten zu Tokarevas Werk wären vor allem die Untersuchungen von E. Wolffheim hervorzuheben, deren ausführliche Untersuchung zum Frauenbild bei V. Tokareva in den Materialien des wissenschaftlichen Symposiums in Erfurt im Jahr 1995[3] erschienen ist. Erwähnenswert wären zudem die in den letzten zehn Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Rezensionen (M. Deppermann, H. Schlaffer, P. Demetz, R. Dutli), die im Zusammenhang mit Neuerscheinungen der Erzählbände in deutscher Sprache versucht haben, die erzählerischen Merkmale im Hinblick auf das dargestellte Menschenbild zu umreißen, und Vorbilder dafür in der russischen Literatur zu finden. Diese Rezensionen haben natürlich einen publizistischen, nicht wissenschaftlichen Charakter und zielen darauf, den gebildeten potenziellen Leser anzusprechen.

Obwohl Viktorija Tokareva zu den bekanntesten russischen Gegen­warts­autorinnen gehört und seit über zehn Jahren auch ins Deutsche übersetzt wird, ist ihr Bekanntheitsgrad im deutschsprachigen Raum gering. Da es wohl nicht sinnvoll ist, sich mit der Suche nach Gründen aufzuhalten, möchte ich mit der vorliegenden Arbeit einen Teil dazu beitragen, dieser Situation Abhilfe zu schaffen.

2 Viktorija Tokareva: Leben und Werk

«Литературное творчество- это сильнейший инстинкт...Литература всегда была образом жизни,...»[4]. So empfindet Viktorija Tokareva ihr Wirken als Schriftstellerin. Doch nicht nur das Schreiben an sich ist Eingebung - auch das Thema ist vorprogrammiert. « Моя тема- тоска по идеалу.»[5]

Daran hat sich seit Jahrzehnten wohl nichts geändert. Tokareva gehört seit den siebziger Jahren zu den bekanntesten und meistgelesenen Autoren in der Sowjetunion und nun in Russland, sowie zu den populärsten russischen Autorinnen im Ausland. Seit fast vierzig Jahren fließen unzählige Erzählungen aus ihrer Feder.

Viktorija Samojlovna Tokareva wurde am 20 November 1937 in einer Ingenieursfamilie in Leningrad geboren. Während des Krieges wurde die Familie in den Ural evakuiert. Nach ihrer Rückkehr schloss Tokareva die Hauptschule ab, bevor sie von 1956 bis1960 eine vierjährige Ausbildung an einer Musikschule absolvierte. Nach ihrer frühen Heirat zog sie zu ihrem Ehemann nach Moskau und arbeitete von 1961 bis 1964 an einer Musikschule. Der Versuch, in das Literaturinstitut aufgenommen zu werden, schlug fehl. «Но меня холера литературная так ломала, что я решила поступать на сценарный факультет.»[6] Das Studium am VGIK, dass sie von 1964 bis1969 besuchte, war also ein Kompromiss. Schon mit 12 Jahren habe sie bei der Lektüre Čechovs, den sie immer als großes Vorbild gesehen hat, ihre schriftstellerische Berufung gespürt. «Как мне теперь кажется, это было, конечно, с самого начала заложено, как в компьютер информация закладывается. Я родилась с дискеткой писательницы.»[7] Seltsamerweise verwendet Tokareva, die ihre Geschichten immer noch per Hand schreibt («Мне кажется, компьютер что-то забирает.»[8] ), den Vergleich mit der 'Diskette’ und der darauf gespeicherten 'Information’ immer wieder.

In der Studienzeit begann sie zu schreiben. In der Zeitschrift «Molodaja gvardija» erschien 1964 die Erzählung «Den’ bez vranja». Sie handelt von einem Französischlehrer, der nach einem Tag, an dem er kein einziges Mal lügt, beschließt, immer nur noch die Wahrheit zu sagen, um nicht zum Pechvogel zu werden. Das Ende der Geschichte eröffnet mehrere Möglichkeiten. Ein klares Fazit lässt sich nicht ausmachen. Mit dieser ersten Erzählung prägte Tokareva ihren Stil. Außerdem brachte ihr die Veröffentlichung einen solchen Ruhm ein, dass sie eingeladen wurde, Mitglied des Schriftstellerverbandes zu werden. Ihr erstes Buch «О том, чего не было» – ein Band mit Erzählungen - erschien 1969. Danach publizierte sie alle fünf Jahre Sammelbände.

Tokareva war eine der jüngsten Autorinnen, die in den sechziger Jahren debütierten. Der Krieg als Kindheitserlebnis ist zwar noch nicht vergessen, hat aber in ihrem gegenwärtigen Leben keine zentrale Bedeutung mehr. «Das quantitative Verhältnis der Geschlechter ist ausgewogen, so dass die Be­ziehungen zwischen ihnen in den Mittelpunkt treten können.»[9], schreibt Jonscher. Während in den sechziger Jahren häufig Männer als Hauptfiguren fungieren, treten in den Siebzigern Frauen in den Vordergrund. Auch die Berufs­welt, die für die Frauen zunächst gar keine Rolle zu spielen scheint, wird später mehr betont. Doch das Privatleben geht immer vor, die erfüllte Liebes­beziehung ist die Hoffnung und der Sinn der Lebens. Trotz einer klaren traditionellen Rollenverteilung, die im heutigen Russland weitaus selbst­ver­ständlicher ist als im Westen, verändern sich mit der Zeit auch die Ansprüche der Frauen an die Männer. Diese scheinen unerfüllbar zu sein, weshalb es auch bei Tokareva «...keine erfüllte Liebesbeziehung mehr...»[10] gibt.

Bis heute beschränkt sich ihr erzählerisches Werk auf Erzählungen und ‘Povesti’ (abgeleitet von ‘povestvovat’- erzählen). Ein besonderes Merkmal der Povest’, die im Umfang zwischen einer Erzählung und einem Roman liegt, sind oft mehrere voneinander unabhängige Handlungsstränge. Große Verzwei­gungen sind aber nicht Tokarevas Stärke, ungeachtet der Tatsache, dass sie, wie Elsbeth Wolffheim schreibt, im «...Land der Graphomanen...»[11] lebt. Die Gattungsform der Erzählung mag einer der Gründe dafür sein, dass Tokarevas Werk nun schon fast vier Jahrzehnte schafft, die Aufmerksamkeit zu fesseln - in einem Land, dass in dieser Zeit große politische und gesellschaftliche Umbrüche erlebt hat. «Мне кажется, сейчас рассказ оказался более динамичной формой как на любых сломах времен, он часто может выразить содержание романа.»[12], meint der Literaturwissen­schaftler J. Šklovskij. Die Dynamik ist sicherlich ein wichtiger Aspekt der Popularität. Auch die gewaltige Anzahl der erschienenen Erzählungen ist nicht zu unterschätzen.

Nach Abschluss ihres Studiums schrieb Tokareva einige Drehbücher, die auch verfilmt wurden. «Мимино» (mit R. Gabriadze und G. Danelija), «Джентель­мены удачи», «Шла собака по роялю» haben in Russland bereits einen Kultstatus erlangt. «Кино так и не стало моей любовью...»[13], sagt Tokareva. Doch die durch Schnitte entstehende charakteristische Szenenhaftigkeit und markant eingesetzten Dialoge überträgt sie in ihre Erzählungen.

Seit ihren ersten Veröffentlichungen, die nun schon vier Jahrzehnte alt sind, ist sie in Russland als Schriftstellerin präsent. Trotz einer natürlichen Entwicklung unterscheidet sich ihr Schreiben im Vergleich zu ihren Jugendwerken nicht wesentlich: weder gattungstechnisch noch thematisch. Auch die Qualität scheint sich mit der Reife nicht verändert zu haben. Manche Kritiker sprechen bei ihr inzwischen nicht von einer gereiften Schriftstellerin, sondern nur von Routine und Automatismus. Das soll an dieser Stelle nicht bewertet werden, weil sich die vorliegende Arbeit nicht mit ihrem (bisherigen) Gesamtwerk beschäftigt, sondern nur mit einem speziellen Aspekt, dem Bild der Frau.

Fakt ist, dass ihre Erzählungen zeitlos scheinen. Die Nachfrage, die seit Jahrzehnten unverändert hoch ist, beweist, dass Tokarevas Literatur auch nach der Perestrojka nichts an Attraktivität für die russischen Leser eingebüßt hat. In den Jahren 1995 bis 1996 war sie eine der zehn am meisten veröffentlichten Autoren im Land. Im Ausland ist sie erst Anfang der neunziger Jahre entdeckt und übersetzt worden. Ihre ins Deutsche übersetzten Erzählungen werden seit 1991 beim Diogenes Verlag Zürich verlegt. Dort sind bisher zwölf Bände erschienen. Der dtv Taschenbuch Verlag München brachte 1991 einen Erzählband heraus.

Viktorija Tokareva ist bis zum heutigen Tag schriftstellerisch tätig. Sie lebt in Moskau.

3 «Ženskaja proza» und «andere Prosa»: Versuch einer Einordnung

In den russischen Publikationen über Tokareva stößt man immer wieder auf die Bezeichnung «Ženskaja proza». Ihre Literatur wird meistens unter diesen ‘Oberbegriff’ gestellt. Über die Entstehung und die Bedeutung dieses Begriffs gibt es inzwischen eine Reihe von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen. Nichtsdestotrotz wird «Ženskaja proza» in der Publizistik oft mit Trivialliteratur oder mit auf erfolgreichen Massenverkauf ausgerichteten Liebesgeschichten assoziiert. Von der Frage nach den Verkaufserfolgen (die bei Tokareva offen­sichtlich sind – über die Gründe wird gestritten) und der damit verbundenen, in Russland endlosen Diskussion darüber, ob Literatur, die sich gut verkauft, denn wirklich 'gute' Literatur sein kann, möchte ich hier Abstand nehmen.

Mir geht es vielmehr um die Definition, den Inhalt, die Entwicklung des Begriffs «Ženskaja proza» und um den literarischen Kontext, in dem er zu sehen ist, sowie um die Frage, ob und wie sich Tokarevas Literatur hier integrieren lässt.

Die «Ženskaja proza» kann aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: erstens als ‘Prosa von Frauen’, was einen Diskurs über weibliches Schreiben, dessen Formen und inhaltliche Spezifik impliziert. Um sie aber nicht auf eine literarische Geschlechtertrennung zu reduzieren, ist ein zweiter Ansatzpunkt, sie als Teil der «anderen Prosa» im zeitlichen Kontext des russischen literarischen Entwicklungsprozesses zu beleuchten.

3.1 Die «Ženskaja proza» als Frauenliteratur

« Жила-была литература - и вдруг выяснилось, что она бывает мужская и женская.
Кое-кто оказался к такому повороту событий абсолютно не готов, так как еще не осознал, что народ состоит из мужчин и женщин (как минимум). А кто-то наивно полагал, что литература бывает просто или плохая, или хорошая... Но его быстро разубедили. На Западе - с помощью ученых доводов. А у нас и разубеждать никого не пришлось. Слишком привыкли, что общей бани не бывает»[14]

Zunächst soll einmal gesagt werden, dass mit «Ženskaja prosa» hier die von Frauen verfasste Prosa gemeint ist. Das mag eine Tautologie sein. Aber in Anbetracht der zahlreichen Auslegungen und Interpretationen dieses Begriffs und besonders den damit zusammenhängenden vorgefassten Wertungen muss diese Tautologie ausdrücklich formuliert werden. «Ženskaja literatura» und «Ženskaja proza» werden synonymisch gebraucht.

Die Bezeichnung «Ženskaja prosa» tauchte zum ersten Mal in den 70-er Jahren im Rahmen der ‘neuen literarischen Welle’ auf, obwohl die Anfänge der Frauenliteratur schon in den Sechzigern zu verzeichnen sind. Die zunächst rein geschlechtliche Unterteilung schien eine Reaktion auf Publikationen einer Reihe von Autorinnen in dieser Zeit ( L. Petruševskaja, T. Tolstaja, G. Ščerbakova und V. Tokareva) zu sein. Der Begriff war damals die Umschreibung einer Erscheinung. Als Ursache für diese Erscheinung sieht B. Jonscher das gewachsene Qualifikationsniveau von Frauen. Sie sagt: «Das in diesem Ausmaß bisher nicht vorhandene weibliche geistige Potential vermag die spezifische Situation von Frauen in der Gesellschaft darzustellen und zu reflektieren.»[15]

Erst Ende der achtziger - Anfang der neunziger Jahre wurde die Existenz der «Ženskaja proza» von Kritikern anerkannt. Sie nahm ihren Platz im literarischen Entwicklungsprozeß der achtziger und neunziger Jahre ein. Die neun erschienenen Sammelbände, in denen die Schriftstellerinnen das Vorwort zu ihren Werken selbst geschrieben haben, gelten als ‘ästhetische Manifeste’. Sie zeugen vom Bestreben der Autorinnen, eine künstlerische Einheit zu erreichen. Das gibt der «Ženskaja proza» die Grundlage, als kulturelles Phänomen zu gelten oder wie Rovenskaja schreibt, als «... проекция коллективного культурного психотворчества»[16]. Analogien dazu gab es in der russischen Kulturgeschichte nicht. Bis zum Ende der 60-er Jahre beschränkte sich die Aktivität und Rolle der Schriftstellerin als kulturelle Autorität auf die ‘Salons’. Die weibliche Form ‘poetessa’ war dem männlichen ‘poet’ semantisch gesehen nicht gleichwertig. Aus diesem Grund gab es unter den ‘Poetessen’ auch einen Trend, unter männlichem Pseudonym zu schreiben (Anton Krajnij war z.B. Žinaida Gippius).

Weiterhin definiert sich die «Ženskaja proza» aufgrund von folgenden Gemeinsamkeiten: sie zeichnet sich zunächst durch eine hohe Narrativität aus
- die Handlung wird nicht gezeigt, sie wird erzählt. Bei den Gattungsformen überwiegen eindeutig Erzählungen, Kurzgeschichten und Essays. Es herrscht die Meinung, dass Frauen sich lieber kurz fassen und übersichtliche ‘kleine Formen’ dem Roman vorziehen. Diese These taucht nicht nur im russischen Kulturkreis auf.

In der westlichen Literaturwissenschaft wird sie etwas anders formuliert. Hier wird nicht die Erzählung dem Roman gegenübergestellt, sondern Erzählung und Roman dem Drama, dem Epos und dem Gedicht. Erstere sollen von Frauen bevorzugt werden.

I. Weber gibt hierzu auch einen Erklärungsansatz: «Wenn dem Roman eine besondere Rolle zukam, so deshalb, weil er als junge literarische Gattung weniger regelpoetisch festgelegt war (...), und damit leichter durch einen weiblichen Ausdrucks- und Stilwillen zu verändern.»[17] Beide Ansätze lassen sich für den jeweiligen Kulturkreis mit einer Fülle von Beispielen belegen, die Differenzen liegen in den unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Traditionen begründet. Was die literarische Entwicklung in Russland betrifft, so kamen die ‘weniger regelpoetischen’ Gattungen den Autorinnen entgegen, besonders wenn man die «Ženskaja proza» als Teil der «anderen Prosa» sieht, von der hier noch die Rede sein wird.

Interessant ist auch ein anderes Detail: unter den ‘kleinen Formen’ in den Werken der «Ženskaja proza» in Russland als auch in der westlichen Literatur wird besonders häufig die Kurzgeschichte erwähnt. Tatsächlich wählten die russischen Autorinnen hauptsächlich die Form der Erzählung, der Kurzgeschichte oder der Povest’ Tokarevas Prosa ist hierfür das beste Beispiel. Ihre gelungensten Werke zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr knapp gehalten sind. Oft sind es ‘nur’ Episoden. Doch diese Knappheit hat nicht ausschließlich mit dem Inhalt an sich zu tun. Es wird nicht alles ausgesprochen. Doch die Information, die der Leser zwischen den Zeilen wahrnehmen kann, ist oft viel umfassender als der Text an sich.

Weber spricht von der «Short Story- Theorie» und stützt sich dabei auf Untersuchungen von C. Hanson, H. Lee und S.C. Ferguson. Sie sagt: «...dass sich die Form hervorragend eigne, die Subversivkraft des Weiblichen literarisch wirksam werden zu lassen.»[18] Hanson beschäftigte sich auch mit der Poetik der Kurzgeschichte. Sie stellt fest: «...Wörter haben über ihre mimetische und diskursive Kraft hinaus eine Suggestivkraft, mit der die Autorinnen spielen,...».[19] Die Werke der «Ženskaja proza» und speziell Tokarevas betrachtend, möchte ich zur Suggestivkraft noch das von ihr oft verwendete multum non multa – Prinzip hinzufügen.

An dieser Stelle lassen sich Form und Thematik in der «Ženskaja proza» miteinander verbinden. Die oben erwähnte strukturelle Spezifik der ‘kleinen Formen’ geht mit der von den Autorinnen gewählten inhaltlichen Problematik konform. Um diese Tatsache zu verdeutlichen, bietet sich eine Gegenüberstellung und ein Vergleich mit der ‘männlichen’ Literatur an. «Советская - «мужская» по эстетике борьбы со всем миром литература с ее обещаниями коммунистического рая в перспективе симптоматично, упорно не хотела замечать ничего мелкого. Подавай ей гигантские контуры обобщений на горизонте. Все в СССР отличалось врожденной «дальнозоркостью», как выразился культуролог А. Мещеряков. Дальнозоркость советского времени обернулась слепотой к человеку.»[20] Genau an dieser Stelle knüpfen die Frauen an. Sie bilden das Gegenstück zum männlichen Drang zur abstrakten Monumentalität. Sie wenden ihre ganze Aufmerksamkeit mit zuweilen liebevoller Ironie und nüchterner Boden­ständigkeit dem Menschen zu (und nicht nur dem weiblichen Menschen). Dabei verfielen sie allerdings in ihre eigenen Extreme: «Практичное женское стремление выработать, износить каждый сюжет, что называется, до дыр, до основы...»[21], schreibt R. Vejli.

Das soll nicht als Kriegserklärung im literarischen Geschlechterkampf verstanden werden. Es ist die Ergänzung, die zweite Hälfte, die das literarische Ganze bildet. Und wenn man diese Geschlechterteilung hier nicht so versteht, wie A. Barinov[22], nämlich, dass die männliche Monumentalität mit ‘elitär-intellektueller’ Prosa und die weibliche Liebe zum Detail mit Liebes- und Kriminalroman gleichzusetzen ist, so kann die gegenseitige Ergänzung wunderbar produktiv sein.

«Женский ум той поры был конкретен, женский опыт - особенно здесь и теперь - трудно обвинить в умозрительности и абстрактности. Простые вещи, давно потерявшие для мужчин смысл, разом и легко по ходу дела начинали проявлять свои скрытые смыслы.»[23], schreibt Ivanickij.

Die kleinen Dinge des Lebens sind es also, die die Autorinnen bewegen. Und um diese Dinge prägnant zur Sprache zu bringen, wählen sie eine ‘kleine Form’.

Natürlich spiegelt sich in der «Ženskaja proza» spezifisch weibliche Lebenserfahrung, die weibliche Sicht und Reflektion der Welt. Doch die oft gebrauchte Formel ‘von Frauen für Frauen’ möchte ich nur mit einer Einschränkung gebrauchen. Bei der Rezeption können die Leserinnen auf ihren eigenen weiblichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Dadurch fühlen sie sich auch besonders angesprochen. «Собственно, открытая аппеляция к этому опыту и составляет особенность такого типа прозы.»[24], schreibt N. Gerasimova. Für Tokarevas Literatur trifft das durchaus zu. Da aber bei weitem nicht alle Werke, die zur «Ženskaja proza» gezählt werden, ausschließlich typisch weibliche Erfahrungen ansprechen, muß man mit der Verallgemeinerung des ‘Appells’ vorsichtig sein. Denn gerade diese Verallgemeinerung führt zur Formel ‘von Frauen für Frauen’. Die Formel wiederum trennt nicht nur die Autoren von den Autorinnen (wie bereits geschehen), sondern auch die Leserschaft von Anfang an in eine weibliche und männliche. Das ist eine Abgrenzung, die zur Entfremdung führen kann und unnötig ist. Leider scheint die Distanzierung von diesem Schema bis jetzt unmöglich zu sein.

Zurück zur Thematik. Rovenskajas Untersuchungen ergeben einen ganzen Komplex von ‘ästhetischen Aufgaben’, die von den Autorinnen bearbeitet werden: Selbstfindung und Selbstidentifikation, Auseinandersetzung mit beste­henden kulturellen und ideologischen Stereotypen, Traditionen und dem daraus resultierenden Wertesystem sowie den eigenen Komplexen. Die Prosa ist oft naturalistisch, in den meisten Werken lässt sich aber ein Versuch der Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen ausmachen. J. Šklovskij meint: «...произведения тяготеют к ситуации Он и Она, не просто бытовой, а философски- бытовой.»[25] Für die oben diskutierte geschlechtsspezifische Thematik der «Ženskaja proza» ist die Bezeichnung ‘philosophische Alltagsprosa» üblich. Die Protagonist(-innen) sind gewöhnliche Menschen, deren aufmerksam beschriebene Gewöhnlichkeit Thema und Darstellungs­prinzip zugleich ist. Deshalb klingt ‘Alltagsprosa’ einleuchtend. Für den ‘philosophischen Ansatz’ muss es außerdem noch einen Grund geben. In den Schilderungen der alltäglichen Begebenheiten existiert ein zentraler Konflikt zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt. «Бытует представление, что женщины пишут о любви. Это не так. О любви как раз пишут мужчины. Женщины пишут о желании любви, о невозможности любви, об отсутствии любви, но больше всего они пишут об одиночестве и непонимании.»[26], schreibt Trostnikov. Die Komplexe, die auch Rovenskaja erwähnt, bestehen in dem ewigen Gefühl, missverstanden zu werden, was wiederum zu kommunikativer Vereinsamung führt. Die Suche nach Verständnis, die sehr eng mit der Suche nach sich selbst verbunden ist, stellt sich als Lebensaufgabe. Weiblichkeit wird in der «Ženskaja proza» keineswegs ideali­siert. Die Frau wird nicht biologisch, sondern im Kontext sozialer Determi­nation und der daraus erwachsenden Probleme gesehen.

Bei all diesen Gemeinsamkeiten gibt es unter den Autorinnen und Werken natür­lich auch Differenzen. Bemerkenswert ist, dass die «Ženskaja proza». sowohl in den sechziger Jahren als auch heute Schriftstellerinnen unterschied­licher Generationen in sich vereint. Da ist es nur natürlich, dass sie oft gegen­sätzliche Sichtweisen, unterschiedliche Blickwinkel und künstlerische Ausdrucksformen haben. Tendenziell kann man sagen, je jünger die Autorinnen sind, desto weniger werden männliche Werte übernommen und als eigene dargeboten. Bei genauer Analyse werden auch Differenzen in den Schreibstilen offensichtlich. «Тут уж все зависит от стиля.»[27], schreibt G. Juzefovič. Natürlich fällt auch auf, dass die Autorinnen ein unterschiedliches Maß an litera­rischer Begabung besitzen.

Rovenskaja beschreibt die «Ženskaja proza» als Phänomen der ‘multiplen Persönlichkeit, die Teil der Kulturtradition ist. Der Prozess der individuellen Erkundung des eigenen ‘expressiven Ego’ schafft außerdem die Möglichkeit der Integration in die feministische Kultur. Diese wiederum stellt eine zum herrschenden Wertesystem alternative, jedoch gleichwertige Erfahrung dar.

3.2 Ist die «Ženskaja proza» Teil der «anderen Prosa» ?

Das Phänomen der «Ženskaja proza» muss jedoch nicht ausschließlich im Zusammenhang mit der literarischen Geschlechterdifferenzierung gesehen werden, zumal besonders am Anfang die Wissenschaftlichkeit dieses Begriffs von Literaturwissenschaftlern sowie einigen Autoren(-innen) selbst in Frage gestellt wurde: «...разделение литературы по половому признаку вызывает обоснованные подозрения в компетентности исследователя.»[28], schreibt M. Trostnikov. Hier soll versucht werden, ihr Auftauchen in den siebziger Jahren mit der ‘neuen Welle’ der Literatur in Verbindung zu bringen.

«В советское время существовала литература двух видов: «большая», «настоящая», с одной стороны, и «вся остальная» – с другой . »[29], schreibt Juzefovič und L. Kostjukov konkretisiert den Anspruch an die ‘wirkliche’ Litera­tur: «Безобразие и хаос все равно надо передавать красотой и порядком.»[30]

Die ‘wirkliche’, ‘ernsthafte’ Literatur war nicht zur reinen Unterhaltung und Belustigung, sondern zur Aufklärung, Belehrung und geistigen Entwicklung der Leserschaft gedacht. Die Mitgliedschaft im Schriftstellerverband zeugte davon, dass der Autor diesen Anforderungen entsprach. Gemäß der russischen Kulturtradition ist es absolut natürlich, die Literatur und die Schriftsteller als «...строителей общественного сознания...»[31] zu sehen. Da geht soweit, dass ihnen auch die Last der Verantwortung für eine sich verändernde sozio-kultu­relle Situation auferlegt wird. Der Schriftsteller ist zugleich Richter und Be­schützer der ‘Schwachen’, seine Literatur soll als Beispiel für das menschliche Verhalten dienen. Dementsprechend stark ist der Wunsch und Drang der russischen Leser, sich mit den Figuren zu identifizieren. L. Petruševskaja, die ebenfalls in der Zeit des Auftauchens der ‘anderen Prosa’ die literarische Bühne betrat, meint: «Задача литературы, видимо, и состоит в том, чтобы показывать всех, кого обычно презирают, людьми, достойными уважения и жалости. В этом смысле литераторы как бы высоко поднимаются над остальным миром, беря на функцию судей мира и защитников, беря на себя трудное дело нести идею и учить.»

In der Zeit der literarischen Stagnation, als Farblosigkeit, Starrheit, die fehlende Experimentierfreudigkeit und mangelnder Einfallsreichtum der Prosa von Kritikern beklagt wurde, trat nun die sogenannte ‘andere Prosa’ in Erscheinung. «Тогда она и впрямь осознавала себя другой, то есть подчеркнуто, вызывающе альтернативной по отношению и к господствующей морали, и ко всему тому, что считалось у нас собственно литературой.»[32], schreibt S. Čuprinin, einer der Kritiker von damals.

Eine Reihe von neuen männlichen wie weiblichen Namen wurden in einem Zug genannt. Dazu gehörten auch Autorinnen, deren Literatur als «Ženskaja literatura» bezeichnet wurde. Natürlich stellte sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten, die V. Jerofe’ev, J. Aleškovskij, L. Petruševskaja, J. Popov, T. Tolstaja, V. P’ecuch, V. Narbikova haben sollen. Ihre Werke waren vor Beginn der Perestroika dem Leser nur schwer zugänglich. Sie schockierten durch ‘nicht normative’ Lexik, offensichtlichen Erotismus und (un-)moralische Urteile. Nicht in allen Werken aller Autoren(-innen) lassen sich diese Merkmale gleichermaßen finden. Tokareva kann man hier im Gegensatz zu einigen ihrer Kolleginnen nicht wirklich einreihen. Ihre Erzählungen und Povest’ zeichnen sich weder durch sprachliche Tabubrüche, noch durch ausführliche sexuelle Schilderungen aus. Im Gegenteil: ihre Sprache ist einfach und erinnert an Umgangssprache - ist jedoch frei von Non-Standard. In erotischen und intimen Momenten klingt manchmal auch Ironie an, meist übt Tokareva aber höchste Zurückhaltung. Von ‘verbotener Literatur’ kann man in ihrem Fall nicht sprechen.

[...]


[1] Tokareva, V., in „gazeta KoMok“

[2] ebenda

[3] Die Materialien des Symposiums sind in dem Buch von Parnell, Ch.(Hrsg.) zusammengefasst (siehe Literaturverzeichnis)

[4] Tokareva,V., in: „Vecernij klub“

[5] Tokareva,V., in: „Rossijskaja gazeta“

[6] Tokareva, V., in: „Vecernij klub“

[7] Tokareva,V., in: „Argumenty i fakty“

[8] Tokareva,V., in: “Rossijskaja gazeta“

[9] Jonscher, B., S.166

[10] ebenda, S.168

[11] Wolffheim,E.,S.174 in: Tokareva, V.

[12] Šklovskij, J.

[13] Tokareva,V., in: „Vestnik“

[14] Ivanickij, V.G.

[15] Jonscher, B., S. 159

[16] Rovenskaja T.

[17] Weber I., S.8

[18] ebenda, S.53

[19] ebenda, S.54

[20] Ivanickij, V.G.

[21] Vejli, R., S.27, in: Literaturnoje obozrenije, Januar 1993

[22] Barinov, A.J. schreibt in „Ženskij roman Ljudmily Ulickoj“: „...пробирается в тот заповедный уголок человеческой активности, быть в котором по природному мужскому высокомерию, всегда полагалось прерогативой "d homme masculin". Я имею в виду клуб элитарно-интеллектуальной прозы, потому как на ниве любовного романа, детектива, драматургии, женщина- беллетрист давно доказала свои права.“

[23] Ivanickij, V.G.

[24] Gerasimova, N.M.

[25] Šklovskij, J.

[26] Trostnikov,M., in: „Ex-Libris“

[27] Juzefovič,G., in: „Žurnal“

[28] Trostnikov, M., in „Ex-Libris“

[29] Juzefovič, G., in: „Žurnal“

[30] Kostjukov, L., in: Literaturnaja gazeta

[31] Gerasimova, N. M.

[32] Čuprinin,S., in: Literaturnaja gazeta“

Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Das Frauenbild in den Erzählungen Viktorija Tokarevas
Hochschule
Universität Leipzig  (Insitut für Slawistik)
Veranstaltung
keine
Note
2.0
Autor
Jahr
2002
Seiten
75
Katalognummer
V39825
ISBN (eBook)
9783638385008
ISBN (Buch)
9783638723343
Dateigröße
755 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frauenbild, Erzählungen, Viktorija, Tokarevas
Arbeit zitieren
Julia Schatte (Autor:in), 2002, Das Frauenbild in den Erzählungen Viktorija Tokarevas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39825

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