Das Ich, die Wirklichkeit und die Ethnologie


Seminararbeit, 2004

19 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Schein oder Sein

3. Menschliches Erkenntnisvermögen

4. Stabile Erfahrungen

5. Das Gleichnis vom Blinden und dem Elefanten

6. Wissenschaftliche Grenze

7. Kultur und Wirklichkei

8. Der ethnologische Verstehensbegrif

9. Das Verstehen fremder Sinnwelten

10. Die Aufgabe der Wissenschaft?

11. Schlussbetrachtung

12. Quellenverzeichni

Das Ich, die Wirklichkeit und die Ethnologie

1. Einleitung

In meiner ersten Stunde in Psychologie an der Berufsoberschule für Sozialwesen unternahm unser damaliger Lehrer mit uns einen kurzen Ausflug zum Englischen Garten. Er sagte, wir sollen nun aufmerksam durch diesen Park laufen und unsere Sinneseindrücke notieren. Wir gingen alle zur gleichen Zeit am selben Weg entlang und machten dabei unsere Notizen.

Später, als wir wieder im Klassenzimmer waren, verglichen wir das, was jeder von uns wahrgenommen hatte, anhand dieser Notizzettel und unserer Erinnerung. Doch wir mussten feststellen, dass unter ca. 30 Schülern kein einziger dabei war, dessen Wahrnehmungen genau mit denen eines anderen Mitschülers übereingestimmt hatten. Scheinbar konzentrierte sich jeder von uns auf verschiedene Eindrücke, so dass alle nur einen bestimmten Teil der Sinneseindrücke, die uns bei diesem Ausflug geboten waren, aufmerksam wahrgenommen hatten. Während ich auf die uns entgegenkommenden Passanten geachtet habe, haben meine Mitschüler Geräusche, Farben, die Anordnung von Bäumen usw. wahrgenommen.

Unser erstes Thema in Psychologie war also damit eingeleitet und trug passenderweise den Namen: „Die Subjektivität der Wahrnehmung“.

Heute studiere ich Ethnologie im Hauptfach und wieder taucht dieses Thema auf. In der Ethnologie beschäftigt man sich mit verschiedensten Kulturen und Gemeinschaften, deren Lebenspraktiken, Ordnungen und Weltbilder sich oft völlig voneinander unterscheiden. Dabei habe ich mich schon oft gefragt, welches dieser Systeme eingeschlossen unseres, die „Wirklichkeit“ am besten zu beschreiben vermag. Viele mögen glauben, unsere naturwissenschaftliche Erfassung der Wirklichkeit muss die schlechthin Letztgültige sein und weisen demgegenüber Weltbilder, die dieser Wissenschaft zu widersprechen scheinen, als „prälogische“ Denkmuster ab. Aber welche Wirklichkeit beschreibt diese Wissenschaft eigentlich genau?

Ist die naturwissenschaftlich beschriebene Welt die, in der wir uns als Menschen empfinden? Empfinden wir uns wirklich in einem Raum, ausgefüllt von Atomen und Molekülen, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten eine materielle Kulisse bilden?[1]

Auch wenn wir uns dies hin und wieder vorstellen können, ist es wohl nicht das, was wir tagtäglich als Realität empfinden.

Was ist also die Welt, in der wir Menschen uns empfinden und wie kommt sie zustande?

Beim Versuch diese Frage zu beantworten, scheint es wichtig zu sein, dass man nach den Kriterien fragt, durch die unsere menschliche Wahrnehmung und deren Subjektivität erst möglich ist. Dabei ist es notwendig, dass man die eigenen Denkmuster und Anschauungen im Auge behält. Dies impliziert aber auch die Frage nach dem Gültigkeitsanspruch unserer eigenen Wissenschaft.

Ist der Ethnologe, der als teilnehmender Beobachter eine für ihn fremde Kultur verstehen will, nicht in erster Linie, und vor allem Forschersein, als Mensch gefordert? Er lebt mit fremden Menschen, er geht mit ihnen Beziehungen ein und wird mitunter mit Problemen konfrontiert, die ihn existenziell nicht unberührt lassen. Vor allem ist er aber auch durch sein eigenes Wahrnehmungsvermögen, welches selbst schon von unterschiedlichsten Ursachen geprägt wurde, beschränkt. Kann man diesem Menschen glauben, wenn er meint, aus einem rein objektiven Erkenntnisinteresse heraus handeln zu können?

Diese Fragen, die nicht nur im Speziellen ethnologische Probleme ansprechen, sondern auch das wissenschaftliche Selbstverständnis fokussieren, sollen in dieser Arbeit, im bescheidenen Rahmen behandelt werden. Dabei ist es leider nicht möglich die verschiedensten ethnologischen Methoden und deren Grenzen zu erklären, sondern es soll hier hauptsächlich auf grundlegende philosophische Überlegungen zur Wahrnehmung des Menschen, die für das ethnologische Arbeitsfeld von besonderer Bedeutung sind, eingegangen werden.

2. Schein oder Sein?

„Da wir als Kinder auf die Welt kommen und über sinnliche Gegenstände urtheilen, bevor wir den vollen Gebrauch unserer Vernunft erlangt haben, so werden wir durch viele Vorurtheile an der Erkenntnis der Wahrheit gehindert und es scheint kein anderes Mittel dagegen zu geben, als einmal im Leben sich zu entschliessen, an Allem zu zweifeln, wo der geringste Verdacht einer Ungewissheit angetroffen wird.“[2]

Die ersten Überlegungen zum Thema „Wahrnehmung“ gehen in der Geschichte der Philosophie schon sehr weit zurück und sind selbst heute noch aktuell. Aus den Zeiten der Antike ist wohl das Höhlengleichnis von Sokrates das allgemein Bekannteste, das sich mit dem Thema der Wahrnehmung beschäftigt. Demnach sind wir Menschen wie Gefangene, die ihr ganzes Leben lang in einer Höhle gefesselt, nur die von der Sonne an die Höhlenwand geworfenen Schatten sehen können. Da wir außer diesen Schatten noch nie etwas anderes zu sehen bekommen haben, halten wir diese für die wirkliche Welt.[3]

Die philosophische Richtung des Solipsismus behauptet sogar, dass einzig und allein nur das Selbst existiert und alles andere nur ein Gedanke, eine Vorstellung innerhalb des Selbst, also des Bewusstseins ist. Demnach wären Tiere, Pflanzen und unsere Mitmenschen, selbst der eigene Körper, nur ein Konstrukt unserer Einbildung.

Im Hollywood Streifen „Matrix“ wurde diese Überlegung filmisch dargestellt, wenn auch nicht ganz so konsequent durchgezogen, wie das die philosophische Lehre des Solipsismus fordern würde. Die Kernaussage des Films besteht darin, dass jeder Mensch an einen riesigen Computer angeschlossen ist, und nur durch diesen zu den Informationen über die Außenwelt gelangt. Dieser Computer füttert die Sinne und kreiert damit zugleich die Wahrnehmung zu einer programmierten Welt.

Das klingt wohl für die meisten von uns völlig unwahrscheinlich, denn mit unserem Gefühl, also dem Bewusstsein wie wir die Welt erleben, kann diese Vorstellung kaum vereinbart werden. Die alltägliche und meist beständige Erfahrung lehrt uns, dass wir einen Körper besitzen, mit dem wir – in – einer Welt leben.[4] Eine Welt, die sich uns durch die drei Dimensionen des Raumes und einer vierten, der Zeit, darbietet.

Trotzdem könnte es sein, dass der Solipsismus recht hat. Denn diese Behauptung ist weder beweisbar noch widerlegbar.

Raum und Zeit könnten ein Konstrukt oder eine Illusion des Selbst sein.[5]

Folglich ist die einzige wirkliche Sicherheit die uns bleibt, ganz gleich ob der Solipsismus recht hat oder nicht, dass jedes einzelne Individuum den Eindruck hat, in der Welt zu sein.

Auf diesem „Gefühl“ basieren unsere Entscheidungen im Alltagshandeln.[6]

Somit ist es erforderlich, wenn man etwas Grundsätzliches über menschliche Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse erfahren möchte, dass man sich auf eine andere Ebene[7] begibt. Man muss, mit der Idee des Solipsismus im Hinterkopf, beim Zustandekommen unserer Empfindungen ansetzen.

3. Menschliches Erkenntnisvermögen

„wir fühlen ein Bild der Wahrheit

und besitzen nur die Lüge;

wir sind unfähig des absoluten Nicht-Wissens und der sicheren Erkenntnis.“[8]

Es geht also um die Frage wie unsere Empfindungen und damit auch unser Wissen über die Welt zustande kommen.

Diese Frage hat sich Schankara, der als einer der größten Philosophen Indiens gilt, schon ca. 800 n. Chr. gestellt. Auch Kant, der wohl berühmteste Philosoph unseres Landes wollte dies knapp 1000 Jahre später wissen. Beide kamen zunächst zu vergleichbaren Ergebnissen, nämlich, dass wir unsere Erfahrungen nur über die Vermittlung durch die Sinne erhalten. Auch unser eigenes Körperempfinden ist damit gemeint. Was wir Wissen nennen, ist nichts anderes als die Verarbeitung der von den Sinnen gebotenen Informationen. Doch dies bedeutet nicht, dass uns unsere Erfahrung die Dinge in ihrem wahren Wesen zeigt, sondern nur so, wie sie sich unseren Sinnen darbieten, als Erscheinungen also.[9] Die einzige Schnittstelle zwischen unserem Bewusstsein und der Außenwelt[10] sind die Sinne. Diese liefern die Informationen aus welchen wir per Kognition, unsere Bewusstseinsinhalte und somit auch unsere Wahrnehmung zu der Außenwelt konstruieren. Unsere menschliche „Erfahrung der Außenwelt“ kann also nicht als ein Synonym für „Wirklichkeit“ stehen.

Trotzdem ist für die Mehrheit der Menschen der Glaube an die materielle Existenz eine vollständig verinnerlichte, geglaubte und nicht in Frage gestellte Vorstellung. Es wird tatsächlich unreflektiert geglaubt, dass die Außenwelt einen absolut ontologischen Status besitzt.[11] Doch warum ist das so?

[...]


[1] Das ist vielleicht überspitzt ausgedrückt, scheint aber den rein naturwissenschaftlichen Beschreibungen nahe zu kommen.

[2] Descartes, René, (1992), S. 1.

[3] Knorr, Alexander, (2004), S. 271.

[4] Sie ist solange beständig, solange sie „gewöhnlich“ oder „alltäglich“ ist. D. h. ein außeralltägliches Erlebnis, wie z.B. ein Schock, Drogen oder gewisse Techniken (Meditation, Isolationstank), können dieses Gefühl verändern. (siehe dazu: Zehentbauer, Josef (1993), Hutchison, Michael, (1989), Lilly, John, (1984))

[5] Knorr, Alexander, (2004), S. 259.

[6] ebd., S. 258.

[7] Damit ist eine Ebene gemeint, von der aus man die Möglichkeit des Nachvollzugs und der Überprüfung hat. Es handelt sich also um eine Ebene die auch der Wissenschaft zugänglich ist.

[8] Pensées, Blaise Pascal, (o.J.), S. 79.

[9] Störig, Hans Joachim, (2003), S. 84.

[10] Die Außenwelt wird gewöhnlich als die Welt der physikalischen Dinge empfunden und beschrieben. (Knorr, Alexander,(2004), S. 258.)

[11] Knorr, Alexander, (2004), S. 259f.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Das Ich, die Wirklichkeit und die Ethnologie
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Ethnologie und Afrikanistik)
Veranstaltung
Rationalität und Erkenntnis
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V39667
ISBN (eBook)
9783638383837
ISBN (Buch)
9783638802208
Dateigröße
599 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In der EThnologie beschäftigt man sich mit verschiedensten Kulturen und Gemeinschaften, deren Lebenspraktiken, Ordnungen und Weltbilder sich oft völlig voneinander unterscheiden. Dabei habe ich mich schon oft gefragt, welches dieser Systeme eingeschlossen unseres, die "Wirklichkeit" am besten zu beschreiben vermag. Viele mögen glauben, unsere naturwissenschaftl. Erfassung der Wirklichkeit muss die schlechthin Letztgültige sein. In dieser Arbeit soll diese Einstellung kritisch hinterfragt werden.
Schlagworte
Wirklichkeit, Ethnologie, Rationalität, Erkenntnis
Arbeit zitieren
Alexander Grunert (Autor:in), 2004, Das Ich, die Wirklichkeit und die Ethnologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39667

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