Zu: Julio Cortázar - "Der Verfolger"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Rahmenhandlung

3 Charaktere
3.1 Erzähler – Bruno
3.2 Johnny Carter
3.3 Die Marquise (Tica)
3.4 Dedée
3.5 Weitere Personen

4 Diskurse
4.1 Raum / Zeit
4.2 Bibel / Gott
4.3 Jazz und Rebellion

5 Schlusswort

6 Bibliographie

1 Einleitung

Als im Jahr 2004 das “Cortázar-Jahr“ ausgerufen wurde, da durch seinen 20. Todestag und den 80. Geburtstag, den er hätte feiern können, sich in jenem Jahr gleich zwei Termine fanden, diesen Autor zu würdigen und noch einmal in Erinnerung zu rufen, widmete ihm sogar die Le Monde diplomatique einen ganzseitigen Artikel, in dem er zitiert wurde, er selbst habe sich nur sehr wenige Gedanken über die Menschheit gemacht, bis er El Perseguidor schrieb.[1] Zu diesem Zeitpunkt war er bereits fünfundvierzig Jahre alt.

„Onetti hizo mucho más que eso. Esto que te voy a contar lo supe por Dolly Muhr (Dorotea Muhr, la mujer de Onetti). Onetti leyó El perseguidor, se fue al cuarto de baño de su casa y rompió el espejo de un puñetazo.”[2]

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit jener Erzählung, die im Leben des Autors und offensichtlich auch im Leben anderer Menschen, wie die kleine Episode mit Juan Carlos Onetti zeigt, eine derart große Bedeutung hatte.

Nach einem kurzen Überblick über die Rahmenhandlung und die zentralen Personen der Erzählung werden die verschiedenen „metaphysischen Diskurse“, die verschiedenen „Löcher“, um es mit Cortázars Worten zu sagen,[3] beleuchtet und mit dem rebellischen Potential dieser Erzählung und des Jazz, der diese so sehr prägt, einem weiteren Diskurs nachgegangen.

2 Rahmenhandlung

Kurz vor seinem Tod hält sich der Altsaxophonist Johnny Carter, außerordentlich begnadeter Musiker und avantgardistischer Pionier neuer Stilrichtungen (Bebop), quasi mittellos in Paris auf, weil er dort noch einmal die Möglichkeit bekommt, Plattenaufnahmen zu machen und Konzerte zu geben. Körperlich (Alkoholismus, Drogenkonsum) wie auch seelisch (Halluzinationen, psychische Probleme) ist er fast am Ende, was dazu führt, dass sein ohnehin schon schwieriger und unberechenbarer Charakter noch deutlicher zur Geltung kommt. Aus diesem Grunde ist es auch kaum möglich, sich ihm „normal” anzunähern. Bruno, ein europäischer Jazzkritiker und Johnnys Freund und Biograph, beschreibt als Ich-Erzähler Johnnys gegenwärtigen Zustand, seine Ausfälle und die Gespräche, die er bei zahlreichen Begegnungen mit ihm führt. Um seinen Charakter näher zu bringen, erzählt und kommentiert er zusätzlich einige Anekdoten aus Johnnys bisherigem Leben und reflektiert seinen Musik- und Lebensstil als auch seine Psyche. Die Erzählung schließt mit einer nüchternen Reflexion der Nachricht, dass Carter nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten gestorben sei.[4]

3 Charaktere

3.1 Erzähler – Bruno

Der Ich-Erzähler pflegt einen pragmatischen, skeptischen, aber doch für die Suche nach der säkularen Transzendenz außergewöhnlich offenen Stil. Als französischer Jazzkritiker und Biograph Johnny Carters besucht und trifft der Erzähler Bruno Johnny häufig und gibt diese einzelnen Episoden wieder. Es sind nur Begebenheiten und Gespräche, die statt einer zusammenhängenden Handlung die Erzählung prägen.[5]

In diesen Episoden geht Bruno viele Schwankungen seiner Stimmungen durch, in denen seine „racionalidad“ mit Johnnys „irracionalidad“[6] konfrontiert wird. Einerseits sieht er die philosophischen Exkurse und „Ausraster“ seines Freundes aus einer arroganten Distanz,[7] versucht andererseits aber immer wieder, sich auf die stets aufblitzende Genialität einzulassen und sie zu verstehen.[8] Gerade letzteres fällt ihm als eher spießigem Zeitgenossen sehr schwer. Es fällt ihm schwer, über seinen Schatten zu springen, sich den fliegenden Gedanken Johnnys hinzugeben, ohne ihn in seine eigenen herkömmlichen Denkmuster zu pressen, doch ist er selbstkritisch genug, dies zu erkennen.[9]

Gerade diese bewunderte Genialität mit ihren Ausrastern, die ihm in seinem braven kleinbürgerlichen Wesen abgeht, ist es aber auch, die ihn manchmal neiderfüllt auf seine verschwindend kleine, an Kreativität mangelnde Bedeutsamkeit, gar Abhängigkeit als Kritiker gegenüber dem Künstler sehen lässt.[10]

Vom Tod Johnnys und seinen Umständen berichtet er, durch zeitliche und räumliche Distanz mittlerweile emotional abgekühlt, mit der Widergabe eines Briefs von Baby Lennox.

3.2 Johnny Carter

Johnny Carter ist die eigentliche zentrale Figur der Erzählung, der titelgebende Verfolger. Sie bezieht sich in ihrer Konzeption stark auf den berühmten Altsaxophonisten Charlie Parker.[11] Einige Namen wie auch Handlungsmomente sind dem Leben Parkers entnommen:

Lan für Parkers Frau Chan, seine Tochter Pree als Bee, seine Freundin und „Gönnerin“ Baroness Pannonica de Koenigswarter als Marquesa; der Tod seiner Tochter und das anschließende Niederknien vor Bruno,[12] die berühmte und musikgeschichtlich bedeutsame „Lover Man“-Session vom 19. Juli 1946, bei der Parker zusammenbrach[13], der Brand danach in seinem Hotelzimmer, sein anschließender sechsmonatiger Sanatoriumsaufenthalt im Camarillo State Hospital in Kalifornien und der Bericht über seinen Tod im Alter von 34 Jahren als Folge seines Drogen- und Alkoholkonsums in Nicas Apartment am 12. März 1955.

Cortázar verlängerte allerdings die Aufenthaltszeit in Paris seines Protagonisten im Vergleich zum Leben Parkers, der selbst nur zwei mal kurz in Paris war, und verlegte auch einige Ereignisse wie die „Lover Man“-Session oder den Hotelzimmerbrand nach Paris. Aus Parkers Heroinsucht wurde in El Perseguidor exzessiver Marihuanagenuss.

Zur Zeit seines Parisaufenthalts ist Carter körperlich und seelisch fast am Ende und quasi mittellos. Er ist nicht einmal mehr in der Lage, seine vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten. Trotzdem ist er ein überaus genialer Musiker, der es aber nicht schafft, auf sein Saxophon aufzupassen, ein Genie, das zu genial für das schnöde Leben im Mittelmaß der weltlichen Konventionen ist, entsprechend selten auch von seinen Mitmenschen verstanden wird.

Seine Frau und Kinder hat er in den USA zurückgelassen und lebt mit seiner Geliebten Dedée in einem Hotelzimmer.

Johnny Carter ist ein Suchender, ein Verfolger. Er ist auf der Suche nach einer neuen Bewusstseinsstufe, die ihm ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit bringt. Dabei sucht er nicht durch kritische Analyse oder logische Überlegung, als nicht auf rationalem Weg, sondern durch „intuitive Erkenntnis“[14]. Musik und Rausch ergänzen sich auf diesem Weg. Für Johnny ist die Musik zugleich der Weg als auch sein Ausdrucksmittel. Auf die Wege zu eben jener Bewusstseinsstufe wird in dem nachfolgenden Kapitel Diskurse weiter eingegangen.

In einigen Sequenzen verbindet den fiktionalen Musiker Johnny Carter und den Autor Julio Cortázar mehr als die ihnen gemeinsamen Initialen – die die autobiographischen Züge in dieser Figur (und nicht der des Erzählers) ebenfalls ausdrücken. So sagte Cortázar zum Beispiel in einem Interview mit Omar Prego Gadea:

“Vos sabés que en El perseguidor hay un episodio en donde Johnny cuenta cómo el tiempo queda abolido. Bueno, eso es absolutamente autobiográfico.”

Und zur Erklärung, warum er sich bei seiner Hauptfigur auf Charlie Parker bezog:

“La anécdota de ese cuento es la siguiente: a mí me perseguía desde hacía varios meses una historia, un cuento largo, en el que por primera vez yo me enfrentaba con un semejante (...) Me perseguía la idea de ese cuento y al principio con la típica deformación profesional, me dije: "Bueno, el personaje tendría que ser un escritor, un escritor es un tipo problemático". Pero no me decidía porque me parecía aburrido, me parecía un poco tópico tomar un escritor.

Y en ese momento murió Charlie Parker. Yo leí en un diario una pequeña biografía suya -creo que era de Charles Delonnay- en la que se daba una serie de detalles que yo no conocía. Por ejemplo, los períodos de locura que había tenido, cómo había estado internado en Estados Unidos, sus problemas de familia, la muerte de su hija, todo eso. Fue una iluminación. Terminé de leer ese artículo y al otro día o ese mismo día, no me acuerdo, empecé a escribir el cuento. Porque de inmediato sentí que el personaje era él; porque su forma de ser, las anécdotas que yo conocía de él, su música, su inocencia, su ignorancia, toda la complejidad del personaje, era lo que yo había estado buscando... si yo no hubiera leído esa biografía o esa necrológica de Charlie Parker, tal vez no hubiera escrito el cuento. Porque estaba muy perdido, no encontraba al personaje.”[15]

[...]


[1] FAJARDO 2004

[2] CORTÁZAR, PREGO GADEA (1997)

[3] “I accept reality; but I see it as a sort of giant sponge full of holes, and through these holes there is a constant slipping of elements, so-called coincidences that are also called fate, which modify it, unbalance it, change it. That is the moment when I feel that something happening which in my stories takes the shape of the fantastic, of what is called the fantastic.” Bélanger 1987, S. 195
oder mit dem Paradoxon in der Erzählung:
„todo lleno de agujeros” CORTÁZAR, Julio: El Perseguidor. In: Cortázar, Julio: Las armas secretas. Madrid: Edidiones Cátedra, S. 173
Auch im Folgenden beziehen sich sämtliche Seitenangaben auf die Ausgabe der Edición de Susana Jakfalvi. Cátedra 2001. Madrid

[4] Es gibt auch Stimmen, die El Perseguidor als nouvelle bezeichnen.
Siehe z.B. Imo 1981, S. 87:“(...) da alles Erzählte auf einen Höhepunkt hin aufgebaut ist und einzelne bedeutsame Bilder das Geschehen wiedergeben.“

[5] siehe auch IMO 1981, S. 90

[6] CAVALLARI, GARCÍA 1996, S. 269

[7] “(...) lo escucho atentamente, pero sin preocuparme demasiado por lo que dice.” S. 148

[8] “El es la boca y yo la oreja.“ S. 148 “(...) comprendiendo vagamente que tiene razón.” S. 154

[9] „En el fondo somos una banda de egoístas, so pretexto de cuidar a Johnny lo que hacemos es salvar nuestra idea de él.” S. 164 “(...) que Johnny me toca la cara con los dedos y me hace sentir tan infeliz, tan transparente, tan poca cosa con mi buena salud, mi casa, mi mujer, mi prestigio. Mi prestigio, sobre todo. Sobre todo mi prestigio.” S.177

[10] „(...) evangelista soy.“ S. 182 “un crítico, ese hombre que sólo puede vivir de prestade, de las novedades y las decisiones ajena.” S. 184

[11] „In memoriam Ch. P.“ S. 141

[12] bei ihrem nächsten Zusammentreffen nach Prees Tod kniet sich Charlie Parker für 10 Minuten vor Leonard Feather, dem Freund und Jazzkritiker, nieder. vgl. Russel 1972, S. 224

[13] bei Cortázar „Amorous“ S. 169-170 Dazu RUSSEL 1972 S. 211: „Charlie nickte abwesend und meinte, als nächstes wolle er Lover Man probieren. (...) Die Klaviereinleitung von Jimmy Bunn schien kein Ende zu nehmen. Endlich kam Charlies Einsatz, aber er versäumte ihn. Das Altsaxophon kam mit ein paar Takten Verspätung. Charlies Ton war stärker geworden, aber er war scharf und so schmerzerfüllt, dass es einem das Herz brach. In seinen Phrasen spiegelten sich Bitterkeit und Frust der Monate in Kalifornien. Die Töne flossen in einer traurigen, würdigen Erhabenheit, aber Charlie schien nicht als denkender Musiker, sondern nach puren Reflexen zu improvisieren. Das waren die rauen Klänge eines Alptraums, der aus den tiefsten Schichten des Unterbewusstseins empor drang. Noch eine letzte unheimliche spannungsgeladene Phrase, die unvollendet blieb, dann Stille. Alle Anwesenden im Kontrollraum waren erschrocken, verstört und zutiefst berührt.“

[14] IMO 1981, S. 90

[15] CORTÁZAR, PREGO GADEA 1997

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Zu: Julio Cortázar - "Der Verfolger"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Lateinamerika Institut)
Veranstaltung
Cortázar / Borges: Das erzählerische Werk
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
16
Katalognummer
V39573
ISBN (eBook)
9783638383066
ISBN (Buch)
9783638749695
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Julio, Cortázar, Verfolger, Cortázar, Borges, Werk
Arbeit zitieren
Mario Tibussek (Autor:in), 2005, Zu: Julio Cortázar - "Der Verfolger", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39573

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