Zwischen Kunst und Antikunst: Hans Richters 'Vormittagsspuk'


Seminararbeit, 2004

21 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung - Vormittag

2. Der Film als Kunst

3. Sichtbare und unsichtbare Bilder
3.1 Denotationen in Vormittagsspuk
3.2 Konnotationen in Vormittagsspuk
3.2.1 Die Rebellion der Objekte
3.2.2 Die Sicht der Kamera
3.2.3 Richters Montagerhythmus

4. Der Spuk geht weiter

5. Schlusswort - Nachmittag

Literaturverzeichnis

Videoverzeichnis

1. Einleitung – Vormittag

Vormittagsspuk stellt einen Einschnitt im Schaffen des Künstlers Hans Richter dar. Durch den Dadaismus inspiriert, wendet sich Richter vom abstrakten Film ab und stellt sein erstes komplett realverfilmtes Werk her. Im Gegensatz zu seinen bisher streng konstruktivistischen Filmen, zeigt sich hier eine Kombination verschiedener Stilrichtungen – hauptsächlich aus Futurismus, Konstruktivismus und Dadaismus.

Entgegen Richters vorangehenden, rein ästhetisch-funktionell wirkenden Filmen, verfügt Vormittagsspuk über eine narrative Handlung. Die Objekte des Alltags rebellieren gegen den Menschen und bringen die gewohnte Ordnung ins Chaos. Anhand der vielen denotativen und konnotativen Bilder wird in vorliegender Arbeit der Versuch unternommen, eine rhythmische Dramaturgie des Filmes nachzuweisen, sowie eine grundlegende Inhaltsanalyse zu erstellen. Dieser bietet sich ein breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten, denn kaum ein Autor hat sich bislang mit einer tiefgründigen Deutung von Richters Filmen befasst. Besonders Vormittagsspuk wird in der Sekundärliteratur oft nur mit einer oberflächlichen Inhaltsangabe erwähnt. Aufgrund der Fokussierung der Arbeit auf Richters visuelles Schaffen, wird von einer Analyse der auf den Film abgestimm­ten Musik Paul Hindemiths verzichtet.

Hans Richter hatte als langlebiger Dadaist die Gelegenheit, im Nachhinein als Chronist der Bewegung auftreten zu können. Leider äußert er sich in den von ihm verfassten Büchern meist nur über das Werk seiner Kollegen, nicht jedoch über sein eigenes. Aus der Untersuchung von Richters Filmtheorien, insbesondere in „Filmgegner von heute – Filmfreunde von morgen“[1] und „Der Kampf um den Film“[2] lassen sich jedoch viele Schlüsse für die Analyse von Vormittagsspuk ziehen. Für eine abschließende, kurze Betrachtung des Films in seiner rahmenge­benden Entstehung und Rezeption ist weiterhin das Interview von Phillippe Sers[3] mit Richter von großer Hilfe.

2. Der Film als Kunst

„Ohne es eigentlich zu wollen, wurde der Film [ Vormittagsspuk ] ein echtes dadaistisches Dokument. Er zeigte Rebellion der Objekte, der Hüte, Tassen, Krawatten, Schläuche etc. gegen den Menschen. Schließlich stellte sich dann die alte Rangordnung des Menschen-Herrn über die Objekt-Sklaven wieder her. Aber für diese kurze Zeit mag doch ein Zweifel an der Allgemeingültig­keit der gewöhnlichen Subjekt-Objekt-Ordnung im Publikum eingetreten sein.“[4]

Kurz und prägnant erläutert Hans Richter in oben stehendem Zitat das Thema von Vormittagsspuk: Die Menschen sind Herren über die Alltagsgegenstände, ihre Sklaven. Diese erheben sich zu einem Aufstand. Das hier Gezeigte ist also kein „reiner Ulk und Irrwitz“[5], sondern eine Revolution von Sklaven gegen ihren Herrn. Die ironische Haltung der von den Dadaisten produzierten Anti-Kunst und das Aufbegehren gegen die bürgerlichen Konventionen[6] besitzen zwar eine hohe Reichweite im gesamten Film, können jedoch nicht über die Vielzahl anderer künstlerischer Tendenzen in Vormittagsspuk hinwegtäuschen. Die Vielfalt der von Richter in seinem Gesamtwerk nacheinander verwendeten Medien[7] sowie seine Offenheit für die unerwarteten Ausdrucksmöglichkeiten und Strömungen der Kunst[8] sprechen des Weiteren dafür, dass sich Richter zwar auf theoretische Grundsätze berief, sich jedoch niemals nach einer unumstößlich fest reglemen­tierten Kunstrichtung definierte. In Anbetracht der Vielzahl der zeitgenössischen Künstlerbewegungen und deren personellen Verknüpfungen untereinander, wäre dies auch nur schwer möglich gewesen.

So ist die Rahmenhandlung des Films dem Dadaismus zuzuschreiben. Von realen naturwissenschaftlichen Gesetzen losgelöst, schweben vier Melonen über bürger­liche Gärten hinweg.

Durch eine rhythmisch-konstruktivistische Montagetechnik setzt sich aus den gezeigten Bildern eine Handlung zusammen. Der Konstruktivismus ist demnach vielmehr als ein Stilmittel und weniger im Sinne einer Kunstauffassung einzustu­fen.[9] Ein konstruktivistisches Werk, wie Fernand Légers Ballet Méchanique wird unter dieser Ansicht von Richter selbst als „einer der besten dadaistischen Filme“[10] bezeichnet. Richters Begeisterung für Ballet Méchanique manifestiert sich in Vormittagsspuk sehr deutlich: Der Mann, der durch die Montage unent­wegt eine Leiter hoch und runter steigen muss, ist ein Zitat auf Léger, bei dem eine Frau durch den gleichen Montageeffekt viele Male eine Treppe hinaufgeht.[11] Parallelen und Gemeinsamkeiten in den Experimentalfilmen Richters und den Werken seiner Freunde oder Kollegen sind vielerorts auszumachen und drücken gegenseitige Inspiration sowie Wertschätzung aus. Genauso kann z.B. die beim Binden revoltierende Fliege als Zitat auf den sich drehenden Kragen in Man Rays Emak Bakia[12] betrachtet werden. „Ein funktionelles Prinzip, dessen Elemente sich, gleich den Teilen einer Maschine, zu einem logisch aufgebauten Ganzen zusammensetzten“[13] wurde in Vormittagsspuk aufgebaut. Richter verwendet nicht nur verschiedene Objekte, sondern entwickelt aus verschiedenen Filmen entlehnte Bilder zu einer Collage.

„Die Behandlung der Objekte [in Vormittagsspuk entspricht] den Forderungen von Futuristen und Konstruktivisten“[14]. Die große Uhr verliert die Kontrolle über die Zeit, deren Dimension sich aufzulösen scheint, als ein Tablett in Zeitlupe herunterfällt und sich Bewegungen unmotiviert wiederholen. In einer surrealen Synthese vieler Ausdrucksformen entstand also ein Film, der dem Modell eines „absoluten Films“ sehr nahe kommt – ein Film zum Selbstzweck des Films, beruhend auf der Erfindung neuer Zusammenhänge. Bereits dicht am Spielfilm wird Vormittagsspuk von einer rhythmusbestimmten Dramaturgie dominiert. „Denn Rhythmus ist nicht etwas, das hinzugefügt werden könnte, sondern es ist die Grundlage der Filmpoesie selbst.“[15] Diesem Prinzip entsprechend versucht Richter, seinen Film zu montieren, um durch die Kombination von Bildern eine eigene Poesie zu erreichen.

3. Sichtbare und unsichtbare Bilder

Vormittagsspuk ist durch die Montage seiner Einstellungen geprägt. In einem „optischen Gedicht“[16] entstehen Bedeutungen jenseits von Ulk.[17] Erst nach einer Untersuchung der hier gezeigten Bilder lassen sich die hierin enthaltenen konno­tativen Bedeutungen erschließen. Doch bereits anhand der Betrachtung der miteinander verbundenen Einzelbilder lässt sich die Geschichte des Vormittags­spukes erkennen. Die Objekte rebellieren gegen den Menschen und entscheiden sich schließlich doch wieder zur Zusammenarbeit mit ihm. In folgendem Ab­schnitt soll gezeigt werden, dass die Besonderheiten der rebellierenden Gegens­tänd­e sowie der Ablauf der Bilder dabei von elementarer Wichtigkeit sind.

3.1 Denotationen in Vormittagsspuk

In vielen schnell aneinandergereihten Bildern erzählt Richter die Geschichte eines Spukes am Vormittag.

Eine Uhr in der Großaufnahme zeigt 10:00 Uhr an und läuft schnell in 5-Minuten-Schritten bis 11:00 Uhr weiter. Vier Melonen (Hüte) erheben sich aus einem Beet und beginnen zu fliegen. Ein Tablett mit einem Kaffeeservice zerfällt in Zeitlupe vor einer Haustür. Ein Mann bindet sich seine Fliege, diese rutscht jedoch immer wieder zur Seite und löst sich schließlich ganz. In einem Animationstrick dreht sie sich in der Großaufnahme um sich selbst. Eine Zielscheibe wird gezeigt. Ein Mann holt einen Revolver aus dem Revers. Die Kreise auf der Scheibe verschie­ben sich und in einer Collage dreht sich dort der vom Hals gelöste Kopf eines Mannes. In sich abwechselnden Bildern versucht der erste Mann, die Scheibe zu treffen, während sich der Kopf weiter dreht. Ein Revolver fällt mehrmals auf einen weißen Untergrund und beginnt sich dort schrittweise zu drehen. Drei weitere Pistolen erscheinen, stapeln sich nacheinander auf ihm und verschwinden in umgekehrter Reihenfolge wieder. Im anschließenden Bild erscheinen sie noch einmal nebeneinander.

Die Uhr läuft, wieder in 5-Minuten-Schritten, von 11:00 bis 11:45 Uhr weiter. Das Gesicht eines Mannes verdoppelt sich, eines driftet nach links, das andere simultan nach rechts ab. Die Revolver sind in Negativaufnahmen in diversen Positionen zu sehen und drehen sich schließlich zusammen im Kreis. Jeweils spiegelbildlich von rechts und links wird der Abzug der Waffen gezogen. Eben­falls spiegelbildlich hält ein Mann mit der Hand über den Augen Ausschau. Die Hüte fliegen über den Rasen eines Gartens und setzen sich auf Büsche oder die Wiese. Laufende Beine und Arme von Menschen sind bei verkanteter Kamera zu sehen. Wieder halten Männer Ausschau. Eine Gans schaut aus einem Korb heraus und versteckt sich wieder.

Türen und Fenster öffnen und schließen sich. Ein Feuerwehrschlauch rollt von seiner Aufwicklung ab und bewegt sich die Straße entlang. Eine der Melonen tanzt auf einem Wasserstrahl, eine andere wird vom Strahl die Straße entlang geschoben. In rückwärts laufenden Bildern fließt das Wasser in den Schlauch zurück, dieser rollt sich wieder auf. Die Melonen fliegen in ein Fenster hinein (dabei ist der Schatten der Angel, an der die Hüte hängen, kurz zu sehen). Ein Mann und eine Frau kommen aus einer großen Schiebetür hervor. Mehrere Männer lösen sich hinter einem Laternenmast auf. Hände versuchen, die Hüte zu fangen. Ein Ball wird in die Luft geworfen und rollt die Straße hinunter. Vögel fliegen in der Luft. Noch einmal läuft der Film rückwärts ab und einem Strauch „wachsen“ Blätter.

[...]


[1] siehe Richter 1981.

[2] siehe Richter 1979.

[3] siehe Sers 1997.

[4] Richter 1964, 203.

[5] Scheugl 1974, 162.

[6] siehe Scheugl 1974, 162.

[7] siehe Haxthausen 1982, 7.

[8] siehe Szymanski 1982, 5.

[9] siehe Scheugl 1974, 502.

[10] siehe Scheugl 1974, 163.

[11] siehe Buache 1979, 44.

[12] Abbildungen hierzu siehe Richter 1981, 94.

[13] Scheugl 1974, 501.

[14] Scheugl 1974, 746.

[15] Richter 1981, 47.

[16] Toeplitz 1979, 438.

[17] siehe Toeplitz 1979, 438.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Zwischen Kunst und Antikunst: Hans Richters 'Vormittagsspuk'
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Filmwissenschaft)
Veranstaltung
Seminar: Experimentalfilm
Note
1,5
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V39548
ISBN (eBook)
9783638382854
ISBN (Buch)
9783638762625
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit enthält eine ausführliche Analyse von Hans Richters Experimentalfilm "Vormittagsspuk". Sie geht dabei auf die denotativen und konnotativen Ebenen des Films ein und betrachtet das künstlerische Umfeld Hans Richters sowie dessen Strömungen (hauptsächlich Futurismus, Konstruktivismus und Dadaismus). Zudem werden Richters Filmtheorien in "Filmgegner von heute - Filmfreunde von morgen" und "Der Kampf um den Film" auf ihre Bedeutung hin untersucht.
Schlagworte
Zwischen, Kunst, Antikunst, Hans, Richters, Vormittagsspuk, Seminar, Experimentalfilm
Arbeit zitieren
Julius Pöhnert (Autor:in), 2004, Zwischen Kunst und Antikunst: Hans Richters 'Vormittagsspuk', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39548

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