Anarchie: Zur Vorverurteilung eines Begriffsund seiner Anhänger am Beispiel der Haymarket-Affäre 1886 in Chicago


Hausarbeit, 2003

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltverzeichnis

1) Einleitung

2) Die deutschen Anarchisten von Chicago
2.1) Die Vorgeschichte
2.2) Die Bombe
2.3) Die Ermittlungen und der Prozess
2.4) Revision und Rehabilitierung

3) Die Entwicklung des Begriffs Anarchie im allgemeinen Sprachgebrauch

4) Berechtigte Ablehnung einer politischen Strömung?

5) Fazit

6) Anhang

1) Einleitung:

Immer wieder wurden Anarchisten im Laufe der Geschichte diffamiert und aufgrund ihrer politischen Überzeugung verfolgt. Ihnen wurden häufig terroristische Aktionen angelastet, die jedoch fast nie von Anarchisten begangen wurden. Dies führte nicht selten zu ungerechtfertigten Vorverurteilungen durch die Gesellschaft, aber auch durch die staatlichen Institutionen, was oft schwerwiegende Konsequenzen für die Beschuldigten hatte. Aktive Anarchismus-Anhänger mussten häufig langjährige Haftstrafen absitzen oder Ihr Land aufgrund politischer Verfolgung verlassen und wurden sogar ungerechtfertigter Weise zum Tode verurteilt.

Der Begriff Anarchie ist im allgemeinen Sprachgebrauch schon lange mit Chaos, Terror, Gesetzlosigkeit etc. verbunden und wird immer wieder genutzt, um unliebsame Gegner zu diffamieren, obwohl die anarchistische Weltanschauung diese Begriffe ganz und gar nicht beinhaltet.

In dieser Arbeit werde ich am Beispiel der Haymarket-Affäre aufzeigen, dass eine schnelle Vorverurteilung von Anarchisten durch die Justiz immer wieder stattgefunden hat, jedoch nicht aus berechtigten Motiven heraus, sondern aufgrund politischer Machtverhältnisse, die die Machthabenden durch die Anarchisten bedroht sahen.

Es soll gezeigt werden, dass Anarchisten keineswegs Gesetzlose sind, die das Chaos und die Gewalt befürworten. Ich gebe die Abläufe am Haymarket im Mai 1886, sowie die Ermittlungs- und Verhandlungstaktiken von Staatsanwaltschaft und Gericht wieder.

Im besonderen werde ich hier auf die schweren Verfahrensfehler eingehen, an denen deutlich wird, dass die Angeklagten zu Unrecht verurteilt und vier von ihnen sogar gehängt wurden.

Danach stelle ich die Begriffsentwicklung zu „Anarchie“ dar und ziehe Definitionen heran, um schon hier die „falsche“ Verwendung des Begriffs sichtbar zu machen.

Abschließen werden einige anarchistische Grundsätze aufgezeigt und in wie fern Anarchisten sich auf die Gewalt als politisches Mittel berufen und ob die Gleichsetzung von Anarchie und Terrorismus gerechtfertigt ist, oder ob die Verfechter dieser Theorien nicht doch etwas anderes im Sinn haben. Außerdem werde ich Gründe für die immer wiederkehrende Diffamierung suchen.

Die Endergebnisse werden in Teil 6 nochmals zusammengefasst.

2) Die deutschen Anarchisten von Chicago

2.1) Die Vorgeschichte:

Chicago wurde nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861 bis 1865) durch seine Rolle als Eisenbahnknotenpunkt zur Verbindung zwischen Ost und West. Das machte es zu einem ökonomisch strategischem Punkt, der immer mehr Zuwanderer anzog. Ein Großteil der Zugewanderten waren Europäer, vor allem Deutsche. 1873 hatte Chicago 500.000 Einwohner, ein Fünftel davon waren deutsch.[1]

Viele der deutschen Einwanderer waren Anhänger einer sozialistisch geprägten Gedankenwelt und so etablierte sich eine sozialistische Lebensweise in Form von Gewerkschaften, Vereinen und Parteien.

1883 fand die erste schwarze Internationale, die International Working People`s Association, auf amerikanischem Boden statt, die Gewaltanwendung klar befürwortete:

„So wenig wie in früheren Zeiten je eine bevorrechtigte Klasse ihre Tyrannei aufgegeben hat, so wenig werden die Kapitalisten der Neuzeit auf ihre Privilegien und Herrschaft verzichten. Alle Versuche das heutige Gesellschaftssytem durch friedliche Mittel, wie z.B. durch Wahlen, zu beseitigen, waren ganz nutzlos. Daraus ergibt sich, daß der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie einen gewalttätig revolutionären Charakter haben muß, und daß bloße Lohnkämpfe nicht zum Ziel führen. Unter diesen Umständen bleibt nur ein Mittel übrig – die Gewalt.“[2]

In Amerika trafen Vertreter zweier Ideologien aufeinander: einerseits die Vertreter der „Propaganda der Tat“, allen voran Johan Most, die eigentlich den klassischen Arbeitskampf ablehnten und Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele befürworteten, andererseits die Anhänger der „Chicago Idea“, zu denen August Spies und Albert R. Parsons gehörten. Diese lehnte zwar die Gewalt als Mittel des Arbeitskampfes nicht ab, sah jedoch die größere Notwendigkeit im Zusammenschluss der Arbeiter in Organisationen wie Lehr- und Wehrvereinen und den Gewerkschaften.

Diese Arbeiterorganisationen kämpften seit langem für bessere Arbeitsbedingungen und vor allem eine angemessene Bezahlung. „Acht Stunden Arbeit für acht Stunden Lohn“ war die Hauptforderung der Arbeiterbewegung. 1884 wurde eine Kampagne für den Acht-Stunden-Tag ins Leben gerufen, denen sich die Anhänger beider Ideologien anschlossen, auch diejenigen, denen diese Forderung anfangs zu defensiv waren.

Am 1. Mai 1886 fanden landesweite Protestmärsche für die Durchsetzung eines Acht-Stunden-Tags statt. 350 000 Arbeiter aus 11 562 Unternehmen streikten.

Allein in Chicago waren 80 000 Menschen auf der Strasse, angeführt von Albert R. Parson, der später angeklagt werden sollte.[3]

Wie unbeliebt die Arbeiterführer bei der Presse schon vor dem Anschlag am Haymarket waren, zeigt ein Artikel der „Mail“ vom Abend des 1. Mai, in dem Parsons und Spies klar denunziert wurden:

„Merkt Euch die beiden und behaltet sie im Auge! Macht sie persönlich verantwortlich für alle Unruhen. Statuiert ein Exempel an ihnen, noch bevor die Unruhen um sich greifen!“[4]

Die Kundgebungen am 1. Mai verliefen jedoch friedlich.

2.2) Die Bombe:

Am 4. Mai 1886 wurde gegen 22 Uhr das erste Mal ein Bombenattentat in den USA verübt. Während einer Kundgebung der Arbeiterbewegung detonierte Sprengstoff, als gerade zwei Hundertschaften der Chicagoer Polizei der bis dato friedlichen Versammlung mit Gewalt ein Ende bereiten wollten. Nach der Detonation eröffnete die Polizei das Feuer auf die Arbeiter; es starben sieben Polizisten, 60 weitere wurden verletzt. Die getöteten Arbeiter blieben ungezählt.

Die Protestkundgebung vom 4. Mai war die Reaktion auf das brutale Eingreifen der Polizei, als am Vortag streikende Arbeiter der Mähmaschinenfabrik McCormick`s Streikbrecher am Betreten der Fabrik hindern wollten. Zu ihnen hatten sich auch einige Holzarbeiter gesellt, die ebenfalls streikten. Auf der Kundgebung der Holzarbeiter hatte August Spies, einer der späteren Hauptangeklagten im Haymarket-Fall, gesprochen und war ebenfalls zu McCormick`s gegangen, als es dort unruhig wurde.

Nachdem bei dieser Kundgebung zwei Menschen erschossen wurden, traf sich Spies mit anderen Arbeiterführern und verfasste in der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ ein Flugblatt, mit dem er zur Demonstration am nächsten Tag aufrief. Ca. 200 Flugblätter, auf denen einer von Spies` Mitarbeitern die Zeile „Arbeiter, bewaffnet Euch und erscheint massenhaft“ eingefügt hatte landeten auf sein Geheiß im Papierkorb, wurden dort später von der Polizei gefunden und als Beweismittel gegen ihn verwendet.

Für 19.30 Uhr war die Versammlung angesetzt und es fanden sich ca. 2500 Leute am Haymarket ein. Da jedoch kein Redner anwesend war, verließ ein Grossteil der Teilnehmer die Veranstaltung. Erst um 20.30 Uhr begann Spies mit seiner Rede.

Die Kundgebung verlief bis kurz vor 22 Uhr vollkommen friedlich, was sogar Carter H. Harrison, der Bürgermeister von Chicago bestätigte.

Er sagte aus, dass er aufgrund der Vorfälle am Vortag zum Haymarket gekommen sei, um sich selbst ein Bild von der Lage machen zu können.

Als er die Arbeiter dort friedlich angetroffen hätte, hätte er die Versammlung wieder verlassen:

„Ich schätze, daß ich die Versammlung fünf Minuten nach zehn verließ. Ich ging zur Polizeistation in der Desplaines Street, um Inspektor Bonfield mitzuteilen, daß sich nichts ereignet hätte, was nur irgendwie Anlaß zum Einschreiten gegeben habe. Ich sagte zu ihm, daß er seine Männer nach Hause schicken solle...“[5]

Auch August Spies berichtete von einer friedlichen Veranstaltung, die kurz vor ihrem Ende ohne erkennbaren Grund von der Polizei beendet wurde. Samuel Fielden wollte gerade seine Rede beenden, als Inspektor Bonfield die Auflösung der Versammlung befahl.

In diesem Moment explodierte die Bombe und Spies floh vor dem Kugelhagel der Polizei, die das Feuer eröffnete.

In den folgenden Tagen wurden mehrere hundert Menschen verhaftet. Angeklagt wurden elf Männer, von denen zwei flüchtig waren und acht verurteilt wurden: Albert R. Parsons, August Spies, Michael Schwab, Adolph Fischer, Oskar Neebe, Samuel Fielden, Georg Engel und Louis Lingg. Sechs dieser acht Männer waren deutsche Einwanderer, nur Parsons war ein sog. „Native born“[6].

Sie wurden wegen Mordes an einem Polizisten angeklagt. Die weiteren sechs Polizisten, die in den folgenden Tagen ihren Verletzungen erlagen, wurden in der Anklage nicht berücksichtigt, vermutlich weil nicht eindeutig geklärt wurde, ob sie nicht sogar an Schussverletzungen, verursacht durch die eigenen Kollegen, zu Tode gekommen sind.

2.3) Die Ermittlungen und der Prozess:

In den nächsten Wochen herrschte Hysterie: die Angst vor weiteren Anschlägen war weit verbreitet. Es wurden Verhaftungen bekannter Anarchisten, Durchsuchungen der Arbeitervereinigungen und -presse, Misshandlungen und Verhöre durchgeführt, ohne dass Haft- oder Durchsuchungsbefehle vorlagen. Staatsanwalt Grinnell gab seinen Beamten Anweisung: „Erst mal die Razzien durchführen, dann im Gesetz nachschauen.“[7]

Von der Presse wurde jede Nachricht über die Ermittlungen aufgebauscht und dramatisiert. Gerüchte wurden zu Fakten und eins zu eins von der Presse übernommen. Auch wurden immer offenere Aufrufe zur Lynchjustiz hörbar. Sogar Teile der Arbeiterbewegung stimmten in die Hetze ein, um sich von dem Bombenwerfer zu distanzieren und nicht selber ins Visier der Öffentlichkeit zu geraten.

Da die späteren Angeklagten Spies, Schwab, Engel, Fielden, Fischer und Neebe sich keiner Schuld bewusst waren und Alibis für den Tatzeitpunkt besaßen, verlief ihre Verhaftung problemlos.

Louis Lingg widersetzte sich seiner Verhaftung, weil er tatsächlich Bomben baute und sich darüber im Klaren war, dass ihn das für die Polizei zu einem der Hauptverdächtigen machte, obwohl auch er ein Alibi für den Zeitpunkt der Detonation besaß. Albert R. Parsons war unauffindbar.

Als Hauptbelastungszeugen sagten zwei ehemalige Mitglieder der Lehr- und Wehrvereine, Waller und Seliger, aus. Die Schwester von Waller bestätigte jedoch später, dass diese Aussagen von der Polizei erpresst wurden:

„Ich, Pauline, Schwester von Gottfried Waller, der in dem Prozeß als Zeuge für den Staatsanwalt gegen Spies und Genossen auftrat, bin mit den Handlungen meines Bruders genau bekannt und erkläre an Eides statt:

daß ihm von Captain Schaack erklärt wurde, daß er seine Freiheit wieder erhalte, wenn er gewisse Aussagen gegen die Anarchisten machen würde, und wenn er es nicht täte, er an den Galgen käme, so wie die anderen auch...“[8]

Im Nachhinein wurde aufgeklärt, dass Bonfield und Schak, die Ermittler im Prozess um das Haymarket-Attentat, Schmiergelder aus den Fonds der Industriellen für die Angehörigen der Opfer erhalten hatten.

Außerdem sagte der Zeuge M.M. Thompson aus, Spies und Schwab auf dem Haymarket belauscht zu haben, wie sie ihre Verschwörung planten. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass die beiden sich immer in ihrer Muttersprache, in Deutsch, unterhielten und Thompson kein Deutsch verstand.

Der Zeuge Gilmer, der früher wegen Brandstiftung und Einbruch verurteilt wurde, wurde nach seiner Aussage für die Staatsanwaltschaft in die Chicagoer Polizei aufgenommen.[9]

Aufgrund der Diffamierungen und extremen Hetze durch die Presse, fiel es den Angeklagten schwer, einen geeigneten Anwalt zu finden. Nur William Perkins Black, eigentlich Anwalt für Zivilrecht, erklärte sich dazu bereit, sie zu verteidigen. Zu seiner Unterstützung zog er Sigismund Zeisler, Moses Salomon und William Forster heran, die jedoch alle drei Immigranten waren und sich im amerikanischen Strafrecht kaum auskannten.

Der Gerichtsvollzieher Henry L. Rice benannte 981 mögliche Kandidaten für die „grand jury“, von denen keiner Industriearbeiter oder deutscher Abstammung war.

Die Angeklagten durften jeder höchstens 20 Kandidaten ablehnen. Somit wurde das Einspruchsrecht der Angeklagten ausgehebelt.

[...]


[...]

[1] vgl. Andreas Essl;

[2]Prinzipienerklärung der International Working People`s Association in Horst Karasek, 1970, S.16;

[3] vgl. Horst Karasek, 1970, S.22 und Frederike Hausmann, 1998, S.70;

[4] vgl. Horst Karasek, 1970, S.22/23

[5] Carter H. Harrison in H.Karasek, 1970, S.28

[6] seine Familie lebte mindestens in der zweiten Generation in den USA;

[7] Grinell in Andreas Essl, 2000

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Anarchie: Zur Vorverurteilung eines Begriffsund seiner Anhänger am Beispiel der Haymarket-Affäre 1886 in Chicago
Hochschule
Universität der Künste Berlin
Veranstaltung
Terrorismus
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
18
Katalognummer
V39348
ISBN (eBook)
9783638381390
Dateigröße
819 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Anarchie, Vorverurteilung, Begriffsund, Anhänger, Beispiel, Haymarket-Affäre, Chicago, Terrorismus
Arbeit zitieren
Diana Schumann (Autor:in), 2003, Anarchie: Zur Vorverurteilung eines Begriffsund seiner Anhänger am Beispiel der Haymarket-Affäre 1886 in Chicago, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39348

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