360 Grad-Feedback. Ein geeignetes und empfehlenswertes Instrument der Personal- und Organisationsentwicklung?

Eine empirische Untersuchung zum aktuellen Stellenwert in Deutschland


Diplomarbeit, 2004

99 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 EINFÜHRUNG
1.1 Kein unumstrittenes Instrument
1.2 Zielsetzung der Diplomarbeit
1.3 Aufbau der Diplomarbeit

2 THEORETISCHER TEIL

2.1 Begriffserläuterung
2.1.1 360 Grad-Feedback als Rundumbewertung
2.1.2 Abweichungen einer Rundumbewertung
2.1.3 „Feedback contra Beurteilung“
2.2 Verfahren
2.2.1 Entwicklung des Verfahrens
2.2.2 Durchführung des Verfahrens
2.2.3 Bewertung des Verfahrens
2.3 Entstehung und Entwicklung
2.3.1 Ursprung
2.3.2 Einsatz in Deutschland
2.3.3 Mögliche Gründe für die zähe Entwicklung
2.4 Anlässe für eine Einführung
2.4.1 Veränderungen der Strukturen
2.4.2 Wandel der Unternehmenskultur
2.4.3 Personalwirtschaft: „Tatsächliche Leistung zählt“
2.5 Ziele und Anwendungsbereiche
2.5.1 Personal- und Organisationsentwicklung
2.5.2 Grundlage für personalpolitische Entscheidungen
2.5.3 Informationen für die Organisation
2.6 Argumente gegen 360 Grad-Feedback
2.6.1 Unzureichendes Controlling
2.6.2 Mangelnde Aussagekraft
2.6.3 Negative unternehmenspolitische Auswirkungen
2.6.4 Das Ziel „Kundenorientierung“ als Tarnung
2.7 Argumente für 360 Grad-Feedback
2.7.1 Kritikpunkte „kritisch“ betrachtet
2.7.2 Stimmen der Protagonisten

3 AUSGANGSHYPOTHESEN

4 PRAKTISCHER TEIL
4.1 Angewandte Methodik
4.1.1 Auswahl der Stichprobe
4.1.2 Festlegung der Datenbasis
4.1.3 Fragebogen mit Ausrichtung auf Hypothesen
4.2 Ergebnisse
4.2.1 Analyse des Antwortverhaltens
4.2.2 Darstellung der Auswertungen
4.2.3 Interviews mit Personalspezialisten
4.3 Diskussion
4.3.1 Gegenüberstellung:
Ergebnisse – Ausgangshypothesen
4.3.2 Fazit

5 RESÜMEE UND AUSBLICK

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhang

Beleg A: Fragebogen und Anschreiben der empirischen Untersuchung

Beleg B: Aufschlüsselung der anonymisierten Unternehmen
(hier aus Datenschutzgründen Firmen-/Personennamen nicht enthalten)

Beleg C: Ein Beispiel: Fragebogen des 360 Grad-Feedbacks aus der Praxis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Autorenprofil (hier zusätzlich enthalten)

1 EINFÜHRUNG

Bewertungen begleiten uns seit der Kindheit. Bereits in der Schule und im Studium er-halten wir Noten. Im Sport geht es darum, der Beste zu sein oder im Team zu gewinnen. Selbst in Bereichen, die der Freizeit zuzuordnen sind, gibt es andere zahlreiche Wettbe-werbe. Wir werden beobachtet und bewertet.

In der Arbeitswelt setzt sich dies fort: Es folgen Mitarbeitergespräche, Leistungsbeur-teilungen und Zeugnisse, die unseren beruflichen Werdegang beeinflussen.

Ganz offensichtlich haben diese traditionellen Beurteilungssysteme eines gemeinsam: Der Beurteiler ist ein Weisungsbefugter bzw. im weiteren Sinne ein Vorgesetzter - er be-wertet aus einer dominierenden Position heraus.

In der Regel wird diese Tatsache weder kritisiert noch die Qualität der Beurteilung durch den Vorgesetzten hinterfragt. Man geht davon aus, dass dieser in der Lage und guten Willens ist, die Zielperson vollständig und wahrheitsgemäß zu bewerten. Seit geraumer Zeit werden jedoch Stimmen laut, die bezweifeln, dass ein Vorgesetzter stets derjenige sein muss, der alleinig und am treffendsten die Kompetenzen eines Mitarbeiters beur-teilen kann.

Neue Denkansätze haben Fragen aufgeworfen: Sind nicht auch Bewertungen von Mitarbeitern, Kollegen oder auch externen Kunden aussagekräftig oder möglicherweise sogar aussagekräftiger? Sind zusätzliche Einschätzungen aus anderen Blickwinkeln nicht hilfreich, das Gesamtbild von Leistung und Verhalten abzurunden?

Und vor allem: Müssten nicht gerade auch Führungskräfte, die die Entscheidungsträger eines Unternehmens sind, Vorbilder für alle Mitarbeiter darstellen und den Erfolg einer gesamten Organisation prägen, beobachtet und hinsichtlich ihres Führungsverhaltens und Leistung bewertet werden? Kommen den Kompetenzen von Führungskräften nicht eine besondere Bedeutung zu?

Und sollte nicht genau aus diesem Grund herausgefunden werden, wie Führungskräfte und somit das gesamte Unternehmen sich weiter entwickeln und wachsen können?

1.1 Kein unumstrittenes Instrument

Ein relativ neues Instrument der Personal- und Organisationsentwicklung ist das 360 Grad-Feedback. Bei diesem Verfahren werden vor allem Führungskräfte, also Vor-gesetzte, - von ihren Mitarbeitern - neben anderen Feedbackgebergruppen „von unten nach oben“ - bewertet. Es handelt sich demnach um den umgekehrten Fall des Mitar-beitergesprächs.

Während zum einen in den 90-er Jahren in diesem Zusammenhang von einer „Euphorie“ gesprochen wurde, wird zum anderen in der Literatur berichtet, dass dieses Instrument in Deutschland noch wenig Akzeptanz und somit kaum Anwendung findet. Es stellt sich nun die Frage, aus welchen Gründen diese „Euphorie“ nicht bewirkte, dass sich 360 Grad-Feedback in allen Unternehmen etablierte.

Eine Ursache hierfür könnte sein, dass 360 Grad-Feedback nicht nur Befürworter hat, sondern - wenn auch vereinzelt - auf scharfe Kritik stößt.

1.2 Zielsetzung der Diplomarbeit

Die vorliegende Diplomarbeit soll die Ziele und Eignung des 360 Grad-Feedbacks erörtern, Argumente gegen und Argumente für dieses Instrument gegenüber stellen sowie die bisherige Entwicklung mit der gegenwärtigen Akzeptanz und Rolle in Groß-unternehmen Deutschlands vergleichen.

Zum zuletzt genannten Punkt war eine ausschließlich deskriptive Herangehensweise nicht ausreichend: Der heutige Stellenwert des 360 Grad-Feedbacks wurde daher mittels einer Befragung von Personalspezialisten empirisch untersucht.

1.3 Aufbau der Diplomarbeit

Die Arbeit gliedert sich in einen literarischen bzw. theoretischen und einen empirischen bzw. praktischen Teil.

Im theoretischen Abschnitt wird „360 Grad-Feedback“ zunächst vorgestellt, das Verfahren dargelegt sowie die Entstehung und bisherige Entwicklung geschildert
(s. 2.1, 2.2 und 2.3). Weiterhin werden die Anlässe für eine Einführung sowie Ziele und Anwendungsbereiche dieses Instruments behandelt (s. 2.4 und 2.5). Im Anschluss folgt eine Gegenüberstellung der Argumente für bzw. gegen das 360 Grad-Feedback (s. 2.6 und 2.7).

Als Zwischenbilanz wurden Ausgangshypothesen aufgestellt, die auf dem bis dato vor-handenen Wissensstand basierten. Diesen wurde ein eigenes Kapitel gewidmet (s. 3).

Im praktischen Teil wird dem Leser die angewandte Methodik zur Überprüfung dieser Thesen - eine Umfrage im Rahmen einer Stichprobenerhebung - erläutert und die aus zwei persönlichen Interviews gewonnenen Informationen geschildert (s. 4.1). Die erho-benen Daten werden darauf folgend anschaulich dargestellt (s. 4.2).

Die Interpretation der neuen Erkenntnisse erfolgt durch eine Gegenüberstellung der Ergebnisse mit den Ausgangshypothesen. Abschließend werden die Informationen in einem Fazit zusammengefasst (s. 4.3).

Im Resümee wird der aktuelle Stellenwert des 360 Grad-Feedbacks in Deutschland ana-lysiert und die weitere Entwicklung dieses Instruments der Personal- und Organisations-entwicklung prognostiziert.

Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wurde auf eine zusätzliche Angabe in Bezug auf die weibliche Form der Begrifflichkeiten verzichtet. Grundsätzlich sind nicht nur „Mitarbeiter“, sondern selbstverständlich auch „Mitarbeiterinnen“ gemeint.

2 THEORETISCHER TEIL

2.1 Begriffserläuterung

In Deutschland herrscht über die Begrifflichkeit und den Inhalt des 360 Grad-Feedbacks häufig Unklarheit. Während in der Literatur die unterschiedlichen Formen deutlich abge-grenzt werden, wird in der Praxis bereits von 360 Grad-Feedback gesprochen, wenn es sich nur um eine Mehrfachbewertung handelt, ganz gleich, welche bzw. wie viele Feed-backgebergruppen der Feedbackgeber in die Bewertung integriert sind.[1] Um hierzu Klar-heit zu schaffen, widmet sich folgender Abschnitt den verschiedenen Definitionen.

2.1.1 360 Grad-Feedback als Rundumbewertung

360 Grad-Feedback ist ein systematisches und formalisiertes Verfahren der Mehrfach-bewertung. Mehrere Personengruppen innerhalb einer Organisation bewerten - i. d. R. anonym - vor allem Führungskräfte hinsichtlich Führungsverhalten sowie allgemeinen Sozialkompetenzen.

Die Datenerhebung der Feedbacks erfolgt anhand eines Fragebogens, der vom Unter-nehmen definierte Kriterien enthält und die von den einzelnen Feedbackgebern bewertet werden.

Der Begriff dieses Instruments setzt sich aus zwei Bezeichnungen zusammen: „360 Grad“ und „Feedback“.

Die Bezeichnung „360 Grad“ symbolisiert einen Kreis, der deutlich macht, dass das Feedback „Rundumcharakter“ besitzt: Der Feedbacknehmer erhält von allen Blick-winkeln aus seinem Umkreis Rückmeldung: von der untergeordneten Ebene - seinen Mitarbeitern -, von der übergeordneten Ebene - seinem/seiner Vorgesetzten - sowie von der gleichgestellten Ebene - seinen Kollegen. Jeder Feedbackgebergruppe setzt man demnach 90 Grad gleich.[2]

Der Kreis schließt sich letztlich durch eine Selbsteinschätzung: Die Führungskraft bewertet sich selbst. Die Gesamteinschätzung einer Zielperson basiert also auf einer Vielfalt an Informationen und ermöglicht somit ein mehrdimensionales Bild.[3]

Der ursprünglich amerikanische Begriff „Feedback“ hat gemäß einer wörtlichen Über-setzung die Bedeutung „Reaktion“, „Rückkopplung“ bzw. am treffendsten ausgedrückt: „Rückmeldung“. Feedback spiegelt somit die Wirkung eines Verhaltens auf andere wider und meldet die Wahrnehmung zurück.

Folgende Synonyme in der deutschen und englischen Literatur beschreiben das gleiche Instrument:

- Mehrfachbewertungssystem
- Rundumbeurteilung
- Vorgesetztenbeurteilung
- 360 Grad Beurteilung
- 360 Grad Assessment
- Multi source Feedback
- All round Feedback
- Full circle appraisal
- Group performance appraisal
- Multi perspective rating
- Multi rater assessment/feedback/process

In dieser Diplomarbeit wird vorwiegend der in Deutschland gängigste Begriff des 360 Grad-Feedbacks (bzw. „Mehrfachbewertungssystem“ oder „Rundumbewertung“) ver-wendet. Da in der Umgangssprache im Zusammenhang mit 360 Grad-Feedback am häufigsten von einer „Beurteilung“ gesprochen wird, wird ab und an auch dieser Aus-druck verwendet.

2.1.2 Abweichungen einer Rundumbewertung

Je nachdem, wie viele Gruppen an einer Mehrfachbewertung beteiligt sind, kann zwischen 180 Grad-, 270 Grad-, 360 Grad- und sogar 450 Grad-Feedback (bzw. auch 540 Grad- oder 630 Grad-Feedback) unterschieden werden.

Bei einem 180 Grad-Feedback handelt es sich um eine Vorgesetztenbeurteilung bzw. um die so genannte Aufwärtsbeurteilung (synonym: Bottom up-Beurteilung oder Upward Feedback).[4]

Hierbei sind es lediglich die Mitarbeiter, die Rückmeldung zum (Führungs-)Verhalten des Vorgesetzten geben. Es handelt sich demnach um den umgekehrten Fall des klas-sischen, traditionellen Mitarbeitergesprächs.

90 % der Unternehmen, die Mehrfachbewertungen durchführen, haben die Form der Aufwärtsbeurteilungen integriert.[5]

Der Begriff des 270 Grad-Feedbacks ist kaum geläufig. Es wird u. a. auch von einem 90 Grad-Feedback gesprochen, das sich jedoch auf eine einzige Quelle beschränkt: die der gleichgestellten Kollegen. Im Falle des 270 Grad-Feedbacks werden die Einschät-zungen der gleichgestellten Kollegen dagegen zusätzlich zu den Rückmeldungen der Mitarbeiter eingeholt. Feedbacks von Kollegen gelegentlich auch als „Peer Ratings“, „Peer Appraisal“ oder „Peer Assessment“ bezeichnet.[6]

Kollegenbewertungen haben im Gegensatz zur Aufwärtsbeurteilung derzeit keine große Bedeutung.[7]

Die zu den 360 Grad des geschlossenen Kreises addierten 90 Grad implizieren eine Feedbackgebung außerhalb des Kreises, demnach außerhalb des Unternehmens. Bei dem 450 Grad-Feedback werden ergänzend externe Kunden zum Verhalten der Füh-rungskraft befragt.

Deren Angaben sind vor allem dann hilfreich, wenn es sich bei der Zielgruppe um Mitarbeiter handelt, die starken Kundenbezug haben, z. B. wenn sie im Bereich Vertrieb oder Marketing tätig sind und sich die Qualität der Zusammenarbeit mit dem Kunden mittelbar auf den Unternehmenserfolg auswirkt.

Der Begriff des 450 Grad-Feedbacks ist selten im Gebrauch. Auch wenn ergänzend externe Kunden integriert werden, wird das Verfahren offiziell 360 Grad-Feedback genannt.

Weiterhin existiert der Begriff 540 Grad-Feedback, der signalisieren soll, dass zusätzlich Lieferanten mit einbezogen werden. Ferner spricht man von 630 Grad-Feedback, wenn ergänzend die Familie der Führungskraft befragt wird. Auch diese Begrifflichkeit dürfte kaum bekannt sein.

Im folgenden Text wird davon ausgegangen, dass es sich bei 360 Grad-Feedback um eine Mehrfachbewertung handelt, bei der - zusätzlich zur Selbsteinschätzung - Vorge-setzter, Mitarbeiter und Kollegen Einschätzungen geben.

Ferner wird unterstellt, dass die Zielpersonen der Feedbacknehmer i. d. R. Führungs-kräfte sind.

2.1.3 „Feedback“ contra „Beurteilung“

In der Literatur finden sich konträre Auffassungen darüber, ob der Begriff „Feedback“ dem Begriff „Beurteilung“ gleichzusetzen ist.

Nach Harrs, Maier und Weill gibt es zwei ganz wesentliche Unterschiede zwischen Feedback und Beurteilungen. “Beurteilungen“ hätten, wie man sie vom Mitarbeiterge-spräch - der Abwärtsbeurteilung oder auch Top Down-Beurteilung genannt - kennt, in Bezug auf Position und Vergütung konkrete Konsequenzen.[8]

Es sei sogar das Ziel einer Beurteilung, die Ergebnisse als Grundlage für personal-politische Entscheidungen zu verwenden.

Die Intension eines Feedbacks dagegen sei eine andere: Hier stehe der humanistische Entwicklungsgedanke, dazu zu lernen - die intrinsische Motivation zur Verbesserung und zum Wachstum - im Vordergrund.

Eine „Beurteilung“ sei ferner ein starres Urteil unter den Aspekten „gut“ oder „schlecht“, und zwar mit einem deterministischen Ansatz, der unterstelle: „Man ist, wie man ist und bleibt auch so“.

Bei einem „Feedback“ dagegen handele es sich um die Widerspiegelung des momen-tanen Verhaltens und dessen Wirkung auf andere. „Es hat Blitzlichtcharakter und damit ein Verfallsdatum (...), i. d. R. zwei Jahre.“[9] Ein Feedback sei urteilsfrei und gebe eine augenblickliche, subjektive Wahrnehmung wider, die sich je nach Situation und Bezie-hung verändere.

2.2 Verfahren

So verschieden wie Menschen sind auch die Organisationsstrukturen und Unterneh-menskulturen, die durch sie bestimmt werden. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Vorgehensweisen und die Prozesse von Firma zu Firma. Zu 360 Grad-Feed-back existiert daher kein standardisiertes oder allgemein anerkanntes Verfahren.[10]

Das folgende Kapitel erläutert die in die Praxis anzutreffenden, grundsätzlichen Schritte bei der Verfahrensentwicklung, Durchführung sowie Bewertung des 360 Grad-Feed-backs.

2.2.1 Entwicklung des Verfahrens

Zunächst wird ein Projektteam aufgestellt, das je nach Unternehmensgröße aus sechs bis fünfzehn Befürwortern aus unterschiedlichen Ebenen besteht. Es ist zuständig für Implementierung, Umsetzung sowie Prozessevaluation.

Das Projektteam muss sich zu Beginn die Frage stellen, ob das Unternehmen für eine Rundumbewertung bereit ist. Anhand einer Mitarbeiterbefragung kann z. B. heraus-gefunden werden, ob 360 Grad-Feedback Akzeptanz in der Organisation finden könnte oder nicht. Es ist ratsam, vor allem das Management zu überzeugen und Promoter auf hoher Ebene zu gewinnen. Erklärt sich die oberste Führungsebene zu einem Pilotprojekt bereit, ist dies ein Indiz dafür, dass das Verfahren aufgrund deren Vorbildfunktion in der gesamten Organisation angenommen und unterstützt wird.[11]

Ferner ist zu empfehlen, den Betriebsrat, den Sprecherausschuss und ggfs. auch die Gewerkschaft von Anfang an mit einzubeziehen - vor allem dann, wenn die Teilnahme nicht freiwillig, sondern verbindlich erfolgen soll. Ohne entsprechende Rückendeckung würde das komplette Projekt scheitern und im Keim erstickt werden.

Bevor das Projekt gestartet wird, sollten die Ziele des 360 Grad-Feedbacks klar definiert werden. Sollen die Ergebnisse Informationen zu Stärken und Schwächen der Führungs-kraft bzw. zur Feststellung des Weiterbildungsbedarfs als Grundlage für die Personal- und Organisationsentwicklung dienen? Oder für strategische Überlegungen wie Stellen-besetzung oder Personalnachfolgeplanung? Vielleicht sogar als Basis für personal-politische Entscheidungen hinsichtlich neuer Anreizsysteme, Beförderungen, Verset-zungen, Gehaltssteigerungen oder gar Selektionsmaßnahmen?[12]

Ist die strategische Zielsetzung definiert, folgt die Festlegung des konzeptionellen Rahmens und die Planung des Projektablaufs. Die Organisation muss zunächst Fragen klären wie:

- Welche Software wird eingesetzt? Sollte sie selbst programmiert oder gekauft werden?
- Wie sollten die zeitlichen Rahmenbedingungen aussehen?
- Wer sind die Zielpersonen der Einschätzungen, also die Feedbacknehmer:

Spezialisten ohne disziplinarische Führungsverantwortung, Unteres, Mittleres und/ oder Oberes Management?

- Welche Personengruppen geben die Feedbacks?
- Erfolgt die Befragung freiwillig oder verbindlich?
- Wird die Befragung anonym oder offen durchgeführt?
- Wie erfolgt die Feedbackpräsentation? Wer übermittelt in welcher Form den Feedbacknehmern die Ergebnisse? Wird ein externer Berater hinzugezogen?
- Wie werden die Beteiligten vorbereitet und umfassend informiert, um Unsicherheit und Zweifel zu vermeiden bzw. aus dem Weg zu räumen?

Die Einführung des neuen Instruments ruft i. d. R. anfangs Verwirrung und Skepsis hervor. Um Bedenken und somit Unruhen im Vorfeld erfolgreich entgegen zu wirken, ist eine offene Kommunikationspolitik unabdingbar.[13]

Der konzeptionelle Rahmen und der Projektablauf, aber vor allem die Zielsetzung, sollte schriftlich verfasst und offen jedem einzelnen Beteiligten vermittelt werden.[14]

Die anschließende Entwicklung eines geeigneten Fragebogens ist nicht nur eine auf-wendige, sondern auch sehr verantwortungsvolle und entscheidende Aufgabe, bei der sehr gründlich und sorgfältig vorgegangen werden muss. Denn die Auswahl und die Gewichtung der im Fragebogen enthaltenen Kriterien spiegeln die Werte, die strate-gischen Ziele und die Führungsleitsätze einer Organisation wider.[15] Im Allgemeinen liegt der Fokus der Kriterien in den so genannten „weichen Faktoren“, da Bewertungen von Fachkenntnissen, Fertigkeiten und Ergebnisse im Mitarbeitergespräch oder im Rahmen des Management by Objectives überprüft werden. Folgende Faktoren können z. B. eine Rolle spielen: Motivation, Information und Kommunikation, Teamverhalten, Mitarbeiter-förderung sowie Führungsverhalten allgemein.

Die für den Erfolg des Unternehmens entscheidenden Kriterien werden gesammelt, in Faktoren unterteilt und schließlich im Fragebogen anhand von Formulierungen, den so genannten Items, erläutert. Konkrete Verhaltensweisen, die in der Praxis eindeutig beobachten werden können, beschreiben diese Items. Soll z. B. der Faktor Motivation bewertet werden, könnte das Item lauten: ...(die Führungskraft)... „ermutigt die Mitarbeiter, Verantwortung zu übernehmen“. Die Feedbackgeber haben die Möglichkeit, zu jedem Item vorgegebene, quantitativ abgestufte Antwortausprägungen zu wählen, wie z. B. zwischen „sehr gut“, „gut“, „zufriedenstellend“, „weniger zufriedenstellend“ oder „verbesserungswürdig“. Neben einer Ist-Einschätzung können auch Soll-Werte einbe-zogen werden. In dem Fall können die Feedbacknehmer zusätzlich angeben, ob sie die einzelnen Kriterien für „sehr wichtig“, „ziemlich wichtig“, „wichtig“, „weniger wichtig“ oder „nicht wenig“ erachten (s. Anhang).

2.2.2 Durchführung des Verfahrens

Da es bei 360 Grad-Feedback um die Einschätzung von Kompetenzen geht, die vor allem bei den Entscheidungsträgern einer Organisation von großer Bedeutung sind, stehen bei der Auswahl der Feedbacknehmer hauptsächlich die Führungskräfte im Blickfeld.

Diese lassen sich unterteilen in das Untere Management (wie Abteilungsleiterebene), das Mittlere Management (wie Hauptabteilungsleiter- und Bereichsleiterebene) sowie das Obere Management (wie Geschäftsleitung und Vorstand).

Hinsichtlich der Wahl der Feedbackgeber wird in den meisten Unternehmen der Ziel-person zugestanden, die Bewertenden selbst zu bestimmen.[16] Feedbacknehmer selbst wünschen neben der Bewertung ihres Vorgesetzten i. d. R. mindestens vier unterstellte Mitarbeiter sowie vier Kollegen. Für die Anzahl der Feedbackgeber besteht kein Richt-wert; Empfehlungen variieren zwischen fünf und zwölf Personen. Bei VW und Enwag

z. B. wurde die Regelung getroffen, dass der Feedbacknehmer eine hohe Anzahl an Personen nennt, aus denen die Feedbackgeber von dem Projektteam per Zufallsaus-wahl ausgewählt werden. Der Feedbacknehmer weiß somit nicht, welche der von ihm benannten Personen tatsächlich Feedback geben. Durch dieses Vorgehen ist maximale Anonymität sichergestellt.[17] Die Teilnahme ist für die Feedbackgeber meist nicht ver-bindlich.

Häufig empfinden Feedbacknehmer eine „Beurteilung“ bzw. Kritik als Beleidigung, Er-niedrigung oder sogar als persönlichen Angriff. Angst vor Blamage und Autoritätsverlust schüren die Widerstände, sich „beurteilen“ zu lassen.[18] Aus diesem Grund ist eine Schulung wichtig, um negative politische Aktionen zu vermeiden. Eine Schulung soll helfen, Feedback und Kritik als konstruktives Mittel und Hilfe zur Selbsthilfe für die per-sönliche Weiterentwicklung anzusehen.

Ferner soll sie gewährleisten, dass die Ergebnisse richtig interpretiert werden, ein Fazit für die Zukunft gezogen sowie ein individueller Aktionsplan zu Verbesserungsmaß-nahmen aufgestellt wird. Laut Edwards sollten Schulungen, auch für Feedbackgeber, auf der Checkliste für eine erfolgreiche Durchführung ganz oben stehen.[19]

Die Erfassung der Feedbacks kann auf verschiedene Weisen erfolgen: in Form von herkömmlichen Papierfragebögen, anhand maschinenlesbarer Erhebungsbögen, per Fax oder auch via Telefon.

Andere Wege wie E-Mail-Versand oder Speicherung auf Diskette sind ebenfalls möglich. Der größte Teil der Beteiligten bevorzugt eindeutig die elektronische Eingabe via LAN oder WAN.[20] Die Feedbackgeber haben hierbei Zugang zu lokalen oder öffentlichen Netzwerken und geben die Daten dort direkt ein.

Der Großteil der Unternehmen nimmt bei der Datenerfassung und Auswertung der Daten die Leistungen eines externen Beraters in Anspruch.[21]

Bei einer informellen Auswertung genügt der Taschenrechner bzw. ein Tabellenkal-kulationsprogramm. Eine formelle Auswertung hingegen nutzt wissenschaftliche Metho-den und verwendet ein automatisiertes Verfahren, das Ausreißer entdeckt. Diese kön-nen entstehen, wenn Beteiligte untereinander vereinbaren, sich gegenseitig besonders positiv zu bewerten oder auch, wenn ein Feedbackgeber - z. B. aus Missgunst - die Ziel-person extrem niedrig bewertet. Die formelle Auswertung korrigiert diese Verzerrungen, indem sie ungültige Antworten aufspürt und von der Gesamtwertung ausschließt.

Bei der Darstellung der Ergebnisse werden i. d. R. die einzelnen Werte addiert und der Mittelwert aller Einschätzungen mitgeteilt. Als besonders aussagekräftig gelten jedoch Vergleiche.[22] Ein Übereinstimmungswert z. B. legt dar, inwieweit sich die einzelnen Be-wertungen der Feedbackgeber untereinander decken bzw. voneinander unterscheiden.

Ist der Übereinstimmungswert hoch, kann davon ausgegangen werden, dass im Feed-back keine Ausreißer enthalten und die Durchschnittswerte somit auch verlässlich sind.

Edwards empfiehlt ferner, die Mittelwerte nach einzelnen Feedbackgebergruppen zu klassifizieren und gegenüber zu stellen, wodurch der Feedbacknehmer erfährt, wie ihn „durchschnittlich“ jeweils die Kollegen, die unterstellten Mitarbeiter, die Vorgesetzten oder auch die Kunden sehen.

Darüber hinaus könnte eine Wertungsspanne aufgeführt werden, welche die Differenz zwischen der geringsten und der höchsten Einschätzung zeigt. Es ist auch denkbar, Durchschnittswerte aller Feedbacknehmer anzugeben, um die Stellung des einzelnen Feedbacknehmers im Vergleich zu den Bewertungen der anderen zu sehen. Der bedeutsamste und für die Selbsterkenntnis wichtigste Vergleich bleibt jedoch die Gegenüberstellung von Eigen- und Fremdbild, die in keinem übermittelten Profil fehlen sollte. Um die Entwicklung eines einzelnen Feedbacknehmers aufzuzeigen, könnte darüber hinaus sein Profil der zuletzt durchgeführten Feedbackrunde aufgeführt und mit den aktuellen Ergebnissen verglichen werden.

Im Allgemeinen werden die Ergebnisse zur Personal- und Organisationsentwicklung genutzt. In dem Fall erhält ausschließlich der Feedbacknehmer die Bewertungen. Sollen die Feedbackprofile als Basis für personalpolitische Beschlüsse dienen, werden sie auch dem Oberen Management bzw. dem Personalwesen übermittelt. Gelegentlich werden Gesamtresultate auch im Intranet oder in einer Werkszeitung anonymisiert veröffentlicht.

Neben der Art der Darstellung stellt sich für jedes Unternehmen die Frage, in welcher Form die Präsentation der Feedbacks erfolgen soll. Den Feedbacknehmer in einer Art Selbststudium mit seinem „Urteil“ allein zu lassen, empfiehlt sich in keinem Fall. Die meisten Unternehmen - wie auch z. B. Beiersdorf - bieten ein 4-Augen-Gespräch an - entweder mit einem internen Spezialisten oder einem externen Berater.[23]

Gelegentlich ist wird auch ein 6-Augen-Gespräch geführt: Die Ergebnisse werden zwischen dem Vorgesetzten und Mitarbeiter besprochen, wobei eine dritte Vertrauens-person - ein externer Berater - das Gespräch moderiert.

Sind die Hierarchien in einem Unternehmen flach und ist die Kommunikationspolitik offen, kann es auch Workshops geben, in denen gemeinsam in der Runde - demnach nicht mehr mit 100%iger Anonymität - die Ergebnisse zwischen Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern interpretiert und weitere Verbesserungsmaßnahmen gemeinsam dis-kutiert werden. Diese Methode setzt jedoch ein positives Betriebsklima sowie Vertrauen untereinander voraus.[24]

Ziel des 360 Grad-Feedbacks ist es, Stärken, aber vorwiegend auch Schwächen des Feedbacknehmers aufzudecken, um zu ermitteln, in welchen Bereichen Entwicklungs-bedarf besteht. Bei der Erstellung eines Aktionsplans - auch Entwicklungsplan oder Maßnahmenkatalog genannt - wird festgelegt, mit welchen Maßnahmen eine künftige Verbesserung erreicht werden soll. Der Plan enthält folgende Punkte:[25]

1. das Ziel selbst, z. B. Optimierung im Bereich Zeitmanagement,
2. die Strategie der Umsetzung, d. h. welche Maßnahmen getroffen werden, z. B. Besuch von Trainings oder Seminaren zu dem entsprechenden Thema,
3. das gewünschte Datum der Zielerreichung sowie
4. messbare Ergebnisse, anhand derer eruiert werden kann, ob das Ziel auch erreicht wurde.

Das Festlegen von Maßnahmen sowie deren Umsetzung ist keine einmalige Aktion, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der zu einer Optimierung des Führungsverhaltens beitragen soll. Das eigentliche Ziel des 360 Grad-Feedbacks ist es, nicht nur die Wirk-lichkeit anhand mehrerer Feedbacks abzubilden, sondern vielmehr die gewonnen Er-kenntnisse dazu zu nutzen, Veränderungs- bzw. Verbesserungsmaßnahmen in die Tat umzusetzen.

Nach Harrs, Maier und Weill sind Follow up-Aktivitäten „das A und O der Erfolgs.“ „Das Instrumentarium der 360°-Einschätzung kann nur der Auftakt sein zur Konsolidierung des Feedbacks (...), zur Erstellung eines Entwicklungsplans, für Coaching-, Trainings-maßnahmen oder Mentoringsysteme.“[26]

2.2.3 Bewertung des Verfahrens

Nach einer Durchführung stellt sich für das Projektteam die Frage, ob das Verfahren erwartungsgemäß verlaufen ist und die gesteckten Ziele der Einführung erreicht wurden. Es hat die verantwortungsvolle Aufgabe, das gesamte Verfahren laufend zu optimieren.

Um etwaige Schwachstellen aufzuspüren, muss vor allem das Antwortverhalten der Feedbackgeber analysiert werden. Von validen Feedbacks und somit von aussage-kräftigen Daten kann erst gesprochen werden, wenn die Antwortquote pro Item bei über 85% liegt, d. h. wenn mehr als 85% aller Feedbackgeber die entsprechende Frage beantwortet haben. Auch ein hoher Übereinstimmungsfaktor ist ein Indiz für die Zuver-lässigkeit der Ergebnisse. Bei einer gelungenen Datensammlung weichen weniger als 5% der Antworten stark voneinander ab. Bewertungen mit hohen Abweichungen können gemäß des Validitätsgrundsatzes herausgenommen und das Gesamtfeedback geglättet werden.[27]

Indem abschließend Feedbackgeber und -nehmer zur Wirkung des Prozesses und zum Verfahren selbst Feedback geben, kann die Zufriedenheit der Beteiligten und die Effek-tivität von 360 Grad-Feedback analysiert werden. Werden vor der Datenerhebung und nach der Feedbackpräsentation jeweils Mitarbeiterumfragen durchgeführt, kann ein direkter Vergleich gezogen werden zwischen dem, was die Beteiligten von dem Ver-fahren erwartet hatten und wie sie es im Anschluss bewerten. Abgerundet wird die Bewertung durch das Ziel der abschließenden Analyse: Aufstellung von Verbesserungs-maßnahmen hinsichtlich des Verfahrens für die nächste Bewertungsrunde.

2.3 ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG

Wie entstand 360 Grad-Feedback? Gab es Vorläufer oder Urformen? Welche Werte spielten bei dessen Entwicklung eine Rolle?

Das folgende Kapitel soll hierzu Antworten geben.

2.3.1 Ursprung

Aus neuen Grundeinstellungen heraus - wie Best Practice-Ansatz und Total Quality Management sowie ausgeprägte Kundenorientierung - entstand der Anspruch und das Ziel, Qualität in Organisationen zu analysieren und zu verbessern. Neue Verfahren wurden entwickelt, die messen sollten, ob Optimierungsmaßnahmen im Sinne des Unternehmenswachstums greifen: Marktanalysen, Unternehmensumfragen sowie Management by Objectives - Führen mit Zielvereinbarungen -, Feedback in der Personalentwicklung und Mehrfachbewertungssysteme wie Assessment Center folgten und führten schließlich zur Entstehung des 360 Grad-Feedbacks.[28]

Bereits in den vierziger Jahren wurde vom britischen Geheimdienst das Assessment Center-Verfahren entwickelt: Mehrere Beobachter bewerteten das Verhalten von Ziel-personen - die Idee des Mehrfachbewertens war geboren.[29]

Der Ursprung des 360 Grad-Feedbacks ist jedoch amerikanischen Studien aus dem militärischen Bereich zuzuordnen. Die Untersuchungen fanden heraus, dass Einschät-zungen von Führungskräften durch Untergebene und Kollegen besonders zuverlässig und aussagekräftig sind.[30]

In der Literatur war von diesem Tool das erste Mal im Wall Street Journal Ende 1993 die Rede. Kurz darauf erklärte Jack Welch, CEO von General Electric, in der Zeitung Fortune, dass er 360 Grad-Feedback für all seine leitenden Angestellten einsetze.[31] Der Grundstein für eine öffentliche Diskussion war gelegt. Nach diversen Analysen und weiteren Veröffent-lichungen in den USA boomte dort das 360 Grad-Feedback.[32] Im Jahr 1996 hatten bereits 40 Prozent von 154 Global Playern dieses Instrument im Ein-satz.[33]

2.3.2 Einsatz in Deutschland

Während inzwischen 90% der 500 größten US-Firmen 360 Grad-Feedback seit Jahren im Einsatz haben und zahlreiche amerikanische Universitäten und Leadership-Pro-gramme die Forschung und Weiterentwicklung des Instruments vorantreiben, gewann dieses Tool in Deutschland nur allmählich an Bedeutung.[34]

Nach einigen Veröffentlichungen in den 90-er Jahren rückte das 360 Grad-System im deutschen Raum erstmals ins Blickfeld. Ende der 90-er avancierte es zu einer Art Mode-erscheinung, das Instrument war Thema der öffentlichen Diskussion. Es wurde damals von einer „Euphorie“ gesprochen, von der heute jedoch keine Rede mehr ist.[35] Gemäß der Literatur ist die Anwendung in Deutschland aktuell nicht sehr ausgeprägt.[36]

Von folgenden Unternehmen ist u. a. bekannt, dass sie 360 Grad-Feedback in Deutsch-land im Einsatz haben oder hatten: BASF, Bayer, Beiersdorf, BMW, DeTeWe, Federal Express, Hewlett-Packard, Intel, Lufthansa, Metallgesellschaft, Motorola, Nestlé, Siemens, Vaillant, VW, Wella.

2.3.3 Mögliche Gründe für die zähe Entwicklung

Während in den USA die Entwicklung schon so weit fortgeschritten ist, dass dieses Instrument nicht nur für die Personal- und Organisationsentwicklung, sondern bereits für personalpolitische Zwecke eingesetzt wird, ist das 360 Grad-Feedback in Deutschland nicht unumstritten.[37] So heißt es nach Harrs: “Der Widerstand gegen Feedback ist in deutschen Unternehmen (noch) riesig, die Personaler haben mit Recht einen großen Respekt davor.“ „Es wird misstrauisch beäugt und vorsichtig gehandhabt.“[38]

Warum ist die Entwicklung bei uns nicht schon weiter fortgeschritten? Es kann mehrere Gründe geben:[39]

1. Die allgemeine Trägheit der Deutschen und die Angst vor Neuem bremsen die Ent-wicklung dieses Instruments.
2. Die Forschung lieferte bisher wenig Informationen zur Einführung, Schulung und Validität des 360 Grad-Feedbacks. Demzufolge sind dieses Instrument sowie dessen Nutzen wenig bekannt.
3. Bislang war die Technik der Software noch nicht ausgereift. In den 70-er und 80-er Jahren wurden Mehrfachbeurteilungssysteme von Großrechnern verwaltet, die langsam und teuer waren, die Kosten-Nutzen-Relation wurde als un-angemessen betrachtet. Inzwischen stehen verbesserte Softwarelösungen zur Ver-fügung.
4. Der Faktor Kosten kann eine große Rolle spielen: Bei der Einführung von 360 Grad-Feedback entstehen Kosten für den Einsatz entsprechender Software, Lizen-zen, Updates, Material- und Telefonkosten, für Ressourcen im administrativen Bereich sowie für externe Berater, etc.[40]

Ferner fallen zudem indirekte Kosten an für die Zeit, die benötigt wird für Schulungen der Feedbackgeber und der Feedbacknehmer, Ausfüllen und Aus-wertung der Fragebögen sowie Erstellung von Aktionsplänen, Durchführung von Workshops usw.

5. Die Ergebnisse einer Studie zeigten, dass der Hauptwiderstand „in der Befürch-tung vor dem Beurteilt-werden und dessen Folgen“ liegt. Feedback wird demnach irrtümlicherweise als Be“urteil“ung gewertet und 360 Grad-Feedback als ver-steckte Selektionsmaßnahme betrachtet, um die „guten“ von den „schlechten“ zu trennen. Aus diesem Gedanken heraus resultieren Ängste vor einer Verurteilung sowie Furcht vor Verlust des Arbeitsplatzes. Harrs beschreibt die derzeitige Situa-tion sogar so: Kollegeneinschätzungen werden als „Spitzelkultur“ und „Petzerei“ betrachtet.[41]
6. Eine Aufwärtsbeurteilung kann eventuell mit einer konservativen und hierarchisch geprägten Unternehmenskultur nicht im Einklang stehen, die von den Entschei-dungsträgern - den Führungskräften - ganz wesentlich geprägt wird. Autoritäre Führungskräfte sträuben sich i. d. R. dagegen, „beurteilt“ und möglicherweise kri-tisiert zu werden.[42]

2.4 ANLÄSSE FÜR EINE EINFÜHRUNG

Für die Einführung des 360 Grad-Feedbacks kann es verschiedene Anlässe geben: Die Strukturen einer Firma entwickeln sich weiter bzw. werden reorganisiert, die Unterneh-menskultur wandelt sich oder die Gründe liegen in der Personalwirtschaft.

2.4.1 Veränderungen der Strukturen

Während eine Führungskraft einst drei bis neun direkt unterstellte Angestellte zu führen hatte, erweiterte sich bis heute der Verantwortungsbereich zum Teil bis auf 70 Mitar-beiter. Traditionelle Bewertungssysteme, wie Top down-Beurteilungen sind aufgrund der hohen Anzahl und des immensen Zeitaufwandes für den Vorgesetzten damit kaum noch tragbar, Ergebnisse weder valide noch aussagekräftig. Sobald die Verantwortung und die Zeit - im Rahmen eines Mehrfachbewertungssystems - auf mehrere Gruppen, wie z. B. auch auf die Mitarbeiter und die Kollegen der Zielperson, verteilt werden, wird die Führungskraft, entlastet.

Strukturelle Neuerungen wie Matrixorganisationen und die Aufstellung von Projektteams haben darüber hinaus zur Folge, dass Mitarbeiter in einem Projekt mehr als nur einen Vorgesetzten haben oder auch dass der Vorgesetzte von Projekt zu Projekt innerhalb eines kurzen Zeitraums wechselt. Einschätzungen von Projektkollegen, die im Gegen-satz zum direkten Vorgesetzten dauerhaft mit der einzuschätzenden Person zusammen arbeiten, sind glaubwürdiger, da die Teammitglieder durch die tägliche Zusammen-arbeit Verhaltensweisen besser beobachten können.[43]

2.4.2 Wandel der Unternehmenskultur

Die einst in Deutschland oft vorherrschende, stark hierarchisch geprägte Unterneh-menskultur hat sich im Laufe der Zeit einem Wandel unterzogen. Neue Werte wie Team-management, Lean Management und Empowerment stehen im Vordergrund, die auf-zeigen, dass sich Organisationsstrukturen zu flachen Hierarchien entwickeln, in denen die Kontrolle von oben nach unten ab- und die Verantwortung von oben nach unten allmählich zunimmt.[44]

Auch der Wunsch nach einer Optimierung der unternehmensinternen Kommunikation kann Anlass für die Implementierung von 360 Grad-Feedback sein. Im Gegensatz zum einseitigen Beurteilungssystem, wie einem Mitarbeitergespräch, verbessern Mehrfach-bewertungen die Offenheit und das Verständnis zwischen Vorgesetzten und Mitar-beitern.[45]

In der heutigen Arbeitswelt gewinnt die Kundenorientierung zunehmend an Bedeutung. 360 Grad-Feedback kann - sofern Kundeneinschätzungen in die Datenerhebung mit ein-bezogen werden -, dazu beitragen, dass sich Servicequalität und Kundenbeziehung ver-bessern und somit auch die Produktivität und der Erfolg eines Unternehmens steigt.[46]

[...]


[1] Vgl. Neuberger, O., 2000, S. 7

[2] Vgl. Gerpott, T., 2000, S. 355

[3] Vgl. www.4managers.de, 24.02.2004

[4] Vgl. Gerpott, T., 2000, S. 355

[5] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 56

[6] Vgl. Wegner, M., 2002, S. 100

[7] Vgl. Neuberger, O., 2000, S. 23

[8] Vgl. Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P., S. 85ff; Thönnessen, J., 1999, S. 101

[9] Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P., 1999, S. 87

[10] Vgl. Neuberger, O., 2000, S. 8ff

[11] Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P., 1999, S. 85

[12] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 98

[13] Vgl. Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P., 1999, S. 86

[14] Vgl. Ziebell, E. / Dries, C., 2001, S. 27

[15] Vgl. Neuberger, O., 2000, S. 36ff; Magnus, S., 2004, S. 26

[16] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 122ff; Magnus, S., 2004, S. 127

[17] Vgl. Poesch, A. / Klein, U., 2001, S. 25; Kaul, C. / Geßner, A., 1998, S. 44

[18] Vgl. Bußmann, N., 1998, S. 60

[19] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 124

[20] Ebd., S. 126

[21] Ebd., S. 135

[22] Ebd., S. 139

[23] Vgl. Schöning, H., 1998, S. 39

[24] Vgl. Thönnessen, J., 1999, S. 100f

[25] Vgl. Edwards, M. / Ewan A., 2000, S. 147

[26] Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P., 1999, S. 86f; Vgl. www.4managers.de, 24.02.2004

[27] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 152ff

[28] Vgl. Bußmann, N., 1998, S. 55; Dries, C., 2001, S. 90

[29] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 42

[30] Vgl. Wegner, M., 2002, S. 100; Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 43

[31] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 38

[32] Vgl. Schöning, H., 1998, S. 37

[33] Vgl. Bußmann, N., 1999, S. 55

[34] Vgl. Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P., 1999, S. 85

[35] Vgl. Neuberger, O. / Rastetter, D., 2000, S. 22

[36] Vgl. Pinnow, D., 2004, S. 30

[37] Vgl. Kaul, C. / Geßner, A., 1999, S. 45

[38] Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P. 1999, S. 85

[39] Vgl. Edwards, M. / Ewen, A., 2000, S. 46f

[40] Vgl. Neuberger, O., 2000, S. 14

[41] Vgl. Harrs, C. / Maier, K. / Weill, P., 1999, S. 85f

[42] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 46

[43] Vgl. Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 25ff

[44] Vgl. Bußmann, N., 1998, S. 56

[45] Vgl. Kessler, B., 2002, S. 40

[46] Vgl., Edwards, M. / Ewan, A., 2000, S. 27

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
360 Grad-Feedback. Ein geeignetes und empfehlenswertes Instrument der Personal- und Organisationsentwicklung?
Untertitel
Eine empirische Untersuchung zum aktuellen Stellenwert in Deutschland
Hochschule
Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Wiesbaden e.V.
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
99
Katalognummer
V39151
ISBN (eBook)
9783638380157
Dateigröße
899 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Was ist "360 Grad Feedback", wie das Verfahren? Welchen Ursprung hat es, welche bisherige Entwicklung? Wann wird es eingesetzt, welche Ziele verfolgt es? Was spricht dagegen, was dafür? Dies beantwortet der theoretische Teil. Im Anschluss wurden aufgrund des bis dato vorliegenden Wissensstands Hypothesen zur Anwendung/Verfahren, zur Akzeptanz und zum Stellenwert dieses Instruments aufgestellt. Die Hypothesen wurden dann im praktischen Teil anhand einer empirischen Untersuchung be- bzw. widerlegt.
Schlagworte
Grad-Feedback, Instrument, Personal-, Organisationsentwicklung, Eine, Untersuchung, Stellenwert, Deutschland
Arbeit zitieren
Martina Kurz (Autor:in), 2004, 360 Grad-Feedback. Ein geeignetes und empfehlenswertes Instrument der Personal- und Organisationsentwicklung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39151

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