Die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit. Erklärung eines allgegenwärtigen Phänomens


Bachelorarbeit, 2017

85 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Anliegen und Ziel der Arbeit
1.2 Terminologie

2 Psychodynamische Erklärungsansätze zur Fremdenfeindlichkeit
2.1 Übersicht über die Strukturierung der Erklärungsansätze
2.2 Zentrale psychodynamische Konzepte: Abwehr und Regression
2.3 Die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit und ihre Funktionalität
2.4 Die Psychodynamik auf der Makroebene
2.5 Die Funktionalität der Fremdenfeindlichkeit: Zusammenfassung und ergänzende Aspekte

3 Möglichkeiten zusätzlichen Erkenntnisgewinns durch psychodynamische Methodik
3.1 Hinführung zur Problem- und Fragestellung
3.2 Differenzierung des Begriffs von Objektivität
3.3 Die tiefenhermeneutische Analyse als psychodynamisch orientierte Forschungsmethode
3.4 Tiefenhermeneutische Analyse in der Studie von Taubner et al.
3.5 Die Bedeutung von Taubners Analyse für das Verstehen von Fremdenfeindlichkeit

4 Psychodynamische Implikationen für den Umgang mit Fremdenfeindlichkeit
4.1 Implikationen für die alltägliche Praxis und das politische Handeln
4.2 Implikationen für die Forschung
4.3 Implikationen für die Psychotherapie
4.4 Implikationen für die Prävention

5 Diskussion

Literaturverzeichnis

Dank

1 Einführung

1.1 Anliegen und Ziel der Arbeit

Der Anlass des vorliegenden Reviews sind aktuelle politische Entwicklungen in Deutschland, Europa und der Welt. Nicht erst seit kurzem scheint sich in Deutschland und darüber hinaus ein starker Anstieg von Fremdenfeindlichkeit abzuzeichnen. Diese Entwicklung ist es, die ein Verstehen der zugrunde liegenden Psychodynamik dringend erforderlich macht. Der Frage nach den psychodynamischen Mechanismen, die hinter Fremdenfeindlichkeit in Form von Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und vergleichbaren Phänomenen stehen, widmet sich diese Arbeit.

Es geht demnach nicht vorrangig um radikales, extremistisches und gewalttätiges Verhalten im Speziellen, sondern vielmehr um die dem Verhalten zugrunde liegende Psychodynamik im Allgemeinen. Im Fokus muss daher ein Konzept stehen, das sich nicht allein auf das Verhalten, sondern auch auf Einstellungen und Affekte sowie auf unbewusste Vorgänge beziehen kann. Das Konzept des "Fremden" und der Fremdenfeindlichkeit erscheint dafür aufgrund seiner inhaltlichen Breite und der großen Beachtung, die es innerhalb der psychodynamisch orientierten Disziplinen gefunden hat, besonders geeignet. Im Mittelpunkt stehen damit nicht allein radikale oder extremistische Individuen. Die hier zusammengetragenen Forschungsarbeiten legen den Schluss nahe, dass die Dynamik, die Fremdenfeindlichkeit zugrunde liegt, sich weiter erstreckt als auf ablehnendes Verhalten und Gewalt gegenüber "Ausländern"; dass diese Dynamik nicht ein gesellschaftliches "Randphänomen", sondern im Gegenteil eine gesellschaftliche Normalität darstellt, die sich nur am sogenannten Rand der Gesellschaft in offener Gewalt entlädt. Fremdenfeindliches Verhalten wird als mögliches Symptom zugrunde liegender, in der Regel unbewusster Konflikte interpretiert. Im Fokus des Interesses steht hier nicht in erster Linie das Symptom (das individuelle Radikalverhalten), sondern der Konflikt und seine Dynamik. Dieser These folgend wird die Psychodynamik auf einer möglichst grundlegenden und umfassenden Ebene, als "Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit", untersucht.

Das Ziel des vorliegenden Reviews ist es, die psychodynamische Perspektive auf das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit zu erfassen und zu strukturieren. Nach einer Einführung in die notwendige Terminologie und die psychodynamischen Grundlagen werden zunächst Konzepte und Erklärungsmodelle vorgestellt, die Fremdenfeindlichkeit und ihre Funktionalität aus psychodynamischer Perspektive deuten und erklären. Solche Ansätze wurden von einer Vielzahl psychodynamisch orientierter Forscher und Praktiker vorgelegt; was jedoch bisher zu fehlen scheint, ist ein systematischer Überblick über diese inhaltlich sehr breit gestreuten Ansätze. Ein Ziel des ersten Teils des Reviews ist es, ausgehend von den Ergebnissen der Literaturrecherche eine Struktur zu erarbeiten, die die diversen Erklärungsansätze in einer dem Gegenstand angemessenen Art und Weise ordnet.

Dem ersten, inhaltlichen Teil folgt ein zweiter, methodischer Teil. Darin soll gezeigt werden, dass die psychodynamisch orientierten Disziplinen über Methoden verfügen, die einen qualitativ eigenen Zugang zum Thema Fremdenfeindlichkeit ermöglichen. Es handelt sich dabei um einen Zugang, den das quantitativ-objektive Verstehen allein nicht leisten kann und der zusätzlichen Erkenntnisgewinn ermöglicht. Diese These wird am Beispiel der tiefenhermeneutischen Analyse nach Alfred Lorenzer untersucht.

Abschließend werden einige Anregungen der behandelten Autoren zusammengefasst, die aus den psychodynamischen Modellen folgen und den Umgang mit Fremdenfeindlichkeit zum Thema haben.

1.2 Terminologie

1.2.1 Zur Verwendung des Begriffs "Psychodynamik"

Der Begriff der Psychodynamik wird in der klinischen Praxis und der akademischen Forschung zweideutig verwendet. Einerseits wird damit Bezug genommen auf eine bestimmte theoretische und therapeutisch-praktische Grundorientierung, andererseits auf die einer bestimmten Störung oder Persönlichkeitsstruktur innewohnende Dynamik. Benedetti (1979) schlägt vor, die Psychodynamik "nicht gegenüber der Psychoanalyse abzugrenzen, sondern die Psychodynamik als den eigentlich bleibenden Beitrag der Psychoanalyse zur Psychiatrie" zu betrachten (Böker, 2006, S. 164). Für Benedetti ist Psychodynamik einerseits eine bestimmte "Lehre", "die Lehre, wie Psychisches aus Psychischem hervorgeht" (Benedetti 1979, zitiert nach Böker, 2006, S. 164). Andererseits ist sie selbst die Beschreibung und Charakterisierung dieser Vorgänge im Besonderen, also "das Wechselspiel psychischer Kräfte, Triebe, Motivationen, Charakterhaltungen, Widerstände, Ängste usw." (ebd.).

Die vergangenen Jahrzehnte waren geprägt von einem (zum Teil bis heute andauernden) Schulenstreit, dessen Ergebnis eine Spaltung der Psychologie in verschiedene "Lager" ist, nämlich die akademische, empirische Psychologie und "die Psychodynamik" oder Psychoanalyse. Empirische Daten[1] zeigen, dass Studierenden im Rahmen einer universitären Ausbildung diese Dichotomie noch immer implizit oder auch offen nahe gelegt wird; dies reicht teilweise bis hin zu einer deutlichen Ablehnung oder einer weitestgehenden Ausblendung der Analyse aus dem akademischen Bereich. Ein Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, diesem Missstand entgegenzuwirken. Es geht dabei nicht darum, für eine "Seite" in dem zutiefst unfruchtbaren Schulenstreit Stellung zu beziehen. Es ist nicht plausibel, anzunehmen, die restlose Erklärung eines so komplexen Phänomens wie der Fremdenfeindlichkeit obläge einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin (etwa der Psychologie), oder gar nur einer bestimmten Strömung innerhalb dieser Disziplin (etwa der Psychoanalyse). Was der Soziologe Klaus Wahl (Wahl, Tramitz & Blumtritt, 2001, S. 36) für seine Disziplin zeigt, gilt mutatis mutandis auch für die Psychologie: Dass nämlich ein wissenschaftlicher Reduktionismus bei komplexen Konstrukten den Erkenntnisfortschritt stärker hemmt als voran treibt. Um einen "psychologischen Reduktionismus" zu vermeiden, wird hier ausdrücklich darauf hingewisesen, dass die psychodynamische Perspektive als eine Perspektive unter vielen angesehen wird. Sie erklärt das Phänomen ebenso wenig wie andere Perspektiven restlos, liefert aber dennoch wichtige Beiträge zum Verständnis bestimmter Aspekte.

Aus diesem Grund wird hier davon abgesehen, die Psychodynamik als ein in sich geschlossenes und gegenüber anderen abzugrenzendes Theoriegebäude zu betrachten. Zwar ist die "Psychodynamik als Theorie intrapsychischer Vorgänge [...] mit der Annahme eines unbewussten Geschehens verbunden" (Böker, 2006, S. 30) und damit zunächst einmal das "Spezialgebiet" der Psychoanalyse als der "Wissenschaft vom Unbewußten" (Freud, 1926, zitiert nach Lorenzer, 2013, S. 7). Gleichzeitig steht die Psychoanalyse seit Freud immer in einem beiderseitigen Austausch mit anderen, näher oder ferner angrenzenden Nachbardisziplinen, aus denen bis heute wertvolle Anregungen für das Verständnis der Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit entstehen.

Psychodynamik wird hier erstens verstanden als ein "Wechselspiel psychischer Kräfte" wie Triebe, Motivationen, Charakterhaltungen, Widerstände, Ängste und ähnlichem (s. o.). Zweitens wird davon ausgegangen, dass das Unbewusste, bzw. unbewusste Vorgänge darin eine zentrale Rolle spielen. Drittens wird von einer Funktionalität der Fremdenfeindlichkeit und einem bestimmten Symptombegriff ausgegangen: Der sich im Symptom[2] äußernden Dynamik liegt ein (unbewusster) Konflikt zugrunde; das Symptom hat dabei die Funktion, den Konflikt (meist suboptimal) zu lösen[3]. Es handelt sich damit um einen schulenübergreifenden Begriff von Psychodynamik, der sowohl mit psychoanalytischen als auch mit sozial-, motivations- oder verhaltenspsychologischen Termini sinnvoll gefüllt werden kann.

1.2.2 Zur Verwendung des Begriffs "Fremdenfeindlichkeit"

Im folgenden Kapitel wird eine Abgrenzung des Konzepts "Fremdenfeindlichkeit" zu verwandten Begriffen vorgenommen. Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen ist die in der Alltagssprache verbreitete Gleichsetzung von Fremdenfeindlichkeit mit Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum anderen lässt diese Gleichsetzung Aspekte des Fremden unberücksichtigt, die gerade aus psychodynamischer und psychoanalytischer Perspektive entscheidend sind.

Sow kritisiert die Verwendung des Begriffes "Ausländerfeindlichkeit" im Zusammenhang mit rassistisch motivierten Handlungen (Sow, 2009, S. 31 ff.). Dies setze voraus, dass die Handlung wegen der im Pass des Opfers vermerkten Staatsangehörigkeit (die dem Täter in der Regel zum Tatzeitpunkt nicht bekannt ist) und nicht etwa wegen äußerer Merkmale des Opfers verübt wurde. Angriffe z. B. gegenüber Schwarzen Deutschen oder Geflüchteten mit deutscher Staatsangehörigkeit werden demnach oft reflexhaft, aber fälschlicherweise als "ausländerfeindliche Handlungen" bezeichnet. Aufgrund der begrifflichen Unschärfe und der Tatsache, dass der Begriff die eigentlichen (rassistischen) Motive einer Tat verschleiert, ist nach Sow von der Verwendung des Begriffs "Ausländerfeindlichkeit" Abstand zu nehmen.

Dasselbe gilt laut Sow für den Begriff "Fremdenfeindlichkeit". Hier würden, wie auch im Fall der "Ausländerfeindlichkeit", Täter-Opfer-Relationen verzerrt: "Der Ausdruck 'fremdenfeindlich' birgt [...] die Gefahr, dass fälschlicherweise ein kausaler Zusammenhang zwischen 'fremd sein' und der Tat hergestellt wird, das heißt, dass unterschwellig der Eindruck entstehen kann, die Tat sei verübt worden, weil jemand fremd war" (Sow, 2009, S. 31 ff.). Beide Begriffe suggerieren implizit, dass die Tat aufgrund einer dem Opfer zuzuschreibenden "Eigenschaft"[4] und nicht aufgrund der Einstellungen des Täters begangen wurde. Dadurch wird ein sprachlicher Frame geschaffen, der die Täter entlastet (siehe dazu auch Wehling, 2016, S. 158).

Mit einer ähnlichen Begründung lässt sich gegen den Begriff der Xeno phobie argumentieren. Wehling (2016) entwickelt das Argument anhand des verwandten Begriffes der "Islamophobie", der eine ähnlich unangemessene semantische Rollenverteilung impliziert:

"Phobie-Patienten sind Opfer einer Angststörung, an der sie 'leiden'. Es gibt einen Auslöser, der die phobische Reaktion des Opfers hervorruft [...]. Der durch den Begriff 'Islamophobie' erweckte Frame erzählt folgende Geschichte: Muslime jagen panische Angst ein, man zieht sich zurück und meidet sie. Sie selbst spüren keine Auswirkungen der phobischen Reaktion [...]. Der Frame profiliert Muslime als Angstauslöser und macht die gegen sie gerichtete Haltung als ein Leiden begreifbar." (ebd., S. 158)

Damit werden Täter-Opfer-Relationen verfälscht dargestellt, die Verantwortung von den Tätern auf die Opfer verlagert und deren Leiden unter der Diskriminierung ausgeblendet (ebd.). Das Argument bezieht sich in identischer Weise auf die Xenophobie bzw. den englischen Begriff "xenophobia" als Übersetzung von Fremdenfeindlichkeit. Auch dieser Begriff ist als problematisch einzustufen.

Sow plädiert für die Verwendung des Begriffes "Rassismus" (Sow, 2009, S. 31 f.), der nach Wahl et al. Ideologien bezeichnet,

"die (1) sich in irgendeiner Form auf (wirkliche oder vermeintliche) biologisch-phänotypische Unterschiede beziehen, (2) dazu weitere Charaktereigenschaften assoziieren sowie (3) auf logisch zweifelhafte Weise aus derartigen Wahrnehmungen oder Aussagen über das Sein von Menschen Aussagen über das Sollen ableiten wollen. [...] Insofern wäre Rassismus dann eine der verschiedenen Erscheinungsformen von Fremdenfeindlichkeit." (Wahl et al., 2001, S. 28)

Der Vorteil des Rassismus-Begriffs ist, dass er auf eine operationalisierbare Eigenschaft der Täter und nicht auf eine vermeintliche Eigenschaft ("fremd"- oder "Ausländer"-Sein) der Opfer referiert. Allgemein wird von verschiedenen Autoren nahe gelegt, differenzierte Begriffe zu verwenden, die Täter-Opfer-Relationen angemessen und in geeigneten sprachlichen Frames abbilden (neben Rassismus z. B. Antisemitismus, Nationalismus, Rechtsextremismus etc.).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, mit welcher Begründung im vorliegenden Review dennoch von Fremdenfeindlichkeit gesprochen wird. Dies liegt daran, dass es darin nicht in erster Linie um Rassismus, Antisemitismus oder "Ausländerfeindlichkeit", sondern tatsächlich um Feindlichkeit gegenüber "dem Fremden" geht. Dabei wird "das Fremde" als ein Begriff konzipiert, der sich weiter erstreckt als auf den als fremd wahrgenommenen Menschen und nur in letzter Instanz auf diesen referiert. Fremdenfeindlichkeit wird in dieser Arbeit nicht synonym mit Rassismus verwendet; vielmehr wird Rassismus als "Symptom", als Folge und Teilaspekt des übergeordneten Konzepts "Fremdenfeindlichkeit" gesehen. Wo es im Folgenden tatsächlich um Rassismus geht, wird dieser so benannt oder rassistisches Handeln als "fremdenfeindlich motiviert" umschrieben. In allen übrigen Kontexten ist der Begriff der Fremdenfeindlichkeit nicht notwendig an nationales, ethnisches oder kulturelles Anderssein gebunden. Das führt zu der Frage, was im vorliegenden Kontext unter "fremd" zu verstehen ist.

Fremdheit ist im Folgenden nicht (ontologisch) als ein Prädikat des als fremd wahrgenommenen Menschen, sondern vielmehr (epistemisch) als eine Zuschreibung des als fremd wahrnehmenden Subjekts zu interpretieren. Schäfer und Schlöder definieren das Fremde vom Eigenen, von der eigenen Identität her: "Das Fremde ist das, was in der Bestimmung der Identität einer Person oder eines sozialen Gebildes ausgegliedert wird" (Schäfer & Schlöder, 1994, S. 71). Fremd ist damit für eine Person das, was sie als fremd im Sinne von "uneigen" auffasst:

"Das Fremde im engeren Sinne ist das Uneigene als all das, was unser Selbstverständnis, das, was wir sind und was wir sein wollen, in Frage stellt [...]: die Eigenschaft, die wir nicht haben oder uns jedenfalls nicht zuzuschreiben bereit sind [...]. Das Uneigene ist insoweit das Andere, das, was nach der Bestimmung unserer selbst nicht zu uns gehört." (ebd., S. 70)

Das Fremde ist für Schäfer und Schlöder einerseits das Element, an dem sich Identität konstituieren kann (Schäfer & Schlöder, 1994, S. 72), das als "bedeutsame Abweichung" vom Eigenen aber auch eine Herausforderung für die eigenen Identität darstellt: "Eine Abweichung ist bedeutsam, wenn sie Standards meiner Orientierung und meiner Selbstdefinition in der Welt berührt" (ebd.). Hier zeigt sich, dass der Fremde nicht notwendig der "Ausländer" sein muss; es kann jede Person oder soziale Instanz sein, durch die ein Selbst- und Weltverständnis in bedeutsamer Weise infrage gestellt oder relativiert wird. Die Autoren beziehen sich auch auf Georg Simmel, für den der Begriff des Fremden als "Dialektik von Nähe und Ferne" (ebd., S. 69) ebenfalls ein perspektivischer und relativer ist. Fremd ist bei Simmel das, was jemandem in entscheidender Hinsicht nah, ähnlich oder vertraut ist, aber in einer anderen, ebenso entscheidenden Hinsicht fern, unähnlich und unvertraut.

Schütz bestimmt den Fremden ebenfalls von der ihn als fremd einstufenden Gruppe her. Er definiert ihn als "einen Erwachsenen unserer Zeit und Zivilisation [...], der von der Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte" (Schütz, 1972, S. 53). Der Fremde ist nicht allein der Immigrant, sondern auch, "wer sich in einem geschlossenen Club um Mitgliedschaft bewirbt, der zukünftige Bräutigam, der in die Familie seines Mädchens aufgenommen werden möchte, der Junge vom Land, der auf die Universität geht, der Städter, der sich in einer ländlichen Gegend niederläßt" und so weiter (ebd.). Der Begriff des Fremden bezieht sich folglich nicht auf eine Eigenschaft ("fremd"), sondern ist Ausdruck eines Verhältnisses. Dieses Verständnis des Fremden liegt der Verwendung des Begriffs der Fremdenfeindlichkeit im vorliegenden Review zugrunde.

Ungeachtet der oben erfolgten Abgrenzungen bezieht sich ein Großteil der hier zitierten Autoren auf Rechtsradikalismus, Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus oder "Ausländerfeindlichkeit". Dies wird hier aus zwei Gründen als unproblematisch angesehen: Erstens stellen diese Phänomene entscheidende Teilaspekte der Fremdenfeindlichkeit dar bzw. können als deren "Symptome" interpretiert werden; das Erfassen ihrer Psychodynamik trägt also zu einem Verständnis der Fremdenfeindlichkeit bei. Zweitens wird in Kapitel 3.5. gezeigt, dass sich die mithilfe der Texte dieser Autoren identifizierte Psychodynamik auch auf Situationen übertragen lässt, in denen Fremdenfeindlichkeit nicht in Form von Ablehnung gegenüber ethnisch oder kulturell anderen Menschen zeigt. Das Argument ist, dass die anhand der Analyse von Rassismus etc. identifizierte Psychodynamik auf das übergeordnete Konzept des Fremden und der Fremdenfeindlichkeit übertragbar ist. Das heißt, das Verständnis der Psychodynamik von Rassismus etc. führt zu einem Verständnis der Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit.

Ausgehend von der nun erarbeiteten soziologischen und sozialpsychologischen Basis soll im Folgenden der Begriff des Fremden aus psychoanalytischer Perspektive betrachtet werden.

1.2.3 Der Begriff des Fremden in der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse verwendet den Begriff des Fremden nicht ausschließlich im Zusammenhang mit dem als fremd empfundenen Menschen. Mit dem Begriff wird auch

"jenes Fremde angesprochen, wie es Psychoanalytikern bei ihrer klinischen Arbeit mit ihren Patienten begegnet. Dort ist das Fremde das Unbewußte selbst, die nicht entschlüsselten Botschaften, das aus der öffentlichen Verständigung Exkommunizierte bzw. das nie in die öffentliche Kommunikation Aufgenommene." (Streeck, 2000, S. 9).

Der Begriff bezieht sich nicht nur auf etwas äußerlich fremdes, sondern auch auf innere Anteile, die verdrängt und aus dem Bewusstein ausgeschlossen wurden. Der Psychoanalytiker Arno Gruen beschreibt das Fremde wie folgt:

"Der Fremde in uns, das ist der uns eigene Teil, der uns abhanden kam [...]. Wir alle haben tiefgreifende Unterdrückung und Ablehnung erlebt. In unserer Kultur ist es üblich, dass man in seinem Kindsein zurückgewiesen wird, weil man nicht den Erwartungen von Erwachsenen entspricht. Gleichzeitig darf ein Kind sich nicht als Opfer erleben, denn das würde dem Mythos widersprechen, dass ja alles aus Liebe und zu seinem Besten geschieht. So wird das Opfersein zur Quelle eines unbewussten Zustandes, in dem das eigene Erleben als etwas Fremdes ausgestoßen und verleugnet werden muss." (Gruen, 2015, S. 7)

In diesem Zitat ist bereits viel von der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit zusammengefasst. Psychoanalytisch orientierte Autoren sprechen vom Fremden als einem Teil von uns selbst, der im Lauf der Entwicklung verleugnet werden musste - etwa weil dieser Teil von der Kultur unterdrückt wurde oder von den Eltern nicht angenommen werden konnte. Dieser Teil wird dann ausgestoßen, verleugnet und nach außen projiziert. Der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim prägte den viel zitierten Begriff der "Fremdrepräsentanz" (Erdheim, 1996, S. 176 f.), einem größtenteils unbewussten inneren Bild vom Fremden. Für ihn definiert sich das Fremde in der Entwicklung zunächst aus einer Negation:

"In seiner primitivsten Form ist das Fremde die Nicht-Mutter, und die bedrohliche Abwesenheit der Mutter lässt Angst aufkommen. Angst wird immer, mehr oder weniger, mit dem Fremden assoziiert bleiben, und es bedarf stets einer Überwindung der Angst, um sich dem Fremden zuzuwenden." (Erdheim, 1992, S. 732)

Der Psychoanalytiker Wulf Volker Lindner charakterisiert die Fremdrepräsentanz wie folgt: "Diese Repräsentanz enthält die Summe der Erfahrungen, die aus der Begegnung mit Fremdem und fremden anderen oder von uns selbst als fremd Erlebten stammen, beginnend mit den frühesten und endend mit den letzten Erfahrungen." (Lindner, 1994, S. 148). Dabei erfüllt die Fremdrepräsentanz eine wichtige psychische Funktion:

"Eine der wichtigen Funktionen der Fremdrepräsentanz besteht darin, Spannungen zu neutralisieren, die das Verhältnis des Kindes zuerst zu seiner Mutter, dann zum Vater und den Geschwistern und schließlich zu sich selbst bedrohen könnten. Im Bild des Fremden sammelt sich allmählich all das an, was an den Eltern, an Brüdern und Schwestern und an sich selber bedrohlich ist bzw. war. Das Bild der Mutter wird wieder makellos, aber der Fleck taucht nun im Bild des Fremden auf: Nicht die Mutter ist böse [...], sondern der Fremde ist es [...]. Ebenso ergeht es den eigenen verpönten Wünschen [...]. So vermag sich die Fremdrepräsentanz zu einer Art Monsterkabinett des verpönten Eigenen zu entwickeln. Der Gewinn ist beträchtlich, denn das Eigene wird zum Guten und das Fremde zum Bösen." (Erdheim, 1996, S. 177)

Auch der Psychoanalytiker Thomas Auchter beschreibt das Fremde als etwas, das primär in uns und nicht außerhalb von uns zu finden ist:

"Wenn wir das Wort 'fremd' hören, denken wir wahrscheinlich immer an die fremden Anderen. Wir übersehen dabei, dass wir selbst für die meisten andere Fremde sind. Und wir machen uns wohl auch nur selten bewusst, dass wir uns selbst in nicht unerheblichem Maße fremd sind, 'nicht Herr im eigenen Haus' (Freud, 1917a). Der Name dieses Fremden ist das 'Unbewusste', das in viel größerem Maße als wir gewöhnlich bereit sind, anzuerkennen, unser persönliches und soziales Verhalten und Erleben beeinflusst." (Auchter, 2012, S. 322)

Im Laufe der menschlichen Entwicklung wird das zunächst negativ als Nicht-Ich und Nicht-Mutter definierte Fremde positiv mit Bedeutung "gefüllt" (Waldeck, 2001, S. 37). Menschen machen Erfahrungen mit Fremden und entwickeln anhand dieser Erfahrungen ihre je eigene, stets veränderlich bleibende Fremdrepräsentanz. Diese mentale Repräsentanz kann als "Container" für eigene verdrängte Anteile fungieren. Der Überschritt von der bloß mentalen Repräsentanz zum realen, als fremd wahrgenommenen Menschen findet da statt, wo das Eigene, das nicht als Eigenes zugestanden werden kann, als etwas fremdes abgespalten wird. Der fremde Mensch wird hier zur Projektionsfläche:

"'Projektion' ist eine seelische Operation, bei der das Subjekt Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle oder auch innere Spannungen und Konflikte aus sich ausschließt (Externalisierung) und in dem anderen Objekt[5] lokalisiert. [...] Zum Beispiel erinnern uns die Sinti und Roma [...] an unsere eigenen romantischen Wünsche und Fantasien (auch wenn sie mit der Wirklichkeit der Sinti und Roma wenig zu tun haben), frei und ungebunden 'herumzuzigeunern'. Da wir bei uns aus verschiedensten Gründen solche Wünsche verdrängen und unterdrücken müssen, müssen wir ihre Repräsentanten, die Sinti und Roma, unterdrücken und vertreiben." (Auchter, 2012, S. 335)

Es wird bereits deutlich, dass es sich bei den wesentlichen Abwehrmechanismen, die bei der Fremdenfeindlichkeit beteiligt sind, um Spaltung und Projektion handelt. Das verpönte, tabuisierte oder bedrohliche Eigene wird externalisiert und auf den fremden Menschen projiziert, um in ihm abgelehnt und bekämpft werden zu können. Werner Bohleber fasst diese Dynamik sehr präzise zusammen: "Das Anderssein des Fremden ist keine Bereicherung, sondern eine Erinnerung an eigene misslungene Integrationsprozesse, die mit der Ausstoßung unerwünschter, nicht integrierbarer eigener Anteile endeten" (Bohleber, 1992, S. 706).

Eine Aufgabe des vorliegenden Reviews ist es, deutlich zu machen, auf welche Weise sich dieser Prozess von Spaltung und Projektion im einzelnen vollzieht. Einleitend sollte vor allem deutlich gemacht werden, dass aus psychodynamischer Perspektive Fremdenfeindlichkeit nicht in erster Linie Rassismus meint, sondern dass dieser im Gegenteil eher als Symptom einer Ablehnung und Projektion des als fremd erlebten und verdrängten Eigenen interpretiert wird. Der Ausbruch rassistischer Gewalt ist dann vielmehr das Ergebnis eines missglückten "Selbstheilungsversuchs" (Auchter, 2012, S. 332) im freudschen Sinne einer "Schiefheilung" (Bohleber, 1992, S. 689).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Fremde aus der Perspektive der Psychoanalyse ein vielschichtiger Begriff ist, der sich nur teilweise auf fremde Menschen und Angehörige anderer Ethnien bezieht. Das Fremde ist zunächst eine Negation: Das Nicht-Ich, die Nicht-Mutter; das, was die narzisstische Einheit zwischen Mutter und Kind durchbricht, nicht "identisch" damit ist. Weiterhin ist das Fremde das eigene Unbewusste mit seinen verdrängten Inhalten, z. B. Erfahrungen des Opferseins, Missachtung der persönlichen Eigenart durch die Bindungspersonen oder verpönte und tabuisierte eigene Wünsche. In dritter Instanz ist es der als fremd erlebte andere Mensch in seiner Eigenschaft als Projektionsfläche für erfahrene Ablehnung des Eigenen, sowie für die Inhalte der eigenen (prozesshaft zu verstehenden) Fremdrepräsentanz.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich der Begriff des Fremden in der Psychoanalyse als vielseitiges Konzept; dennoch wird ein wichtiger Aspekt des Fremden oft vernachlässigt. Klaus Wahl kritisiert, dass, obwohl das Fremde in der Psychoanalyse zentral sei[6], sie zu wenig auf den konkreten, in einem bestimmten Kontext als fremd wahrgenommenen Menschen referiere. Psychoanalytischen Theorien werde vorgeworfen, "Probleme im Umgang mit Fremden nur als Projektion kranker Seelen zu begreifen und damit [...] die Fremden gerade als Fremde und das Interaktive zwischen ihnen und uns nicht ernst zu nehmen" (Wahl et al., 2001, S. 99). Diesem Mangel wird in jüngerer Vergangenheit nach und nach Rechnung getragen (vgl. hierzu die Beiträge von Varvin und Leuzinger-Bohleber et al. in der Zeitschrift "Psyche" (70. Jahrgang, Heft 9/10, Oktober 2016)). Dennoch bleibt die Gefahr bestehen, den fremden Menschen zu wenig als solchen, sondern vorrangig in seiner Funktion als Projektionsfläche (für weiße, westliche Patienten) wahrzunehmen. Dadurch wird die Psychoanalyse angreifbar für den Vorwurf des Ethnozentrismus.

Dieses Problem wird seit längerer Zeit innerhalb der Psychoanalyse diskutiert; interessanterweise tun dies vor allem solche Psychoanalytiker, die selbst Erfahrungen als Opfer von Rassismus gemacht haben, zum Teil sogar in ihrer Eigenschaft als Analytiker. M. Fakhry Davids zitiert dazu seinen Kollegen Jafar Kareem:

"Der typische Psychoanalytiker [...] sei weiß, westlich und privilegiert. Da 'psychoanalytische Annahmen über die Natur [...] psychologischer Funktionsweisen mehr mit westlichen kulturellen Bedeutungen aufgeladen sind, als wir gemeinhin zugestehen' (Roland 1996, S. 71), sollten Analytiker deshalb am besten nur ihresgleichen analysieren (Pérez Foster, 1996). Patienten, die tagtäglich rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt sind, empfinden unsere Ignoranz nämlich als überaus belastend. Sie haben einerseits das Gefühl, dass ihre Erfahrungen - Erfahrungen, die sie als Mitglieder bestimmter Gruppen tatsächlich machen - geleugnet werden, und andererseits, dass sie als jemand wahrgenommen werden, der sie überhaupt nicht sind: nämlich als jemand, der unter der Oberfläche seiner (andersfarbigen) Haut doch im Grunde westlich, zur Mittelklasse gehörig und weiß ist (Kareem 1988)." (Kareem, 1988, zitiert nach Davids, 2016, S. 783)

Auch Attia et al. weisen auf diesen Punkt hin (Attia et al., 1995, S.1 f.). Zwar werden laut Davids alternative Modelle für die therapeutische Praxis entwickelt, u. a. von Kareem, Foster, Moskovitz & Javier und Roland (Davids, 2016, S. 783). Innerhalb des (weißen und westlichen) Mainstreams der Psychoanalyse stellt dieser Aspekt des Fremden aber immer noch einen blinden Fleck dar, der zu wenig thematisiert wird und deshalb hier kritisch zu Bewusstsein gebracht werden soll.

2 Psychodynamische Erklärungsansätze zur Fremdenfeindlichkeit

2.1 Übersicht über die Strukturierung der Erklärungsansätze

Einige der zentralen psychodynamischen Modellvorstellungen zur Fremdenfeindlichkeit sind in der Einführung bereits angeklungen. So besteht weitgehend Einigkeit über die Rolle der Regression und bestimmter Abwehrmechanismen. Darüber hinaus setzen die verschiedenen Autoren unterschiedliche thematische Schwerpunkte, die es nötig machen, eine Struktur für die Vielzahl der Erklärungsansätze zu entwickeln.

Eine geeignete Struktur ist von Thomas Auchter vorgeschlagen worden (Auchter, 2000, S. 227 ff.). Auchter arbeitet fünf mögliche Fixationspunkte in der Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit heraus. Die Sichtung der relevanten Literatur zeigt, dass Auchter hier genau die Punkte zusammenfasst, die von anderen Autoren in Einzelarbeiten schwerpunktmäßig behandelt werden. Daher sollen diese Fixationspunkte im vorliegenden Review als Ausgangsbasis dienen, um die verschiedenen Stadien in der Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit zu überblicken. Die Entstehung von Fremdenfeindlichkeit wird entlang der frühkindlichen, kindlichen und adoleszenten Entwicklung verfolgt. Die Frage ist, welche Rolle dabei verschiedene Entwicklungsstadien mit den für sie je typischen Entwicklungsaufgaben übernehmen.

Der erste Kristallisationspunkt liegt für Auchter "im Stadium der prä-ambivalenten, archaischen Spaltung zwischen 'nur gut' und 'nur böse', wobei das erstere mit dem Ich-Selbst-Komplex verbunden erlebt wird, der Unlust-Komplex (Kernberg 1985) dagegen mit dem Nicht-Ich, dem ' Außen' verknüpft wird." (ebd.). Hier geht es um die ganz frühe Zeit nach der Geburt, das Säuglingsalter. Die zweite Fixierungsstelle sieht Auchter "in der Phase des sog. - Fremdelns ('Achtmonatsangst', Spitz 1965), wobei die nunmehr gewachsene Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Mutter und Nicht-Mutter erlaubt, die unerwünschten aggressiven Affekte vom Bild der Mutter abzuspalten und auf den Fremden zu verschieben." (ebd., S. 229). Die dritte kritische Phase ist nach dem Fremdeln diejenige der anal-narzisstischen Konflikte, "vor allem zwischen Selbst- und Fremd -bestimmung." (ebd.). Ein Missglücken dieser Phase führe zu "Scham und Zweifel, Identifizierung mit dem Aggressor" (ebd.) und anderem. Die vierte Fixationsstelle liegt laut Auchter "in den Familienbeziehungen, die sich als 'Festung' (Richter 1970) organisiert haben, bei denen der intrafamiliäre Ambivalenzkonflikt durch eine Haltung der Feindseligkeit gegenüber allen Nichtfamilienmitgliedern zu bewältigen gesucht wird" (ebd., S. 230). Das Ertragenlernen von Ambivalenzen verhindert laut Auchter die Notwendigkeit von Feindbildern. Als fünften Fixationspunkt führt er Pubertäts- und Adoleszenzkonflikte an, die mit Identitätskonflikten und Selbst-Entfremdung einhergehen. Hier dient Fremdenfeindlichkeit u. a. als Möglichkeit der narzisstischen Aufwertung und der Projektion unerträglicher Selbstanteile (ebd., S. 230 f.).

Da die Schwerpunkte, die Autoren aus psychoanalytischer Perspektive bei der Erklärung von Fremdenfeindlichkeit setzen, sich gut in dieses Schema einfügen lassen, soll es als Leitfaden für den folgenden Teil des Reviews dienen. Es werden zunächst allgemein die zentralen Abwehrmechanismen und ihre Rolle für die Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit sowie die Rolle der Regression beschrieben. Dann wird die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit gemäß des Schemas von Auchter anhand der kindlichen und adoleszenten Entwicklung verfolgt. Über die Betrachtung der Mikroebene (individuelle Entwicklung) und der Mesoebene (familiäre Psychodynamik) hinaus folgen am Ende des ersten Teils Betrachtungen zur Makroebene (kollektive psychodynamische Aspekte) und zur Funktionalität der Fremdenfeindlichkeit für Individuum und Gesellschaft. Diese Struktur hat sich im Laufe der Forschungsarbeit als geeignet herausgestellt, um die Vielfalt der Beiträge zur Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit angemessen abzubilden.

2.2 Zentrale psychodynamische Konzepte: Abwehr und Regression

2.2.1 Wesentliche Abwehrmechanismen

Unter Abwehr werden ganz allgemein solche mentalen Vorgänge verstanden, mit deren Hilfe ein Mensch unerwünschte, bedrohliche oder schmerzliche Erinnerungen, Gefühle, Fantasien oder Konflikte von sich fern hält (Stumm & Pritz, 2007, S. 3). Die Funktion der Abwehr ist es, die Stabilität des psychischen Systems aufrecht zu erhalten und Reize zu vermeiden, die dessen Gleichgewicht stören (Müller, 2008, S. 2). Dabei kommen verschiedene Abwehr mechanismen zum Einsatz. Die für die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit vorrangig relevanten Abwehrmechanismen sind Spaltung, Projektion und projektive Identifikation.

Spaltung ist nach Melanie Klein ein Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe ein Mensch seine Umwelt in gute und böse Objektrepräsentanzen aufteilt (Stumm & Pritz, 2007, S. 657). Aber auch das eigene Selbst kann gespalten werden:

"Kann ein Mensch es nicht aushalten, gleichzeitig gute und böse Aspekte zu haben, spaltet er sein Selbst in Gut und Böse auf und erlebt immer nur das eine oder das andere. Ebenso kann mit den inneren und äußeren Objekten umgegangen werden. Es wird die Vorstellung entwickelt, eine Person der Vergangenheit sei nur gut oder nur böse gewesen." (König, 1997, S. 199)

Für Müller ist Spaltung ein komplexer Abwehrvorgang, an dem mehrere Mechanismen beteiligt sind, etwa Verleugnung und Projektion. Zentral ist auch dabei das Ergebnis, nämlich die Aufteilung der Umwelt in nur gute und nur böse Objekte (Müller, 2008, S. 389).

Unter Projektion wird ein Abwehrmechanismus verstanden, der darin besteht, dass "eigene Gefühle, die Angst, Schuldgefühle oder Schamgefühle erzeugen würden, wenn sie als eigene erkannt würden, anderen Personen zugeschrieben werden, ehe sie ins Bewußtsein treten können." (König, 1997, S. 199). Kann z. B. Aggression nicht mit dem eigenen Selbstbild vereint werden, wird sie nach außen projiziert; nun ist es der Fremde, dem die Aggression zugeschrieben wird.

Während sich die Projektion noch weitgehend innerhalb ein und desselben Individuums abspielt, wird sie im Rahmen der projektiven Identifikation "interaktiv". Hier wird eine Person dazu gebracht, sich mit den Projektionen eines anderen Menschen zu identifizieren: "Die Person, die als Projektionsfläche dient, wird manipulativ so behandelt, als wäre sie tatsächlich mit der Projektion identisch. Dies wiederum bewirkt bei dieser Person, dass sie sich dem Projizierten angleicht bzw. identifiziert." (Müller, 2008, S. 188). Diese Dynamik ist ausführlich von Gruen (2015) beschrieben worden, der dafür den Begriff des "inneren Opfers" bzw. des "inneren Operseins" gewählt hat. Gruen sieht die Dynamik fremdenfeindlicher Gewalt vor allem darin begründet, dass ein Mensch Opfererfahrungen, die er als Kind mit überlegenen oder übermächtigen Erwachsenen gemacht hat, durch projektive Identifikation zu bewältigen versucht. Mithilfe von Gewalt macht er seinen Gegenüber (z. B. den "Fremden") selbst zum Opfer (und dieser erlebt sich auch als solches). So wird die Kontrolle über das einst traumatische Opfererlebnis zurückgewonnen (Gruen, 2015, S. 23 f.): "Man bestraft den Fremden für das, wofür man einst selbst bestraft wurde" (ebd., S. 33). Damit es soweit kommen kann, müssen zunächst die Umwelt in gut und böse gespalten und die bösen Anteile auf den Fremden projiziert werden, während sich das Individuum selbst mit den als gut und mächtig erlebten Objekten (etwa den Eltern) identifiziert. Fremdenfeindliche Gewalt ist für Gruen das Ergebnis einer komplexen Verkettung von Abwehrvorgängen, die in der Weitergabe des "Opferseins" durch projektive Identifikation gipfelt.

Hans-Jürgen Wirth differenziert zwei Typen von Fremdenfeindlichkeit, den ängstlichen und den hasserfüllten Typus, die sich u. a. hinsichtlich der "präferierten" Abwehrmechanismen unterscheiden (Wirth, 2001, S. 1226). Während beim ängstlichen Typus die Projektion verpönter Anteile auf den fremden Menschen (dem man dann stellvertretend aus dem Weg gehen kann) vorherrscht, liegt beim hasserfüllten Typus vor allem projektive Identifikation vor. Das bedrohliche Eigene wird in den Fremden projiziert und dieser dann "nicht phobisch gemieden, sondern es wird ein kontrollierender, aggressiver und verfolgender Kontakt mit ihm gesucht" (ebd., S. 1227). Auch andere Autoren heben die Rolle der projektiven Identifikation hervor, etwa M. Fakhry Davids mit seinem Konzept des "inneren Rassismus" (Davids, 2016, S. 801).

Die Komplexität der projektiven Identifikation wird besonders da deutlich, wo sie sich nicht mehr bloß auf der Mikro-, sondern auch auf der Makroebene vollzieht. Bohleber weist darauf hin, dass die Angst vor dem Fremden eine allgemein menschliche Eigenschaft ist, nicht nur eine Eigenschaft von "Fremdenfeinden". Wird sie nicht integriert, "besteht die Gefahr, daß die Fremdenangst anderer attackiert wird, weil man die eigene nicht wahrhaben will" (Bohleber, 1992, S. 693). Wenn bestimmte Menschen von einer (sich als tolerant definierenden) Gesellschaft als "Fremdenfeinde" gebrandmarkt und als "Fremdkörper" aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, so folgt dies ebenfalls der Dynamik der projektiven Identifikation.

Neben den bereits genannten sind noch weitere Abwehrmechanismen an der Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit beteiligt. Auchter nennt zusätzlich "die Entmischung von Libido (Liebe) und Aggression, die Externalisierung [...], die Selbstidealisierung und die Entwertung des anderen" (Auchter, 2012, S. 333). Auf sie soll hier jedoch nur am Rande hingewiesen werden.

2.2.2 Fremdenfeindlichkeit als Folge von Regression

Die Psychoanalyse differenziert zwischen eher unreifen und reiferen Abwehrmechanismen (z. B. Intellektualisierung, Sublimierung, Rationalisierung u. a.) (Müller, 2008, S. 3). Projektion, Spaltung und projektive Identifikation werden sämtlich zu den unreifen, "extremen" Formen der Abwehr gezählt (ebd.). Ein Rückgriff auf solche Abwehrmechanismen findet nach psychoanalytischer Vorstellung vor allem dann statt, wenn bewährte, differenziertere Bewältigungsmechanismen nicht mehr greifen. Dieses Phänomen wird als Regression bezeichnet (Auchter, 2012, S. 333). Es wird angenommen, dass Menschen in Situationen der Orientierungslosigkeit, unter Zeitdruck oder unter Stress zur Regression neigen (Wahl et al., 2001, S. 113)[7]. Für die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit spielt die Regression eine besondere Rolle, nimmt doch Fremdenfeindlichkeit in Situationen des politischen Umbruchs und gesellschaftlichen Wandels zu. Für Autoren wie Erdheim liegt darin eine Wurzel der Fremdenfeindlichkeit begründet: Verlieren in einem schnellen Kulturwandel bewährte Identitätsformen an Tragfähigkeit, entstehen Angst und Orientierungslosigkeit. Dies führt zur Regression, zur "Infantilisierung" (Erdheim, 1992, S. 739); mithilfe von Spaltung wird alles Negative und scheinbar Unerträgliche auf den Fremden projiziert. Auch nach Wulf Volker Lindner, der auf das Potential der Fremdrepräsentanz zur Progression, Stagnation oder Regression hinweist (Lindner, 1994, S. 149), begründet sich vermehrt auftretende Fremdenfeindlichkeit in Krisenzeiten durch Regression. Dabei nimmt er an, dass die Größe einer Gruppe einen Einfluss auf das Ausmaß der Regression hat. Lindner beruft sich hierbei auf die "Hierarchie der Regression" von Martin Grotjahn, der zufolge die Regression umso stärker ausfällt, je größer die Gruppe ist, in der sie auftritt (ebd., S. 150). Auch laut Bohleber führt ein "Angstklima einer Gesellschaft [...] zur Dominanz regressiven Denkens und Handelns (Loewenberg, 1990). Statt die Komplexität der Probleme zu ertragen, werden einfache Antworten gesucht. Asylbewerber und Ausländer werden zu Sündenböcken gestempelt, und durch das Dichtmachen der Grenzen hofft man der Probleme Herr werden zu können." (Bohleber, 1992, S. 690 f.)

Das Konzept der Regression ist von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, die Psychodynamik von Fremdenfeindlichkeit zu erfassen, insbesondere wenn es sich um "kollektive" Regression in Großgruppen oder ganzen Gesellschaften handelt.

Nach psychoanalytischer Vorstellung kann Regression auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Wenn angenommen wird, dass die Regression auf eine bestimmte Entwicklungsstufe erfolgt (im Sinne der "Fixierungsstellen" von Auchter), ist es zielführend, sich einen Einblick in die psychoanalytische Entwicklungspsychologie zu verschaffen. Danach können die einzelnen Stufen daraufhin untersucht werden, welche Rolle sie für die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit spielen.

2.3 Die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit und ihre Funktionalität

Unter 2.3. wird die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit entlang der menschlichen Entwicklung aus psychodynamischer Perspektive verfolgt. Dies ist nicht zu trennen von der Betrachtung ihrer Funktionalität. Gemäß dem psychodynamischen Verständnis, dass Fremdenfeindlichkeit Symptom und "Notlösung" zugrunde liegender, unbewusster Konflikte ist, sind die Fragen nach ihren Kausal- und Finalursachen (die Fragen nach ihrem "woher?" und "wozu?") miteinander verquickt. Sie werden daher im folgenden parallel untersucht. Zuvor soll jedoch ein kurzer Überblick über die psychoanalytische Entwicklungspsychologie gegeben werden.

Die frühkindliche Entwicklung ist gewissermaßen das Kernstück der psychoanalytischen Perspektive auf den Menschen. Es handelt sich bei der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie allerdings nicht um ein "einheitliches Theoriegebäude" (Seiffge-Krenke, 2009, S. 5). Ihre oft plakative Verkürzung auf das freudsche Phasenmodell wird dem Umstand nicht gerecht, dass sie seit Freud kontinuierlich und kontrovers weiter entwickelt wurde (ebd., S. 16 f.). Es würde den Rahmen sprengen, auf die Positionen der einzelnen Analytiker und Analytikerinnen einzugehen, die an dieser Weiterentwicklung beteiligt waren[8]. Trotz zahlreicher Kontroversen lassen sich aber einige grundlegende Gemeinsamkeiten feststellen (ebd., S. 14 ff.). Zu Beginn der Entwicklung wird übereinstimmend eine Phase der engen Verschmolzenheit (Winnicott), der biologischen Einheit (A. Freud) von Mutter und Kind angenommen. Sigmund Freud und andere Autoren nach ihm nannten dies die Phase des primären Narzissmus, in der ein subjektiver Zustand der Ungetrenntheit zwischen Mutter und Kind besteht (ebd., S. 6). Das Stadium ist insofern prä-ambivalent, als Ambivalenzen nicht in diese Einheit integriert werden können. Der zentrale Abwehrmechanismus dieser Phase ist daher die Spaltung des Objekts in ein gutes und ein böses (ebd., S. 10). Im weiteren Verlauf lernt das Kind, zwischen sich und der Mutter bzw. zwischen der Mutter und anderen Menschen zu unterscheiden. Einer unter mehreren Wendepunkten ist die von Spitz beschriebene Achtmonatsangst, das "Fremdeln" (Spitz, 1992, S. 167 ff.). Sie spielt nach Ansicht vieler Autoren eine große Rolle bei der Entwicklung der Fremdenfeindlichkeit. In der folgenden analen Phase differenziert sich die Beziehung zur Umwelt weiter aus. Es ist die Stufe der ambivalenten Beziehungen (A. Freud), in der die Wahrnehmung des Objekts als ganze Person im Vordergrund steht (S. Freud) (Seiffge-Krenke, 2009, S. 15). Ein Gelingen der Entwicklungsaufgaben in dieser Phase führt u. a. zur Entwicklung von Selbstbeherrschung, Kompetenzgefühl, Fähigkeit zu Differenzierungen und zur Kompromissbildung (Auchter, 2000, S. 229).

[...]


[1] Vgl. dazu u. a. Handerer (Handerer, o. D.) über Studienzufriedenheit und Fachverständnis bei Studierenden der Psychologie im deutschsprachigen Raum.

[2] Unter anderem ist damit fremdenfeindliches Verhalten (bzw. dessen Duldung und Akzeptanz) gemeint.

[3] Das Symptom ist ein "Kompromiß zwischen Impuls und Abwehr" (König, 1997, S. 10). Versagt die Abwehr (gemeint als Abwehr des Konflikts), stellt das Symptom die "Notlösung" dar, dem Konflikt zu entgehen.

[4] Wobei "Fremdheit", philosophisch gesprochen, kein ontologisches, sondern ein epistemisches Prädikat und somit keine einem Objekt oder Menschen zukommende Eigenschaft ist.

[5] Mit "Objekt" wird in der Psychoanalyse nicht ein sachliches Objekt, sondern eine Bezugsperson, die Bezugsperson des Subjekts, bezeichnet; Anm. d. Verf..

[6] Im Sinne von Freuds Bemerkung, die Psychoanalyse beschäftige sich mit dem "inneren Ausland" (Wahl et al., 2001, S. 97).

[7] Wahl führt fünf Ebenen der Regression an, die bei fremdenfeindlichen Jugendlichen feststellbar sind: Die emotionale, kognitive, soziale, kulturelle und die Verhaltensebene (ebd., S. 114).

[8] Wesentliche Beiträge wurden dabei unter anderem von Anna Freud, Klein, Winnicott, Spitz und Mahler geleistet. In neuerer Zeit wurden diese Ansätze erweitert, teilweise revidiert oder differenziert, etwa durch die Arbeit von Caroline Eliacheff in der psychoanalytischen Arbeit mit Säuglingen und Klenkindern. Ihre Beobachtungen legen nahe, dass Säuglinge kompetenter sind als klassischerweise angenommen (vgl. z. B. Caroline Eliacheff, "Das Kind das eine Katze sein wollte. Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern" (dtv, 12. Auflage 2015)).

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit. Erklärung eines allgegenwärtigen Phänomens
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Psychologie)
Note
1,1
Autor
Jahr
2017
Seiten
85
Katalognummer
V388768
ISBN (eBook)
9783956873072
ISBN (Buch)
9783956873096
Dateigröße
9725 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fremdenfeindlichkeit, Psychodynamik, Psychotherapie, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus
Arbeit zitieren
Robert Ebbinghaus (Autor:in), 2017, Die Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit. Erklärung eines allgegenwärtigen Phänomens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/388768

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