Einflussfaktoren für die Teilnahme an Selbsthilfegruppen von Männern mit Prostatakarzinom


Masterarbeit, 2017

117 Seiten, Note: 10


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Leseprobe


Zusammenfassung
I
Zusammenfassung
Hintergrund: Mit einer Zunahme der Prostatakrebserkrankung ist aufgrund der
ständig steigenden Lebenserwartung und dem wachsenden Anteil von Hochbe-
tagten in den nächsten Jahren zu rechnen. Das Prostatakarzinom ist die häu-
figste Krebserkrankung des Mannes und geht für die Betroffenen mit großer
Verunsicherung und einem hohen Informationsbedarf einher. Selbsthilfegrup-
pen können eine wertvolle Hilfe und Unterstützung sein. Auch wenn der nützli-
che Beitrag gemeinschaftlicher Selbsthilfe in der breiten Bevölkerung bekannt
ist, engagiert sich nach wie vor nur ein relativ geringer Teil der Betroffenen in
entsprechenden Zusammenschlüssen.
Ziel: In dieser Arbeit werden die Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme von
Selbsthilfegruppen für Männer mit Prostatakarzinom im Rahmen der SHILD-
Evaluation untersucht. Außerdem werden Unterschiede zwischen betroffenen
Teilnehmern und Nichtteilnehmern von Selbsthilfegruppen im Hinblick auf die
Krankheitsbewältigung betrachtet.
Methode: Zunächst wird die aktuelle Literatur zu den Einflussfaktoren, die eine
Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe bedingen, analysiert sowie Unterschiede
zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern in der Krankheitsbewältigung her-
ausgefiltert. Anschließend erfolgt die Evaluation der in Deutschland durchge-
führten SHILD-Studie. Zur Datenerhebung wurden anerkannte Selbstauskunfts-
instrumente eingesetzt (u. a. Patient Oriented Prostate Cancer Utility Scale;
Health Education Impact Questionnaire). Die Befragung von Betroffenen mit
und ohne Selbsthilfeerfahrung fand über einen Zeitraum von einem Jahr statt
(01/2015 bis 12/2015). Zur Überprüfung der Einflussfaktoren auf die Selbsthilfe-
Inanspruchnahme und die Unterschiede zwischen den Gruppen in der Krank-
heitsbewältigung kamen Bi- und Multivariate Analysemethoden zur Anwendung.
Ergebnisse: In der Literaturrecherche werden als Gründe für mehr Selbsthilfe-
gruppenbeteiligung und für Unterschiede in der Krankheitsbewältigung vor al-
lem soziale und gesundheitsbezogene Faktoren ermittelt. In die binäre logisti-
sche Regression flossen in die Befragung Daten von 135 Männern ohne
Selbsthilfeerfahrung und 449 mit Selbsthilfeerfahrung ein. Positive Effekte zu

Zusammenfassung
II
mehr Selbsthilfegruppenbeteiligung zeigen sich bei gesellschaftlich engagierten
und älteren Männern sowie bei Betroffenen mit einer längeren Erkrankungs-
dauer. Weniger starke Symptome der erektilen Dysfunktion führen zu einer
verminderten Teilnahmequote. In der Krankheitsbewältigung weisen Männer mit
und ohne Selbsthilfeerfahrung keine signifikanten Unterschiede auf.
Schlussfolgerung: Die Ergebnisse der Literaturanalyse als auch die Evaluati-
on der SHILD-Studie lassen den Schluss zu, dass für die Inanspruchnahme
einer Prostatakarzinom-Selbsthilfegruppe vor allem soziale und gesundheitsbe-
zogene Faktoren bedeutsam sind. Nicht berufstätige, sozial engagierte Männer
mit schweren und langen Krankheitsverläufen suchen häufiger Selbsthilfegrup-
pen auf. Die Ergebnisse der Arbeit bieten wichtige Ansatzmöglichkeiten für wei-
tere Forschungsarbeiten zur Förderung und Aktivierung der Selbsthilfepotentia-
le von Menschen mit Prostatakarzinom sowie zur Aktivierung dieser schwer
erreichbaren Zielgruppe.

Abstract
III
Abstract
Background: An increase in prostate cancer is to be expected due to the con-
stantly increasing life expectancy of elderly people and the growing amount of
elderly people in the next few years to come. Prostate carcinoma is the most
common cancer in men and is associated with great uncertainty and high infor-
mation requirements for those affected. Self-help groups can be a valuable aid
and support. Although, the benefits of support groups are fairly known, only a
relatively small proportion of those affected participate in these support groups.
Objective: In this study, influence factors on the attendance of support groups
for men with prostate carcinoma will be examined, by using the data of the
SHILD-study. Regarding the disease management, differences between affect-
ed participants and non-participants of support groups are analyzed.
Method: In a literature it reviews factors influencing the participation in a sup-
port group and were analyzed. Differences in their disease management be-
tween participants and non-participants were pointed out. This was followed by
the evaluation of the SHILD-study that was carried out in Germany. For the data
collection well-tried self-assessment instruments were used (including Patient
Oriented Prostate Cancer Utility Scale, Health Education Impact Questionnaire).
The data collection took place over a period of one year (01/2015 to 12/2015).
Bi- and multivariate analysis methods were carried out to examine the influenc-
ing factors.
Results:
The literature
show social and health-related factors as reasons for an
increase in support group participation and for changes in disease manage-
ment. In the binary logistic regression flowed into the survey, data of 135 men
without self-help experience and 449 with self-help experience. Participating in
a support-group is positively influenced by being unemployed and having a
good social network. Other influencing factors are the duration and the severity
of the illness. Less severe symptoms of erectile dysfunction induce a decreased
participation rate. In disease management, men with and without self-help expe-
rience have no significant differences.

Abstract
IV
Conclusion: The results of the study review as well as the evaluation of the
SHILD-study suggest that the use of a prostate carcinoma support group is
mainly influenced by social and health-related factors. Non-working, socially
engaged men with a severe and long term disease history frequently seek sup-
port groups. The results provide important information for further research to
promote support for men with prostate cancer and elusive audiences.

Inhaltsverzeichnis
V
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung ... I
Abstract ... III
Inhaltsverzeichnis ... V
Abbildungsverzeichnis ... VII
Tabellenverzeichnis ... VII
Abkürzungsverzeichnis ... VIII
1
Einführung ... 1
2
Theoretischer Hintergrund ... 3
2.1
Charakteristika des Prostatakarzinoms ... 3
2.1.1
Epidemiologie ... 4
2.1.2
Risikofaktoren und protektive Faktoren ... 5
2.1.3
Symptome, Diagnose und Therapie ... 7
2.1.4
Leben mit der Krankheit Prostatakarzinom ... 13
2.2
Krankheitsverarbeitung ... 14
2.2.1
Das Coping-Modell ... 15
2.2.2
Das Konzept der Abwehr ... 17
2.2.3
Zusammenhang von Coping- und Abwehrkonzept ... 18
2.3
Themenkomplex Selbsthilfe ... 20
2.3.1
Begriffserklärung Selbsthilfe ... 20
2.3.2
Organisationsformen der Selbsthilfe in Deutschland ... 21
2.3.2.1
Selbsthilfegruppen ... 21
2.3.2.2
Selbsthilfevereinigungen ... 24
2.3.2.3
Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen ... 25
2.3.3
Wirkungen der Selbsthilfe ... 27
2.3.4
Selbsthilfe für Männer mit Prostatakarzinom ... 28
2.4
Forschungsfragen und Forschungsziele der Arbeit ... 29
3
Literaturanalyse zur Selbsthilfegruppenbeteiligung ... 33
3.1
Datenbankrecherche ... 33
3.2
Einschlusskriterium und Datenextraktion der Recherche ... 34
3.3
Ergebnisse der Literaturanalyse ... 35
3.3.1
Evaluation der relevanten Literatur ... 36
3.3.1.1
Qualitative Studien ... 36
3.3.1.2
Quantitative Studie ... 39
3.3.2
Fazit der Literaturanalyse ... 40

Inhaltsverzeichnis
VI
4
Evaluation der SHILD-Studie ... 43
4.1
Die SHILD-Studie ­ Wirkungen der Selbsthilfe ... 43
4.2
Studiendesign ... 45
4.3
Datenerhebung und Instrumente ... 47
4.3.1
Fragen zum Prostatakrebs ... 49
4.3.2
Subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes ... 49
4.3.3
Prostataspezifische Lebensqualität ... 49
4.3.4
Progredienzangst ... 51
4.3.5
Selbstmanagementfähigkeiten ... 52
4.3.6
Selbsthilfe und Aktivitäten außerhalb der Selbsthilfe ... 53
4.3.7
Soziodemographische Daten ... 55
4.4
Methoden der Datenauswertung ... 55
4.4.1
Deskriptive Statistik ... 55
4.4.2
Analytische Statistik ... 57
4.4.2.1
Multivariate Analysemethoden ... 57
4.4.2.2
Mittelwertvergleiche ... 61
5
Untersuchungsergebnisse der SHILD-Studie ... 63
5.1
Beschreibung der Stichprobe ... 63
5.2
Determinanten der Inanspruchnahme der Selbsthilfe ... 71
5.2.1
Einfluss von soziodemografischen und sozialen Faktoren ... 72
5.2.2
Einfluss gesundheitsbezogener Merkmale ... 73
5.3
Selbsthilfe und Selbstmanagementfähigkeiten ... 75
5.4
Zusammenfassung der Ergebnisse ... 77
5.5
Diskussion der Ergebnisse ... 78
5.6
Diskussion der Methoden ... 82
5.6.1
Limitation der Literaturanalyse ... 82
5.6.2
Limitation der SHILD-Evaluation ... 83
6
Fazit und Ausblick ... 86
7
Literaturverzeichnis ... 88
8
Anhang ... 102
A.
Datenschutzerklärung Fragebogen T0 ... 102
B.
Skalen zum Gesundheitszustand und zur Befindlichkeit ... 104
C.
Skalen der Aktivitäten außerhalb der Selbsthilfe ... 105
D.
Skala zu den Selbstmanagementfähigkeiten ... 106
E.
Korrelationsmatrix der verwendeten Variablen ... 107

Abbildungsverzeichnis
VII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Phasen der Krankheitsbewältigung ... 15
Abbildung 2: Zusammenhänge des Coping- und Abwehrmodells ... 20
Abbildung 3: Selbsthilfelandschaft in Deutschland ... 26
Abbildung 4: Ablauf der Suche in der Datenbank PubMed ... 36
Abbildung 5: Vorgehensweise bei der Logistischen Regression ... 61
Abbildung 6: Verteilung der Befragten in T0 ... 64
Abbildung 7: Verteilung der Befragten nach der Wohnortgröße in T0 ... 65
Abbildung 8: Schulbildung in T0 ... 66
Abbildung 9: Treffen mit Freunden, Verwandten und Arbeitskollegen in T0 ... 67
Abbildung 10: Treffen mit Gleichaltrigen in T0 ... 68
Abbildung 11: Aktivitäten außerhalb der Selbsthilfe in T0 ... 68
Abbildung 12: Erkrankungsdauer nach Jahren gruppiert in T0 ... 69
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Zusammenfassung der qualitativen Studien der Literaturanalyse ... 38
Tabelle 2: Zusammenfassung der quantitativen Studie der Literaturanalyse ... 40
Tabelle 3: Überblick des Fragebogens und der Erhebungsinstrumente T0 ... 48
Tabelle 4: Überblick der Einfluss- bzw. Zielvariablen und ihrer Erhebungsinstrumente53
Tabelle 5: Items zum Engagement von Männern mit Prostatakrebs ... 54
Tabelle 6: Charakteristika der Männer mit Prostatakrebs in T0 ... 71
Tabelle 7:Ergebnisse der logistischen Regression für die SHG-Teilnahme in
Abhängigkeit von soziodemografischen und sozialen Faktoren ... 73
Tabelle 8: Ergebnisdarstellung der Faktorenanalyse des PORPUS ... 74
Tabelle 9: Ergebnisse der logistischen Regression für die SHG-Teilnahme in
Abhängigkeit von gesundheitsbezogenen Faktoren ... 75
Tabelle 10: Ergebnisdarstellung der Selbstmanagementfähigkeiten ... 77
Tabelle 11: Ergebnisse der Korrelation der Variablen in T0 ... 107

Abkürzungsverzeichnis
VIII
Abkürzungsverzeichnis
ACS
Amerikanische Krebs-Gesellschaft
BAG
Bundesarbeitsgemeinschaft
BPS
Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe
CASMIN
Comparative Analysis of Social Mobility in Industrial Nations
DAG SHG
Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.
DBR
Deutschen Behindertenrat
Der Paritätische
Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband- Gesamtverband e.V.
DRU
Digitale rektale Untersuchung
ESG
Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssys-
temforschung
G-BA
Gemeinsame Bundesausschuss
GKV
Gesetzliche Krankenversicherung
heiQ
Health Education Impact Questionnaire
HLS-EU-Q
European Health Literacy Survey Questionnaire
IES
Impact of Event Skala
IMS
Institut für Medizinische Soziologie
ISS
Institut für Soziologie und Sozialpolitik
KMO
Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium
MHH
Medizinische Hochschule Hannover
MRT
Magnetresonanztomographie
MS
Multiple Sklerose
NAKOS
Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Un-
terstützung von Selbsthilfegruppen
NIH
National Institutes of Health
NLM
National Library of Medicine
PA-F
Progredienzangst Fragebogen
PA-F-KF
Progredienzangst Fragebogen Kurzform
PSA
prostataspezifisches Antigen
RKI
Robert Koch-Institut
PNUP-Q
Needs and Use of Psychological care facilities Questionnaire
POMPS
profile of mood states
PORPUS
Patient Oriented Prostate Cancer Utility Scale
SGB V
Sozialgesetzbuch der Gesetzlichen Krankenversicherung

Abkürzungsverzeichnis
IX
SHG
Selbsthilfegruppe
SHILD
Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland
SHO
Selbsthilfeorganisation
SPSS
Statistical Package for Social Sciences
SSL
Social Support List
STROBE
Strengthening the Reporting of Observational Studies in Epide-
miology
WHO
World Health Organization (Welt-Gesundheitsorganisation)

1 Einführung
1
1
Einführung
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der Zunahmen chro-
nisch kranker und behinderter Menschen wird das Engagement der Selbsthilfe
immer wichtiger. Selbsthilfegruppen (SHG) und -organisationen (SHO) ergän-
zen wirksam die professionellen Angebote des Gesundheitswesens und tragen
dazu bei, dass die Patienten durch gegenseitige Hilfe und Beratung ihre Krank-
heit besser annehmen können. Trotz hoher gesellschaftlicher Akzeptanz gehö-
ren immer noch vergleichsweise wenige Menschen tatsächlich einer Selbsthil-
feorganisation an. Die Gründe sind vielfältig und reichen von der Indikation über
soziale, soziodemografische, sozioökonomische bis hin zu psychosozialen Fak-
toren. Auch wenn es in Deutschland eine umfassende gesundheitliche Aufklä-
rung gibt, sind vielen Bürgerinnen und Bürger die Prinzipien der Selbsthilfe, die
gemeinschaftliche Eigenverantwortung, der Erfahrungsaustausch in der Gruppe
sowie die gemeinschaftliche Interessenvertretung nicht bekannt. In vielen Fällen
spielen Bildungsfaktoren, unzureichende Kenntnisse des deutschen Sozial- und
Gesundheitswesens oder aber eine mangelnde Integration aufgrund von
Sprachbarrieren eine Rolle. Menschen in finanziell schwierigen Verhältnissen
sind in Selbsthilfegruppen unterrepräsentiert. Dies könnte sowohl an Bildung
und Integration als auch an den erforderlichen finanziellen Aufwendungen lie-
gen. Vertreterinnen und Vertreter von Verbänden beobachten zudem immer
häufiger eine ,,Konsumentenhaltung" bei Betroffenen. Diese erwarten von den
Selbsthilfegruppen eine Dienstleistung, ohne einer Organisation beitreten zu
wollen. Und falls eine Erkrankung eintritt, wird der meistens hohe Informations-
bedarf heute oft über Recherchen im Internet gedeckt (1).
Ziel dieser Arbeit ist es, die Einflussfaktoren für die Bereitschaft zur Teilnahme
an Selbsthilfegruppen für Männer mit Prostatakarzinom zu untersuchen. Diese
Arbeit fasst dazu die Ergebnisse internationaler Studien zu Einflussfaktoren für
Selbsthilfebeteiligungen auf Ebene der Betroffenen und/oder ihrer Angehörigen
zusammen und bereitet diese auf. Zudem kann diese Evaluation herangezogen
werden, mögliche Unterschiede bei selbsthilfeaktiven Betroffenen und Betroffe-
nen ohne Selbsthilfeaktivitäten in der Krankheitsbewältigung aufzuzeigen.

1 Einführung
2
Im Anschluss an die Literaturanalyse werden die Einflussfaktoren für die Teil-
nahme an Selbsthilfegruppen für Männer mit Prostatakarzinom in Deutschland
stellvertretend durch die Evaluation des Projekts SHILD analysiert. Die Auswer-
tung des nationalen Projekts SHILD erfolgt mittels Multivariater Analysemetho-
de. Neben der Betrachtung der Wirkungsbeteiligung von Selbsthilfegruppen,
liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf den Einflussfaktoren für die Teil-
nahme an Selbsthilfegruppen für Männer mit Prostatakarzinom im Rahmen der
SHILD Studie.
Die Ergebnisse dieser Arbeit können als Teil des Nachweises der Wirkungsbe-
teiligung der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe in Deutschland dienen. Darüber
hinaus können die Resultate und Erkenntnisse dieser Evaluation zur Akquise
von Teilnehmern für Selbsthilfegruppen in Deutschland herangezogen werden.
Diese Arbeit ist wie folgt gegliedert: Der theoretische Teil des Kapitels 2 befasst
sich zunächst mit den Charakteristika des Prostatakarzinoms. Außerdem wer-
den die wissenschaftlichen Grundlagen der Krankheitsbewältigung aufgezeigt
sowie die in diesem Zusammenhang auftretende Auseinandersetzung mit der
Erkrankung. Des Weiteren betrachtet dieses Kapitel die Funktionen und Wir-
kungen von Selbsthilfezusammenschlüssen für Männer mit Prostatakrebs. Den
Abschluss bilden die Forschungsfragen und Forschungsziele dieser Masterar-
beit. Die formulierten Fragen sind schwerpunktmäßig explorativ angelegt. Kapi-
tel 3 versucht die Forschungsfragen mit Hilfe einer Literaturanalyse zu beant-
worten und setzt sich vorwiegend mit international publizierten Studien ausei-
nander. Im empirischen Teil der Arbeit wird zunächst in Kapitel 4 auf das me-
thodische und empirische Vorgehen der Evaluation der SHILD-Studie in
Deutschland eingegangen. Dabei werden insbesondere das Studiendesign, die
verwendeten Erhebungsinstrumente und angewandte statistische Methoden
beschrieben. Die Ergebnisdarstellung erfolgt in Kapitel 5 anhand der zuvor ge-
stellten Forschungsfragen. Im Kapitel 6 werden die Ergebnisse und Limitationen
des Vorgehens der Literaturanalyse sowie der SHILD-Evaluation diskutiert. Das
7. Kapitel bildet mit dem Fazit der Arbeit und einem Ausblick auf die zukünftige
Gestaltung der Inanspruchnahme von Selbsthilfegruppen
den Abschluss der Ar-
beit.

2 Theoretischer Hintergrund
3
2
Theoretischer Hintergrund
2.1 Charakteristika des Prostatakarzinoms
Das Prostatakarzinom ist eine bösartige Tumorerkrankung, die vom Drüsenge-
webe der Vorsteherdrüse (Prostata) ausgeht (2). Die Prostata selbst ist eine
exokrine Drüse unterhalb der Harnblase, welche die männliche Harnröhre um-
schließt. Sie gehört zu den akzessorischen Geschlechtsdrüsen und produziert
das Prostatasekret, einen Teil der Samenflüssigkeit. Die Prostata ist etwa kas-
taniengroß, wiegt rund 20 g und weist einen festen, teils glandulären, teils mus-
kulären Körper auf. Die äußere Form ist annähernd pyramidenförmig, wobei die
Basis zur Harnblase, der Apex nach kaudal weist. Die Prostata besteht aus et-
wa 30-40 tubuloalveolären Einzeldrüsen, deren Ausführungsgänge (Ductus
prostatici) rund um den Samenhügel (Colliculus seminalis) in die Pars prostatica
der Harnröhre münden. Die Erkrankungen der Prostata sind dem Fachgebiet
der Urologie zugeordnet, zu dem auch der Prostatakrebs zählt (3).
Die Unterscheidung des Prostatakarzinoms erfolgt zum einen nach der Krebsart
und zum anderen nach der Form der Diagnose. Im Folgenden werden die häu-
figsten Prostatakrebsarten erläutert.
Das inzidentelle Prostatakarzinom fällt zufällig auf, meist während einer re-
gelmäßigen Vorsorgeuntersuchung oder bei der Diagnose einer gutartigen Ver-
größerung. Häufig führen Gewebeproben zu dessen Diagnose (4).
Das klinisch manifeste Prostatakarzinom wird während der digital rektalen
Untersuchung entdeckt. Damit dies möglich ist, muss der Tumor bereits eine
relativ beachtliche Größe erreicht haben, sodass er problemlos ertastet werden
kann (2).
Bei dem okkulten Prostatakarzinom ist kein Ursprungstumor auffindbar.
Stattdessen wird die Erkrankung erst diagnostiziert, wenn sich bereits Metasta-
sen gebildet haben. Diese Tochtergeschwulste finden sich zumeist im umlie-
genden Gewebe.

2 Theoretischer Hintergrund
4
Das latente Prostatakarzinom ist von einem langsamen Wachstum gezeichnet
und ruft keinerlei Beschwerden hervor. Aus diesem Grund wird es erst sehr
spät im Zuge der Vorsorgeuntersuchungen entdeckt. In deutlich mehr Fällen
wird das latente Prostatakarzinom sogar erst nach dem Ableben des vom Kar-
zinom betroffenen Mannes gefunden (5,6).
2.1.1 Epidemiologie
Das Prostatakarzinom ist die häufigste Krebsart des Mannes und die dritthäu-
figste Krebstodesursache bei Männern in Deutschland. Rund 26% aller bei
Männern jährlich neu auftretenden Krebserkrankungen betreffen die Prostata.
Das entspricht einer altersstandardisierten Inzidenzrate von etwa 110 auf
100.000 männlichen Personen. Jährlich erkranken etwa 58.000 Männer in
Deutschland neu an diesem Tumor (7,8). International betrachtet gehört
Deutschland zu den Ländern mit einer vergleichsweisen niedrigen Inzidenz. Die
weltweit höchste altersstandardisierte Inzidenz findet sich in den USA mit 124,8
Männern pro 100.000 (9).
Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei ca. 69 Jahren. In Deutschland sterben
pro Jahr etwa 12.000 Männer an den Folgen eines Prostatakarzinoms. Bis zum
Jahr 2050 wird der Anteil der über 60-Jährigen in der deutschen Bevölkerung
voraussichtlich auf ca. 28 Millionen Männer anwachsen und sich damit verdop-
peln (7-9). Im gleichen Umfang ist mit einer Zunahme der Prostatakrebserkran-
kungen zu rechnen. Insbesondere steigt der Anteil früher Stadien, was auf die
Bestimmung des Tumormarkers Prostataspezifisches Antigen (PSA) zurückge-
führt wird. Insgesamt tragen ca. 40% der männlichen Bevölkerung in den west-
lichen Industrieländern das Risiko, im Laufe ihres Lebens ein Prostatakarzinom
zu entwickeln. Von diesen 40% werden 10% symptomatisch und 3% versterben
daran (10). Der Unterschied zwischen der Inzidenz und der Mortalität des Pros-
tatakarzinoms nimmt aktuell weiter zu. Möglicherweise ist die durchschnittliche
Lebenserwartung von Männern, die an einem Prostatakarzinom versterben,
höher als die Lebenserwartung von Männern, die an anderen Krankheitsursa-
chen versterben (11).

2 Theoretischer Hintergrund
5
2.1.2 Risikofaktoren und protektive Faktoren
Es gibt bestimmte Faktoren, die das Risiko einer Prostatakrebserkrankung er-
höhen. Als wichtigste Einflüsse gelten das Alter und die familiäre Veranlagung.
Außerdem spielen ethnische Faktoren und Umwelteinwirkungen, wie z. B. Er-
nährung, Lebens- und möglicherweise auch Arbeitsbedingungen eine Rolle.
Das Alter ist der wichtigste Risikofaktor für Prostatakrebs. Während die Wahr-
scheinlichkeit, innerhalb der nächsten 10 Jahre an Prostatakrebs zu erkranken,
bei einem 45-Jährigen bei etwa 1:220 liegt, steigt das Risiko bei einem 75-
Jährigen auf 1:17 an (12).
Männer, bei denen in der nahen Verwandtschaft Prostatakrebs aufgetreten ist,
haben ein erhöhtes Risiko, selbst zu erkranken (13,14).
Ist der Vater betroffen,
steigt das Risiko auf das Doppelte; ist der Bruder erkrankt, liegt das Risiko bis
zu dreimal so hoch wie in der übrigen männlichen Bevölkerung. Je mehr Fami-
lienangehörige erkrankt sind und je jünger diese zum Zeitpunkt der Diagnose-
stellung waren, umso größer ist das Risiko für männliche Angehörige, ebenfalls
mit der Diagnose Prostatakrebs konfrontiert zu werden (12).
Hormone sind ebenfalls ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung des Prosta-
takarzinoms, obwohl ihre genaue Rolle nicht eindeutig nachgewiesen ist. Tes-
tosteron ist für die Funktion der Prostata notwendig, fördert aber auch das
Wachstum von Prostatakrebszellen, wie Parsons et al. (2005) in der Baltimore
Longitudinal Study of Aging herausfanden. Bei der Auswertung dieser Lang-
zeitbeobachtung von 794 Männern schlussfolgern die Autoren, dass zwar nicht
das Gesamttestosteron, aber das höhere freie Testosteron mit einem erhöhten
Risiko für eine Erkrankung an einem Prostatakarzinom verbunden ist (15). Sha-
neyfelt et al. (2000) hingegen konnten in einer Übersicht von acht prospektiven
Studien, die 644 Patienten mit Prostatakarzinom und 1.048 Kontrollen umfass-
ten, keinen prädiktiven Wert der Testosteronserumwerte für die Entwicklung
eines Prostatakarzinoms nachweisen (16).
Neben den genannten Risikofaktoren gibt es eine Reihe von Einflüssen, die mit
dem Auftreten eines Prostatakarzinoms assoziiert sind. Die Inzidenz des Pros-
tatakarzinoms wird unter anderem mit unterschiedlichen Ernährungsgewohnhei-
ten sowie sozioökonomischen Faktoren zugunsten des asiatischen Raumes

2 Theoretischer Hintergrund
6
und innerhalb Europas zugunsten südeuropäischer Länder in Verbindung ge-
bracht (17-19). Eine fettreiche Ernährung mit hohem Cholesteringehalt soll mit
einem höheren Prostatakrebsrisiko einhergehen (20). Zu einer möglichen pro-
tektiven Wirkung von Phytoöstrogenen (insbesondere Soja) (21) und einer ly-
copenreichen Kost, welche zum Beispiel in Tomaten enthalten sind, liegen Me-
taanalysen über Kohortenstudien und Fall-Kontrollstudien vor. Auch Rauchen
und Alkohol sollen generell das Krebsrisiko erhöhen (22,23).
Anders als bei anderen Tumorerkrankungen steigert das Vorliegen eines Diabe-
tes mellitus offenbar nicht das Risiko, an einem Prostatakarzinom zu erkran-
ken (24). Metaanalysen zeigen im Gegenteil eher ein verringertes Risiko für
Prostatakrebs bei Diabetikern (25,26).
Was den Einfluss von Adipositas und das berufsbezogene Risiko anbelangt,
gibt es bislang keine übereinstimmenden Ansichten seitens der Experten. Die
vorliegenden Daten aus wissenschaftlichen Untersuchungen sind so komplex
und auch widersprüchlich, dass daraus keine Folgerungen hinsichtlich des tat-
sächlichen Risikos für Prostatakrebs gezogen werden können (27,28). Im Ge-
gensatz dazu ist nachgewiesen, dass körperliche Inaktivität das allgemeine
Krebsrisiko vergrößert (12).
Zusammenhänge mit seelischen Faktoren, Stress und physikalischen Belas-
tungen wie Radioaktivität und Strahlen werden zwar immer wieder gesucht,
konnten bislang jedoch nicht eindeutig bestätigt werden.
Insgesamt weiß man relativ wenig über die Ursachen, die schließlich zur Entar-
tung der Prostataaußenkapsel führen können (12).
Mögliche Präventionsstrategien im Hinblick auf die Entwicklung eines Prosta-
takarzinoms orientieren sich an den Empfehlungen der Leitlinie der amerikani-
schen Krebsgesellschaft (ACS) ,,Nutrition and physical activity guidelines for
cancer prevention" (29). Die Empfehlungen zielen auf eine allgemeine Krebs-
prävention ab, lassen sich aber auch auf Aspekte der Prävention anderer Er-
krankungen, z. B. von Herz-Kreislauf-Erkrankungen übertragen. Denn obgleich
Risikofaktoren für das Prostatakarzinom oder andere Tumore existieren, ist das
individuelle Risiko des Einzelnen nicht bestimmbar.

2 Theoretischer Hintergrund
7
Die vier Hauptempfehlungen der amerikanischen Leitlinie lauten:
1. ,,Streben Sie ein gesundes Gewicht an.
2. Seien Sie körperlich aktiv.
3. Achten Sie auf eine gesunde Ernährung mit Schwerpunkt auf pflanzliche
Produkte.
4. Reduzieren Sie Ihren Alkoholkonsum" (29).
2.1.3 Symptome, Diagnose und Therapie
Prostatakrebs-Symptome treten erst in späteren Erkrankungsstadien infolge
der Ausbreitung des Tumors auf. Die Symptome sind meist nicht kennzeich-
nend. Knochenschmerzen, Gewichtsverlust, Rückenschmerzen, Blasenentlee-
rungsstörungen und Blutarmut sind denkbar. Auch Blutspuren in Ejakulat oder
Urin können ein Warnsignal sein (30). Da die Heilungschancen beim Prosta-
takarzinom stark davon abhängen, wie weit fortgeschritten die Erkrankung zum
Zeitpunkt der Entdeckung bereits ist, haben die Untersuchungen zur Früher-
kennung von Prostatakrebs eine besondere Bedeutung. Für die Diagnose des
Prostatakarzinoms werden folgende Methoden verwendet:
die digitale Rektale Untersuchung (DRU),
der PSA-Wert,
die Ultraschalluntersuchung,
Biopsie
und die Magnetresonanztomographie.
Digital rektale Tastuntersuchung (DRU)
Der erste Schritt bei der Diagnose von Prostatakrebs ist die DRU, bei der die
Größe und Beschaffenheit der Prostata mit dem Finger vom Mastdarm aus ab-
getastet wird. Sollte der Arzt Veränderungen ertasten, so sind weitere Untersu-
chungen nötig. Die alleinige DRU wird zur Früherkennung als nicht ausreichend
angesehen.

2 Theoretischer Hintergrund
8
PSA-Wert-Bestimmung
Primäres Verfahren zur Früherkennung ist die PSA-Wert-Bestimmung, da die
Sensitivität
1
der PSA-Bestimmung höher ist als die Sensitivität anderer Verfah-
ren (31-37). PSA ist eine Abkürzung für Prostata Spezifisches Antigen; ein von
der Prostata gebildeter Eiweißkörper. Ist der PSA-Wert im Blut erhöht, so kann
dieser ein Hinweis auf ein Prostatakarzinom sein. Es muss beachtet werden,
dass ein erhöhter PSA-Wert nicht nur wegen einer Prostata-Erkrankung auftre-
ten kann. Auch ergibt ein und dieselbe Probe in verschiedenen Laboren meist
unterschiedliche Werte (12). Die Aussagekraft des PSA-Wertes kann trügerisch
sein; so wurde etwa bei 20% der Patienten trotz eines PSA im Normalbereich
ein Prostatakarzinom nachgewiesen (38).
Ultraschalluntersuchung
Die Ultraschalluntersuchung (transrektale Sonografie) erlaubt eine genauere
Lokalisation und Größenbestimmung. In den After des Patienten wird dabei ei-
ne Ultraschallsonde eingeführt. Der Arzt kann die Prostata am Bildschirm sicht-
bar machen; dabei wird ein Tumor meist erkennbar. Auch das Volumen der
Prostata kann auf diese Weise bestimmt werden. Die transrektale Sonografie ist
hauptsächlich notwendig, um die Gewebeentnahme bei einer Biopsie zu steu-
ern (39).
Biopsie
Bei der Biopsie stanzt der Arzt mit einer Nadel mehrere Gewebeproben aus der
Prostata. Das geschieht erst, wenn die Tastuntersuchung und/oder die PSA-
Wert-Bestimmung auf einen Tumor schließen lassen. Gemäß den Ergebnissen
des aufwändigen systematischen Reviews von Eichler (2005) steigt die Zahl
positiver Befunde mit der Menge entnommener Stanzzylinder, wobei eine Zahl
von zehn bis zwölf als zuverlässig angesehen wird (40,41). Wenn sich in den
entnommenen Gewebeproben Krebszellen befinden, so werden diese eindeutig
erkannt. Sticht der Arzt aber nur einen Bruchteil eines Millimeters neben dem
Krebsgeschwür ein, so enthält die Probe nur gesunde Zellen. Durch das Stan-
1
Die Sensitivität eines diagnostischen Testverfahrens gibt an, bei welchem Prozentsatz erkrankter Pati-
enten die jeweilige Krankheit durch die Anwendung des Tests tatsächlich erkannt wird, d.h. ein positi-
ves Testresultat auftritt.

2 Theoretischer Hintergrund
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zen entstehen kleine Narben, die einen Tumor zu schnellerem Wachstum anre-
gen können. Schließlich können umliegende Gewebe verletzt werden und es
kann zu Blutungen und Infektionen kommen (12).
Magnetresonanztomografie (MRT)
Die Magnetresonanztomografie ist ein bildgebendes Verfahren und dient beim
Prostatakarzinom in erster Linie zur Suche nach Metastasen. Mit der MRT kann
man sich nicht nur die Prostata ansehen, sondern auch die Lymphknoten. Auf
diese Weise ist frühzeitig erkennbar, ob die Lymphknoten befallen sind. Me-
taanalysen von 2001 und 2002 (42,43) weisen für die MRT eine Sensitivität und
Spezifität
2
von 71% und 74% für das Staging
3
aus. Die Stadieneinteilung konnte
in zwei retrospektiven Erhebungen bei einem gesicherten Prostatakarzinom
durch die MRT signifikant gegenüber der alleinigen Nutzung von Nomogram-
men, basierend auf PSA-Wert, Gleason-Score und DRU verbessert werden
(44,45).
In den letzten Jahren hat sich die Prostatakarzinom-Diagnostik entscheidend
verändert, so dass viele Karzinome früher erkannt werden. Die Bestimmung
des PSA-Wertes wird häufiger angewendet. Dadurch besteht die Gefahr der
Überdiagnose und des Anstiegs der Rate der vermeintlichen kurativen Thera-
pien erhöht sich. Von Überdiagnose spricht man, wenn Karzinome entdeckt
werden, die den Patienten in seiner Lebenserwartung nicht bedrohen. Sie zu
behandeln bedeutet eine Übertherapie. Ein hoher Anteil von Übertherapien
ergibt sich v. a. durch die definitiven Therapien in der Gruppe der Patienten mit
Tumoren des niedrigen Risikos. In der europäischen Screening-Studie von Har-
ris Lohr (2002) betrug der Anteil an Übertherapien, gemessen nach neun Jah-
ren Follow up, 54% (46).
Um das klinisch bedeutsame Prostatakarzinom von einem nicht bedeutsamen
zu unterscheiden, sind mehrere Definitionen entwickelt und publiziert worden.
Je nachdem wie strikt die einzelnen Definitionen angewendet werden, finden
sich 4 bis 19 verschiedene Definitionen des ,,insignifikanten" Prostatakarzinoms
2
Die Spezifität eines diagnostischen Testverfahrens gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass tatsächlich
Gesunde, die nicht an der betreffenden Erkrankung leiden, im Test auch als gesund erkannt werden.
3
Unter Staging versteht man die Einschätzung des Ausmaßes einer i.d.R. malignen Tumorerkrankung.

2 Theoretischer Hintergrund
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(47-51). Als insignifikant gilt ein Tumor mit einem Volumen von weniger als 0,5
ml (Durchmesser kleiner als 1 cm) und einem Gleason-Score
4
von weniger
als 6, der auf die Prostata begrenzt und nicht in die Kapsel eingewachsen ist.
Die Therapie des Prostatakarzinoms richtet sich nach der Art und Ausbreitung
des Tumors. Für die effektive Prostatakarzinom-Behandlung stehen mehrere
Verfahren zur Verfügung, wie:
Watchful Waiting und Active Surveillance
Radikale Prostatektomie
Radiotherapie
Brachytherapie
Lokale Hyperthermie
Chemotherapie
Hormontherapie (52)
Watchful Waiting und Active Surveillance
Unter ,,Watchful Waiting" wird beim Prostatakarzinom eine langfristige Beobach-
tung mit verzögerter palliativer
5
und symptomorientierter Therapie verstan-
den (53). Definitionsgemäß hat demgegenüber Active Surveillance, bei ansons-
ten gesunden und für eine kurative Therapie geeigneten Patienten, das Ziel, die
rechtzeitige aktive Behandlung bis zu einem Zeitpunkt aufzuschieben, an dem
sich Hinweise auf eine Progression
6
ergeben oder der Patient diese
wünscht (54). Hierzu wird eine engmaschige Verlaufskontrolle mit festgelegten
Progressionsparametern einschließlich Kontrollbiopsie vorgenommen. Ziel der
aktiven Überwachung ist die Reduktion der Überbehandlung früher Tumorstadi-
en ohne Senkung der Heilungsraten. Die Empfehlungen zu Aktiver Überwa-
chung gründen sich auf Studien von begrenzter methodischer Qualität (ältere
Studien z. T. retrospektiv und kleine Fallzahlen, unterschiedliche Selektionskri-
terien und kurze Beobachtungszeiten). Neuere Studien sind in der Regel pros-
4
Der Gleason-Score dient der histologischen (feingeweblichen) Beurteilung der Drüsenmorphologie der
Prostata.
5
Als palliative Therapie bezeichnet man eine medizinische Behandlung, die nicht auf die Heilung einer
Erkrankung abzielt, sondern darauf, die Symptome zu lindern oder sonstige nachteilige Folgen zu re-
duzieren.
6
Unter Progression versteht man das Fortschreiten einer Krankheit bzw. eine weitere Verschlechterung
des Gesundheitszustands.

2 Theoretischer Hintergrund
11
pektiv und weisen mediane Nachbeobachtungszeiten zwischen 3,7 Jahren und
7,8 Jahren auf. Alle Studien decken hohe tumorspezifische Überlebensraten
auf. In der auf einen Evidenzbericht gegründeten Stellungnahme des National
Institutes of Health (NIH) zur Aktiven Überwachung wird diese als praktikable
Option für Patienten mit einem Tumor niedrigen Risikos bezeichnet (55).
Radikale Prostatektomie
Die radikale Prostatektomie ist eine primäre Therapieoption für Patienten mit
klinischem lokal begrenztem Prostatakarzinom aller Risikogruppen (41,56-60).
Prospektive randomisierte Studien bei Patienten mit klinisch lokal begrenztem
Tumor (T1b-T2 N0 M0), mit einem PSA-Wert unter 50 ng/ml und einer Lebens-
erwartung von mindestens zehn Jahren haben gezeigt, dass die radikale
Prostatektomie signifikant die Häufigkeit einer Progression der Erkrankung, das
Risiko von Fernmetastasen, die prostatakarzinomspezifische Mortalität und die
Gesamtmortalität gegenüber ,,Watchful Waiting" senkt (41,56,57,61). Das Ziel
der radikalen Prostatektomie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom ist die
Heilung des Patienten (Tumorfreiheit bis zum Lebensende) unter Erhalt der
Harnkontinenz und der erektilen Funktion.
Radiotherapie
Die Radiotherapie ist eine primäre Therapieoption beim lokal begrenzten Pros-
tatakarzinom aller Risikogruppen (62-66). Der Gemeinsame Bundesausschuss
(G-BA) kam 2008 auf der Grundlage einer systematischen Recherche zu dem
Ergebnis, dass für die Strahlentherapie noch keine ausreichenden Nutzenbele-
ge für die Therapie beim Prostatakarzinom vorliegen (67). Eine systematische
Recherche bis März 2011 ergab keine Studien, die eine Änderung dieser Fest-
stellung rechtfertigen (68-72). In einer Metaanalyse von Grimm (2012) wurden
hingegen anhand der Daten von ca. 52.000 Patienten mit lokalisiertem Prosta-
takarzinom 11 Behandlungsmethoden (operative Verfahren, Bestrahlungsme-
thoden, Hyperthermie usw.) untersucht und verglichen. Die besten Ergebnisse
lieferte stets ein Bestrahlungsverfahren. Den ausgeprägtesten Vorteil in Bezug
auf die langjährige Tumorkontrolle zeigte die Bestrahlung im Vergleich zur Ope-
ration bei Patienten mit Hochrisiko-Prostatakrebs (73).

2 Theoretischer Hintergrund
12
Brachytherapie
Bei der Brachytherapie handelt es sich um eine besondere Form der Radiothe-
rapie (Bestrahlung), bei der Tumore mit Hilfe einer radioaktiven Strahlenquelle
aus kurzer Entfernung bestrahlt werden können (74). Zu den Auswirkungen der
Low-Dose-Rate-Brachytherapie in Kombination mit perkutaner Strahlentherapie
und hormonablativer Therapie bei Patienten mit hohem Risiko liegen Daten aus
mehreren retrospektiven Fallserien vor. Mediane Nachbeobachtungen von bis
zu 8,5 Jahren zeigen rezidivfreie Überlebensraten von 30% bis 88% (75-78).
High-Dose-Rate-Brachytherapie als Monotherapie beim Prostatakarzinom wird
vorwiegend bei Tumoren des niedrigen Risikoprofils eingesetzt (79-84). Lang-
zeitergebnisse hinsichtlich Spättoxizitäten und PSA-Rezidiv-freiem Überleben
liegen nicht vor.
Hyperthermie
Unter dem Begriff der Hyperthermie versteht man die Erhitzung eines Organs
oder Körperteils auf über 42°C. Diese Erwärmung führt zu einer Wirkungsver-
stärkung einer zuvor oder anschließend verabreichten Strahlentherapie. In der
Anwendung beim Prostatakarzinom kommt dieser Behandlungsform aus-
schließlich experimenteller Charakter zu (12). In den vorliegenden wenigen
Phase-II-Studien, die nur Einzelfallbeschreibungen, meist in Kombination mit
einer externen Bestrahlung darstellen, werden zumeist nur die Nebenwirkungen
beschrieben (85-87).
Hormonbehandlung
Für Männer mit Prostatakrebs bietet die Hormonbehandlung eine wirksame
Strategie, um das Tumorwachstum zu kontrollieren. Eingesetzt wird der Hor-
monentzug vor allem bei fortgeschrittenen Prostatakarzinomen (88).
Chemotherapie
Die Chemotherapie bietet Patienten mit einem Prostatakarzinom die Möglich-
keit, auch bei einer fortgeschrittenen Erkrankung noch das Tumorwachstum zu
bremsen. Auf Grund der Nebenwirkungen ist die Chemotherapie nicht bei allen
Patienten einsetzbar. Solange andere Behandlungsverfahren wirken, ist eine
Chemotherapie daher keine Alternative (88).

2 Theoretischer Hintergrund
13
Insgesamt ist die Behandlung eines fortgeschrittenen Prostatakarzinoms eine
große therapeutische Herausforderung und für viele Patienten unbefriedigend.
Auch die psychische Belastung, die die Suche nach weiteren Therapiemöglich-
keiten und das schwierige Abwägen von Alternativen mit sich bringen, ist für
Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom immens.
2.1.4 Leben mit der Krankheit Prostatakarzinom
Die Diagnose Prostatakrebs ist meist ein schwerer Schicksalsschlag für die Be-
troffenen. Die Erkrankung wird als ein massiver Einschnitt erlebt, der alles bis-
her Gewohnte und das künftigen Leben in Frage stellt. Viele Betroffene überle-
gen sich, warum ausgerechnet sie erkrankt sind und suchen in ihrem Leben
nach zurückliegenden belastenden Ereignissen oder machen ihre bisherige Le-
bensweise dafür verantwortlich. Auf diese Frage gibt es allerdings keine Ant-
wort. Der erste Schritt zur Bewältigung der Erkrankung kann das Akzeptieren
des Schicksalsschlags und die Anpassung des bisherigen Lebensstils an die
neue Situation sein (89).
Nach abgeschlossener Prostatakrebstherapie spielt die Krankheit meist weiter-
hin eine Rolle im Leben der Betroffenen. Die Angst vor einem Rückfall ist oft-
mals groß und tritt insbesondere dann auf, wenn Nachsorgeuntersuchungen
beim Urologen anstehen. Neben der Erkennung von Rezidiven, dient die Nach-
sorge der Erkennung und Behandlung von Folge- und Begleiterkrankun-
gen (89).
Infolge der Erkrankung ändern sich häufig auch die Zukunftsperspektiven, was
eine zusätzliche emotionale Belastung darstellt. Ferner ist der Umgang mit der
Erkrankung individuell verschieden. Scott et al. (2004) konstatieren in ihrer Me-
taanalyse, dass problemfokussierte Männer mit Prostatakrebs ein höheres
Selbstwertgefühl aufweisen und mit Depression sowie Angstzuständen besser
umgehen können, als Männer die ein Vermeidungsverhalten gegenüber ihrer
Erkrankung zeigen (90).
Bei der Bewältigung der Krankheit sowie im täglichen Leben werden die Be-
troffenen vor allem von ihren Angehörigen und Freunden unterstützt. Sie leisten
praktischen, emotionalen und kognitive Beistand in Belastungs- und Krisensitu-
ationen (91-93). Durch ihre Hilfe und Unterstützung beeinflussen die Angehöri-

2 Theoretischer Hintergrund
14
gen auch ihre eigene Gesundheit und ihre eigene Lebensqualität (94). Ent-
scheidend für das Belastungserleben von Angehörigen ist die subjektive Bewer-
tung der objektiven Situation. Für dieses subjektive Belastungserleben sind die
unterschiedlichen Krankheitsverläufe mitverantwortlich. Objektive Belastungen
beziehen sich auf praktische Probleme des Alltags, wie eingeschränkte soziale
Kontakte, weniger Freizeit oder auch die Beeinflussung des Berufsalltags. Unter
subjektiven Belastungen werden psychologische Befindlichkeiten, wie Angst
und Hilflosigkeit verstanden (93). Um diesen Belastungen entgegenzuwirken,
kann es hilfreich sein, neutrale Personen, wie Sozialarbeiter, Psychologen, Mit-
arbeiter von Beratungsstellen hinzuzuziehen oder den Beistand von anderen
Betroffenen in Selbsthilfegruppen in Anspruch zu nehmen (89,95).
2.2 Krankheitsverarbeitung
Laut Franke et al. (2002) ist die Krankheitsverarbeitung die ,,Gesamtheit der
Prozesse, die eingesetzt werden, um bestehende oder erwartete Belastungen
im Zusammenhang mit Krankheit emotional, kognitiv oder aktional aufzufangen,
auszugleichen oder zu meistern" (96).
Bei einer Krebserkrankung wirken die unterschiedlichsten Belastungen auf den
Menschen ein. Wie Betroffene und Angehörigen die Krankheit Krebs verarbei-
ten, ist individuell verschieden und sowohl von der Art der Erkrankung und vom
Stadium der Krebserkrankung als auch vom persönlichen Bewältigungsstil des
Betroffenen abhängig. Ferner können bei ein und demselben Patienten in den
verschiedenen Phasen des Krankheitsverlaufes unterschiedliche Strategien im
Umgang mit der Krankheit sinnvoll sein. Bei Krebs spricht man von den vier
Phasen der Krankheitsverarbeitung, d. h. der schrittweisen Anpassung an die
veränderte Lebenssituation.
Nach der Diagnose besteht anfangs die Schockphase, die sich meist als
Verleugnung und ,,Nicht-wahrhaben-wollen zeigt.
Es folgt die Reaktionsphase, in der eine massive psychische Belastung,
infolge starker Ängste und oder Depression, besteht.
In der anschließenden Reparationsphase kommt es zur allmählichen
Anpassung an die aktuelle Situation.
Ende der Leseprobe aus 117 Seiten

Details

Titel
Einflussfaktoren für die Teilnahme an Selbsthilfegruppen von Männern mit Prostatakarzinom
Hochschule
Medizinische Hochschule Hannover  (Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung)
Note
10
Autoren
Jahr
2017
Seiten
117
Katalognummer
V388271
ISBN (eBook)
9783668623385
ISBN (Buch)
9783668623392
Dateigröße
3376 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prostatakarzinom, Selbsthilfegruppe, Krankheitsbewältigung, Einflussfaktoren
Arbeit zitieren
Darja Kühn (Autor:in)Marie-Luise Dierks (Reihenherausgeber:in)Gabriele Seidel (Reihenherausgeber:in), 2017, Einflussfaktoren für die Teilnahme an Selbsthilfegruppen von Männern mit Prostatakarzinom, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/388271

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