Die Bedeutsamkeit der Beziehungsdimension in der psychoanalytischen sozialpädagogischen Praxis am Beispiel von Klienten mit schwierigen Bindungserfahrungen


Bachelorarbeit, 2017

45 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Abstract

1. Einleitung

2. Beziehung und Intersubjektivität in der psychoanalytischen Sozialarbeit

3. Bindungstheoretische und entwicklungspsychologische Betrachtungen von Beziehungserfahrungen

3.1 Frühe Beziehungserfahrungen und deren Auswirkungen

3.2 Auswirkungen auf aktuelles inneres Erleben und Intersubjektivität

3.3 Schwierige Bindungserfahrungen

4. Relevanz von Beziehung in professionellen Hilfekontexten

4.1 Relevante Phänomene

5. Sozialpädagogik und Intersubjektivität

6. Entwicklungsförderliche Beziehungsangebote in der sozialpädagogischen Praxis

6.1 Hilfreiche methodische Elemente

6.2 Persönliche und fachliche Kompetenzen

6.3 Institutionelle Einbettung

7. Diskussion, Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis


1. Einleitung

 

„Jeder wahre Lehrer, jeder Arzt, jeder Therapeut, aber auch jeder Seelsorger kennt den eigentümlichen Sprung, der sich in seiner Beziehung zu dem ihm aufgegebenen Menschen vollzieht in dem Augenblick, in dem er nicht anders kann, als sich dem anderen gegenüber selbst zu öffnen und nun durch sein Amtskleid hindurch als der ganze Mensch hervortritt und so dem anderen als er selbst begegnet. Bei allen Gefahren, die damit verbunden sind - er weiß und spürt es: Erst jetzt erreicht er den anderen wirklich von Person zu Person.“ (Dürckheim 1997/2009: 43)

 

Die vorliegende Bachelorarbeit behandelt ein Thema, das in vielen Bereichen (psycho-) sozialer Unterstützungsangebote und insbesondere in Studium, Ausbildung, Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik durchgehend auftaucht: Die Frage nach einer professionellen Beziehungsgestaltung.

 

Da der Mensch ein Wesen sozialer Bezogenheit ist, stellt die Betrachtung, diese Bezogenheit in professioneller unterstützender Weise zu nutzen, ein interessantes und vielschichtiges Potential dar.

 

Doch wie kann dies im Hinblick auf Entwicklungsförderung und professioneller Kontextualisierung aussehen? Welche Rolle spielt das Menschsein der professionellen Fachkräfte dabei? Kann Beziehungsgestaltung tatsächlich bewusst genutzt und eingesetzt werden?

 

Anhand folgender Forschungsfrage sollen sich die anschließenden Ausführungen dieser Thematik annähern:

 

Welche Faktoren sind relevant für die Gestaltung von professionellen und entwicklungsfördernden Beziehungsangeboten im Kontext einer psychoanalytisch orientierten Haltung in der sozialpädagogischen Praxis?

 

Die Konzepte psychoanalytischer Sozialarbeit werden herangezogen, da sie mit der von ihnen vermittelten Haltung der Interaktion und Beziehung zwischen den Sozialarbeiter/-innen und Klient/-innen eine große Bedeutung beimessen und davon ausgehen, dass eine gute Beziehung entwicklungsfördernd wirken kann. Dies soll in der vorliegenden Arbeit näher untersucht werden. In den betrachteten Theorien der Psychoanalyse umfasst Beziehung die Interaktionen zwischen zwei Akteur/-innen, ihr gestaltetes Erleben miteinander. Sie ist all das, was zwischen zwei Subjekten stattfindet und reicht weit über die verbale Kommunikation hinaus. Deshalb hat sich in den letzten Jahren der Begriff der Intersubjektivität herausgebildet, der in dieser Arbeit neben dem oft genutzten Begriff der Beziehung einfließt. Er bietet eine treffende Beschreibung für den Raum, der zwischen zwei Subjekten entsteht, von beiden sowohl bewusst als auch unbewusst geprägt ist und gleichzeitig eine eigene Dynamik entwickelt.

 

Wenn davon auszugehen ist, dass die Beziehung ein wichtiges Instrument und eine grundlegende Basis der sozialpädagogischen Arbeit darstellt, dann gilt es, sich mit beziehungsdynamischen Prozessen und der Bedeutung der Beziehung für die Klient/-innen auch auf theoretischer Ebene auseinanderzusetzen, um eine Reflexion der Praxis zu ermöglichen. Die Arbeit mit Klient/-innen mit schwierigen Bindungserfahrungen wird deshalb beispielhaft herangezogen, weil sie einerseits deutlich werden lässt, welche Bedeutsamkeit der Beziehungsarbeit zukommt und weil sie andererseits verständlich macht, wie Beziehung als Möglichkeit einer Entwicklungsförderung wirken kann. Aus psychoanalytischer Sicht und durch die Erkenntnisse der Säuglings- und Bindungsforschung, wurde aufgezeigt, dass eine gute und stabile frühe Beziehungserfahrung zwischen primärer Bezugsperson und Kind „zur Förderung der Reifungsentwicklung notwendig ist“ (Klöpper 2014: 258). Erlebt das Kind mit seinen primären Bezugspersonen schwierige Bindungserfahrungen, kann sich dies demzufolge negativ auf seine Entwicklung auswirken. Diese Entwicklungspsychologische, bindungstheoretische Betrachtung von frühen Beziehungserfahrungen und mögliche Folgen schwieriger Bindungserlebnisse werden in den ersten Kapiteln erläutert.

 

Das folgende große Kapitel befasst sich mit der Relevanz von Beziehung in der Interaktion zwischen Sozialpädagog/-innen und Klient/-innen, insbesondere im Hinblick auf die Folgen von bereits gesammelten schwierigen Beziehungserfahrungen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Betrachtung der Beziehung als Raum von Intersubjektivität und Möglichkeit von Nachreifung und sozialem Lernen. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Frage, inwieweit die Person der Sozialpädagogin/des Sozialpädagogen auch mit eigenem inneren Erleben involviert ist. Denn wenn davon auszugehen ist, dass Intersubjektivität eine wesentliche Grundlage sozialpädagogischer Arbeit darstellt, dann ist die Person des/der Sozialpädagog/-in ebenfalls von der Beziehungsdynamik betroffen.

 

Schließlich wird in den letzten Kapiteln untersucht, welche Faktoren entscheidend für eine entwicklungsförderliche Beziehungsgestaltung sind. Hierbei fließen die Erkenntnisse aus der entwicklungspsychologischen Betrachtung und die psychoanalytische Perspektive auf Interaktionsgeschehen zwischen Sozialpädagog/-in und Klient/-in zusammen und bilden die Grundlage für angestellte Überlegungen zur Beantwortung der Fragestellung. Ferner werden weitere Aspekte betrachtet, die speziell für die sozialpädagogische Arbeit und ihre besondere Stellung und Aufgaben von Wichtigkeit sind und nicht ausschließlich der psychoanalytischen Theorie entstammen.

 

Es bleibt vorab zu erwähnen, dass das Anliegen dieser Ausarbeitung nicht darin besteht, die Frage nach einer professionellen Beziehung endgültig zu beantworten. Sie dreht sich vor allem um die Herausarbeitung von unterschiedlichen Faktoren und Einflüssen, die auf eine Beziehungsgestaltung wirken, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, mit welchen Gegebenheiten und Fragen sich die sozialpädagogische Praxis auseinandersetzt.

 

2. Beziehung und Intersubjektivität in der psychoanalytischen Sozialarbeit

 

„Beziehung heißt auf der sichtbaren Ebene Verbindlichkeit eines Kontaktes, Kommunikation und Verstehen. Auf einer latenten, zum Teil unbewussten Ebene heißt Beziehung, den Anderen eine Bedeutung gewinnen, ihn zu einem signifikanten Anderen werden zu lassen“ (Günter u. Bruns 2010:19).

 

In der psychoanalytischen Sozialarbeit findet die Psychoanalyse Anwendung im sozialen Bereich, was bedeutet, dass die „instrumentelle Hilfe“ der klassischen sozialpädagogischen Hilfe mit der Arbeit und „Nutzung der Beziehung“ zu Klient/-innen in diesem Bereich zusammenfällt (ebd.: 19). Die Beziehungsarbeit hat demnach eine zentrale Bedeutung und wird nicht nur im Hinblick auf offensichtliche Beziehungsinteraktion betrachtet. Sie schließt „latente“ und „unbewusste“, nonverbal kommunizierte und agierte Ebenen des Kontaktes mit ein (ebd.: 19).

 

Aus den zahlreichen psychoanalytischen Strömungen haben sich auch verschiedene Theorien entwickelt, die den Aspekt der sozialen Bezogenheit des Menschen ganz besonders in den Vordergrund stellen. Die Objektbeziehungstheorien geben der frühen Beziehung zwischen dem Kind und einem Objekt eine vordergründige Bedeutung, wobei das Bedürfnis nach Nähe und Beziehung zu einem Objekt als angeborene Tatsache betrachtet wird. Ein bekannter Vertreter dieser Theorie ist z.B. Winnicott (1951). Ein weiterer theoretischer Zweig, der sich in diesem Zusammenhang herausgebildet hat, ist die Selbstpsychologie, die von Heinz Kohut (1971) begründet wurde. Im Mittelpunkt dieser steht das Selbst, welches subjektive bewusste und unbewusste Erfahrungen mit der Umwelt und deren Objekte macht. (Günter u. Bruns 2010). Die moderne Säuglingsforschung hat nachgewiesen, dass psychische Strukturen und Funktionen durch Intersubjektivität entstehen, durch den Raum und das Agieren zwischen Subjekten (Dornes 2006 nach Günter u. Bruns 2010). Der Zusammenhang zwischen sozialem Leben als „grundlegendem Erfahrungsbereich“ (Streeck 2007: 17) und seelischem Erleben wird in der intersubjektiven Betrachtungsweise klar herausgestellt. Die unterschiedlichen Ansätze der intersubjektiven Psychoanalysetheorie gehen alle gemeinsam davon aus, dass die frühkindlichen Beziehungserfahrungen grundlegend bedeutsam sind und diese in späteren zwischenmenschlichen Beziehungen reaktiviert werden (Günter u. Bruns 2010). Die Interaktion zwischen Analytiker/-in bzw. Sozialpädagog/-in und Klient/-in ist demnach eine Widerspiegelung basaler Beziehungserfahrungen und wird einerseits genutzt, um vorhandene innerpsychische Strukturen zu verstehen, andererseits auch, um „Beziehungsfähigkeit“, „Ich-Funktionen“ und „Symbolisierungsleistungen“ (Günter u. Bruns 2010: 26f.) im Rahmen einer aktualisierten, entwicklungsförderlichen Beziehung nachreifen zu lassen. Dies nimmt Bezug zu einem weiteren wichtigen theoretischen Grundgedanken, der allen psychoanalytischen Richtungen gemein ist: die Annahme der „Existenz des Unbewussten und seiner Bedeutung für das menschliche Denken, Fühlen, und Handeln“ (ebd.: 45). Diese Auffassung hat wesentliche Auswirkung auf die Vorstellung einer professionellen Beziehungsgestaltung, da sie Fragen nach unbewussten Prozessen, Konflikten und den entsprechenden Umgang damit aufwirft. Beziehungsgestaltung ist infolgedessen eine Ebene der bewussten Einbeziehung unbewusster Mechanismen und Muster, die sowohl auf der Seite der Klient/-innen als auch auf der Seite der Pädagog/-innen vorhanden sind und sich in der Intersubjektivität widerspiegeln. Das Unbewusste drückt sich nach der psychoanalytischen Sicht in Träumen, Übertragungsinszenierungen, Fehlleistungen oder Fehlhandlungen, der Körpersprache und neurotischen oder psychosomatischen Symptomen aus (Stemmer-Lück 2012). Die Einbeziehung unbewusster Anteile und Strukturen ist ein zentraler Punkt, um den die Psychoanalyse pädagogische Konzepte erweitern kann. Dazu ist es notwendig, Phänomene des inneren Erlebens zu betrachten und herauszuarbeiten. Ferner sollte beurteilt werden, inwiefern die Beziehungsarbeit eine Möglichkeit bietet, unbewusste Dynamiken und Prozesse zu erkennen und ggf. zu wandeln. Ein „zentrales Verbindungselement zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten“ ist die „Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung“ (Günter u. Bruns 2010: 25f.), die neben dem Mentalisierungskonzept, der Affektentwicklung und Affektregulation, der Projektion, dem szenischen Verstehen und anderen für die Auseinandersetzung mit der Beziehungsdimension relevanten Phänomenen in folgenden Kapiteln näher betrachtet wird.

 

Intersubjektivität

 

Intersubjektivität wird in vielen Theorien und Professionen als Begrifflichkeit genutzt, beschreibt in all jenen dabei jedoch ein anderes Phänomen. Der Begriff der Intersubjektivität, auf den diese Ausführungen Bezug nehmen, orientiert sich an der Weiterentwicklung einer psychoanalytischen Perspektive, insbesondere der Selbstpsychologie. Die intersubjektive Sichtweise geht weniger von einer hierarchischen Struktur zwischen Analytiker/-in und Patient/-in aus. Sie nähert sich zunehmend dem Raum der Begegnung zweier Subjekte und seiner Untersuchung an. Jaenicke (2006, 2010) beschreibt die Beziehung der Subjekte als wechselseitig beeinflussend, auch in analytischen, therapeutischen Settings oder im alltäglichen Erleben, da in jeder Interaktion zwischen (mindestens) zwei Subjekten ein Raum von Intersubjektivität eröffnet wird. Die Subjekte begegnen sich mit ihrem gesamten Erfahrungsschatz, bewusster als auch unbewusster Natur, wirken aufeinander ein und beziehen sich aufeinander. Dem liegt die Idee zugrunde, dass keinerlei tatsächliche Objektivität oder Abstinenz in intersubjektiven Beziehungen existieren kann und jede Beziehungsqualität eine einzigartige, von zwei Subjekten gemeinsam kreierte ist. Die Persönlichkeit der Analytikerin/des Analytikers steht dabei nicht außerhalb der Beziehung, sondern ist Teil dieser (Jaenicke 2006). Von alltäglichen Beziehung unterscheiden sich pädagogische, analytische oder therapeutische Settings dahingehend, dass der Fokus der gemeinsamen Arbeitsbeziehung nicht auf der persönlichen Entwicklung und dem inneren Erleben der Pädagogin/des Pädagogen, der Analytikerin/des Analytikers, der Therapeutin/des Therapeuten liegt, sondern auf der der Klientin/des Klienten. Diese professionell eingebetteten Beziehungen dienen dazu bzw. sollten dazu dienen, die Entwicklung und Erfahrungswelt der Klientin/des Klienten im intersubjektiven Raum zu ermöglichen. Damit einhergehend ist es wichtig zu erkennen, dass diese Art der Beziehungen auch in der Betrachtung der Intersubjektivität asymmetrisch ist und im Zentrum der Aufmerksamkeit die Klientin/der Klient steht. (ebd. 2010).

 

Die grundsätzlichen Ideen der psychoanalytischen Sozialarbeit, die sich aus der Psychoanalyse und dem pädagogischen Bezug ergeben, bieten eine breite Grundlage dafür, sich intensiv mit der Bedeutung der Beziehungsdimension im Kontext sozialer Arbeit auseinanderzusetzen. „Psychoanalytische Pädagogik nimmt viele Aspekte der professionellen Beziehungsgestaltung in psychosozialen Arbeitszusammenhängen in den Fokus“ (Gahleitner 2017). Das Element der unbewusst einfließenden und ausagierten Ebenen bietet dabei besondere Herausforderungen, da sie einen tieferen Blick in die Entwicklung der menschlichen Psyche und der Mechanismen und Prozesse der Intersubjektivität erfordern. Dabei ist klar herauszustellen, dass der/die Pädagog/-in sich in besonderer Weise zur Klientin/zum Klienten befindet, da das Setting kein expliziter Raum der Psychoanalyse oder der therapeutischen Intervention ist. Vielmehr ist er in der alltäglichen Lebenswelt der Klientin/des Klienten beziehungsweise in einem Kontext, der auf diese Lebenswelt direkt Bezug nimmt (z.B. Beratungssettings), eingebettet. In der Regel ist die Beziehungsarbeit in der psychoanalytischen Sozialarbeit für einen längeren und intensiveren Zeitraum angedacht, was ebenfalls eine Besonderheit darstellt. 

 

3. Bindungstheoretische und entwicklungspsychologische Betrachtungen von Beziehungserfahrungen

 

„Das Zusammenleben mit Anderen ist nicht ein Lebensbereich neben anderen, sondern hat weit existentiellere Bedeutung. Wir sind nicht erst Einzelne und dann soziale Wesen …“ (Streeck 2007: 29), sondern definieren unser Selbst erst aus der sozialen Beziehung heraus.

 

Soziale Interaktion, Beziehung, sich auf jemanden beziehen und einbezogen zu werden ist von existenzieller Bedeutung. Mit dieser Betrachtungsweise wird deutlich, wie wesentlich Beziehungserfahrungen und individuelle Entwicklung zusammenhängen. Daher ist es notwendig, sich im Folgenden allgemeinen theoretischen Grundlagen der Bindungstheorien und Entwicklungspsychologie zu widmen.

 

3.1 Frühe Beziehungserfahrungen und deren Auswirkungen

 

Frühe Bindungs- und Beziehungserfahrungen sind nicht nur grundlegend für innere Vorstellungen und Modelle von der Art und Weise des eigenen Beziehungserlebens und -gestaltens, sie haben ebenso eine große Bedeutung für die Entwicklung des Selbst. Sie bilden den Rahmen und die Bedingungen, innerhalb derer sich das Selbst eines Säuglings und späteren jungen Menschen entwickeln kann (Rass 2014) und sind „offenbar emotional besonders wirksam“ (Roth 2004: 39). Dieser Zusammenhang wurde in der Bindungsforschung intensiv untersucht und ebenso die Hirnforschung hat herausgefunden, dass basale Bindungsprozesse die Ausbildung von Nervenzellen im Gehirn maßgeblich mitbestimmen (Rass 2014). Wesentlich dabei ist, dass die Begriffe Bindung und Beziehung voneinander abzugrenzen sind. „Bindung“ beschreibt eher eine Urerfahrung von Beziehung, die sehr wesentlich und grundlegend für die Entwicklung und auf die Beziehung zu den primären Bezugspersonen zurückzuführen ist. „Beziehung“ umfasst jede Art von intersubjektivem Geschehen, bei dem sich Subjekte aufeinander beziehen und sich Bedeutung schenken.  

 

Einen großen Beitrag zum Verständnis der Bedeutsamkeit von Bindungen hat die Bindungstheorie geleistet, die von John Bowlby begründet wurde.

 

„Sie besagt, daß [sic!] die Entwicklung einer sicheren emotionalen Bindungsbeziehung … für die emotionale Stabilität und die gesunde psychische Entwicklung [des Kindes] ein Schutzfaktor ist. Die Bindungsbeziehung hat … den Charakter einer ,sicheren emotionalen Basis‘, auf die in Situationen von äußerer und innerer Gefahr … sowohl real als auch emotional … zurückgegriffen werden kann.“ (Brisch u. Hellbrügge 2003: 7; Anmerkungen der Verfasserin)

 

Dabei entwickelte Bowlby eine Klassifikation von vier Bindungsqualitäten, die die Art der Bindung zur primären Bezugsperson beschreiben und sich später in inneren Bindungsrepräsentanzen widerspiegeln. Die vier Bindungsqualitäten sind:

 

 sicher gebunden,

 

 unsicher-vermeidend gebunden,

 

 unsicher-ambivalent gebunden,

 

 desorganisiert gebunden

 

Die Qualität einer sicheren Bindung stellt den Idealfall dar, ist geprägt von Sicherheit und guter Spiegelung und Kommunikation (Klöpper 2014; Rass 2014 u.a.). Im Rahmen dieser Ausführungen kann nicht im Detail auf die einzelnen Bindungsqualitäten eingegangen werden. Substanziell ist, dass es unterschiedliche Bindungsqualitäten gibt und sie sich besonders im Aspekt von Sicherheit unterscheiden. Unsicher oder desorganisiert gebundene Kinder haben nicht die gleichen idealen Voraussetzungen, Beziehungsfähigkeit zu entwickeln und die Welt für sich zu entdecken, wie sicher gebundene Kinder. Ungeachtet dessen hat dies keinerlei Störungsqualität, wohl aber Einfluss auf die Persönlichkeit, die Entwicklung und die spätere Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten und sozial zu interagieren. Bindungsstörungen können infolge traumatischer und schwer belasteter Bindungserfahrung entstehen. Diese haben Krankheitswert und sind in der Regel schwerwiegend.

 

Roth (2010) beschreibt, dass insbesondere die sehr frühen Bindungserfahrungen und die damit verbundenen Gefühle ein Leben lang erhalten bleiben und zumindest unbewusst gespeichert sind. Für eine gelungene Beziehungskommunikation ist es wichtig, dass sich das Kind von der Bezugsperson verstanden fühlt. Für die generelle Entwicklung des Kindes ist es jedoch noch erheblicher von Bedeutung, dass eine Kommunikation und Interaktion stattfindet (Klöpper, 2014).

 

Affektentwicklung und Affektregulation

 

Bindungserfahrung haben elementare Auswirkungen auf die affektive Entwicklung eines Menschen. „Viele experimentelle und klinische Arbeiten zeigen, dass die Reifung der Affekte das Schlüsselereignis im Säuglingsalter ist, und dass der Erwerb einer Kontrollfunktion für die Selbstregulation von Affekten einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung darstellt“ (Rass 2014: 26).

 

Das Gelingen der Entwicklung des Kindes hängt davon ab, wie sich die Beziehung zu ihren primären Bindungspersonen gestaltet und ob eine sichere Bindung entstehen kann. Der Säugling bleibt durch angeborene Fähigkeiten nicht nur passiv an der Kommunikation beteiligt. (Streeck-Fischer 2014). „Säuglinge aktivieren in der frühen Pflegeperson Beschützerinstinkte. Mit ihrem Lächeln, Gurren, Schreien und vielfältigen Disstresssignalen gestalten sie aktiv die Interaktion mit der frühen Pflegeperson mit“ (ebd.: 181).

 

Im Säuglingsalter kann das Kind seine Affekte noch nicht selbst regulieren und ihre Reifung ist ein wesentlicher Entwicklungsprozess in den ersten Lebensjahren. Der wechselseitige Austausch von nonverbalen Informationen lehrt das Kind in diesem frühen Lebensstadium, wie eigene Affekte reguliert und Affekte des Gegenübers erkannt und gedeutet werden können. Dabei werden keine „Kognitionen“, sondern „Bindungskommunikationen“ (Rass 2014: 27) kommuniziert, die von starken Gefühlen begleitet werden. Kind und primäre Bezugsperson befinden sich in einer dyadischen Beziehung, die im günstigsten Fall entwicklungsfördernd auf die Erregungen und Gefühle des mit seinen Gefühlen vollständig identifizierten Säuglings wirkt. Dieser präverbale Austausch findet unbewusst, intuitiv und im Bereich des „impliziten Beziehungswissens“ statt (ebd.: 26f.). 

 

In den ersten Monaten integriert und differenziert das Kind seine eigenen Affekte zunehmend. Durch die Spiegelung und Reaktion der Bezugsperson auf die Affekte des Säuglings, können in diesem ein Abbild seiner Affekte und ein Abbild seines Selbst entstehen. Die eigenen Affekte werden beantwortet durch Affektspiegelung der Bezugsperson beantwortet, dies jedoch in einer leicht veränderten Art und Weise, wodurch sie reguliert werden können. Affektäußerungen werden von der Bezugsperson markiert und ihnen wird eine Bedeutung gegeben, wodurch auch das Selbst bedeutsam wird. Die äußere Welt wird zu einer Antwort auf das innere Erleben des Säuglings. Der eigene Ausdruck des inneren Erlebens wird durch die Spiegelung zu einem inneren Abdruck und Kennzeichnung des eigenen Erlebens, aus dem eine Art inneres Muster entsteht (siehe Kapitel „Innere Arbeitsmodelle“).

 

Durch die intersubjektiven Vorgänge und die Kommunikation, die nonverbaler, „handlungsdialogisch[er]“ (Klöpper 2014: 249, Anmerkung der Verfasserin) Natur ist, kann der Säugling zunehmend Affekte ausdifferenzieren, verarbeitend wahrnehmen, eine innere Vorstellung von ihnen entwickeln und durch die Widerspiegelung und Beantwortung seines Agierens, seines sich-Bewegens in der Welt,  Konzepte über sein Selbst entwickeln. Darüber hinaus entsteht im weiteren Verlauf auch die Fähigkeit und hohe kognitive Leistung, Ideen über Gefühle und Gedanken im Gegenüber zu entwickeln, da in Mimik, Gestik und Stimmlage bestimmte Muster und Hinweise zu erkennen sind. Diese begleitenden starken Gefühle erzeugen Stimmungen, die die Beziehungsqualität färben. (Rass 2014).

 

Die für den Säugling wichtige Atmosphäre von Sicherheit kann nur gegeben sein, wenn die Bezugsperson adäquat ihrer eigenen Emotionen und auf die des Säuglings gut abgestimmt antwortet. (ebd.: 27). Einem gesunden Säugling ist es möglich, die Mimik seines Gegenübers zu imitieren, wodurch in ihm „die gleiche Sensation des autonomen Nervensystems“ entsteht (Köhler 1995 zit. nach Rass 2014: 29). Dadurch ist das Kind den Emotionen der Bezugsperson stark ausgesetzt und kann zwischen inneren eigenen Gefühlen und denen von außen integrierten noch nicht unterscheiden. Werden diese Affekte nicht oder nur eingeschränkt gespiegelt, nur zum Teil oder gar nicht durch die Bezugsperson reguliert, kann es zu grundlegenden Störungen im Selbstbild, in der Differenzierung, Wahrnehmung und Selbstregulierung von Gefühlen und im Verstehen sozialer Interaktionsmuster kommen. Das Kind erfährt keine Stabilität oder Sicherheit in der eigenen emotionalen Entwicklung und erfährt eine Vulnerabilität der basalen psychischen Strukturen und Entwicklungsgrundlagen (Rass 2014). Daraus entsteht ein kritisches Spannungsverhältnis, da die primäre Bezugsperson als Quelle der Sicherheit und einzigen sozialen Bezogenheit wirkt und gleichzeitig, bei schwieriger und belasteter Kommunikation, eine Quelle von Schmerz, Ablehnung und Gefahr darstellen kann. „Fehlende Feinfühligkeit und Empathie und unzureichende affektive Abstimmung bei den Fürsorgepersonen können daher als Hauptfaktoren für eine ungesunde Entwicklung angesehen werden“ (ebd.: 40).

 

Innere Arbeitsmodelle

 

Innere Arbeitsmodelle sind die wesentlichen Muster und organisatorische Strukturen, die unbewusst in Menschen wirken und ihre Wurzeln in der Interaktion mit den primären Bindungspersonen haben. Sie sind die inneren, generalisierten Konzepte der Wirklichkeit, keine genaue Abbildung dieser. Sie beinalten unbewusste Vorstellungen vom eigenen Selbst, von Beziehungsgestaltung, von Bindungspersonen und der Umwelt. (Bowlby 1958, zit. nach Seiffge-Krenke 2004). Diese inneren Repräsentationen bilden die Grundlage für den Menschen, sich in der Welt und in Interaktion mit dieser zu entwickeln, zu bewegen und zu verhalten. Das Kind entwickelt aufgrund dieser Arbeitsmodelle Erwartungshaltungen gegenüber späteren Beziehungen und organisiert sein Verhalten nach diesen (Fonagy u. Target 2007). Je genauer das innere Arbeitsmodell die Wirklichkeit widerspiegelt, desto leichter ist es für den Menschen, sich adäquater in Verhalten und Agieren in der Welt zu bewegen. Dieses Modell der inneren Konstrukte beschreibt nicht nur die für die Entwicklung des Kindes selbst relevanten Aspekte, sondern impliziert auch eine transgenerationelle Bedeutung: „Unser Selbstbild beruht auf dem für unsere Bezugspersonen charakteristischen Arbeitsmodell von Beziehungen“ (ebd.: 53). Die von den Bezugspersonen gelebten Beziehungsmuster könnten demnach Prognosen auf die zukünftigen möglichen Beziehungsmuster des Kindes zulassen und anamnestisch von Bedeutung sein.

 

Nach psychoanalytischer Sicht ist Entwicklung „dynamisch[er]“ Natur und ein „lebenslanger Prozess“ (Stemmer-Lück 2009: 43, Anmerkung der Verfasserin), was darauf hindeutet, dass unbewusste Strukturen und Muster zwar sehr tief in der psychischen Struktur angelegt sein können, die Entwicklung dieser jedoch nie vollständig abgeschlossen ist. Auch im weiteren Verlauf des Lebens erlangte Beziehungserfahrungen beeinflussen die inneren Muster und können sie umstrukturieren. Voraussetzung ist, dass alte, sich durch unbewusste Reinszenierung wiederholende Strukturen, bis zu einem gewissen Grad bewusst gemacht werden konnten. Für die sozialpädagogische Arbeit bedeutet dies, dass die Dynamik der Entwicklung als Grundlage neuer Erfahrungen und Inspirationen genutzt werden kann und sich entwicklungsförderliche Angebote nicht nur auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beschränken lässt.

 

3.2  Auswirkungen auf aktuelles inneres Erleben und Intersubjektivität

 

Die Art und Weise, wie in den ersten Lebensjahren Beziehungserfahrungen erlebt und im Subjekt verankert werden, ist entscheidend für die Interaktionen in späteren Lebenssituationen. Die Interaktionen mit den Mitmenschen im Außen werden internalisiert und zu intrapsychischen Dynamiken, die Auswirkungen auf die eigene Beziehungsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung haben. Deshalb ist die Betrachtung der Beziehungsdimension in der Arbeit mit Klient/-innen so entscheidend, da sie die gesamte Persönlichkeit und ihre Interaktion mit der Umwelt bedingt und beeinflusst. Sie findet sich in einem aktualisierten bzw. wiederbelebten Zustand im Hier und Jetzt der Begegnung im sozialpädagogischen Hilfekontext.

 

Empathie

 

Wie genau das Verstehen des Erlebens einer anderen Person geschieht oder zu erklären ist, ist noch nicht endgültig erforscht und es bestehen viele theoretische und wissenschaftliche Ansätze zur Ergründung dieses Phänomens. Es gibt u.a. Konzepte der Perspektivenübernahme (z.B. Selman 1982), der Spiegelneuronen (Bauer 2005) und der Empathie. Letztere werden an dieser Stelle hauptsächlich betrachtet, da die Idee der Empathie in vielen fachlichen Auseinandersetzungen überwiegend Erwähnung findet. Die Wahrnehmungsmöglichkeit zwischen dem eigenen Selbst und einem anderen zu unterscheiden ist eine wichtige kognitive Leistung. Dies ist die Voraussetzung für eine weitere kognitive und emotionale Fähigkeit, die es ermöglicht, das Erleben und die Gefühlswelt eines anderen wahrzunehmen und an dieser auf einer emotionalen Ebene teilzuhaben. Diese Fähigkeit wird als Empathie bezeichnet (Friedlmeier u. Trommsdorff 1992, Schmitt 2003). Empathie setzt sich dabei aus unterschiedlichen Ebenen zusammen, die Körner in drei Bereiche einteilt: „Der Gefühlsansteckung, der Perspektivenübernahme und der Fähigkeit, den Kontext sozialer Situationen zu verstehen“ (1998: 1). Die Affektansteckung lässt sich dabei als der wesentliche Kern der affektiven Beteiligung im Sinne der Empathie verstehen, wobei es eine klare Unterscheidung in Bezug auf „den Grad der Identifikation“ (Friedlmeier u. Trommsdorff 1992: 138) zwischen Empathie und Affektansteckung gibt. Im Kontext von Empathie kann im Wesentlichen von der Person des Ich und der anderen Person unterschieden werden, während eine emotionale Beteiligung besteht. Bei der Affektansteckung ist das Subjekt voll und ganz mit der anderen Person und ihrem affektiven Zustand identifiziert (ebd.). Die anderen beiden von Körner benannten Bereiche sind eher als kognitive Fähigkeiten der Empathie zu beschreiben und gründen auf einer Art des kognitiven Verstehens der Situation einer anderen Person oder sozialer Zusammenhänge. Ausführliche Beschreibungen der Komplexität der Perspektivenübernahme finden sich z.B. bei Geulen (1982).

 

Mentalisierung - Theory of Mind

 

Das hier in kurzer und stark reduzierter Form dargestellte „intersubjektive Konzept“ (Altmeyer u. Thomä 2010: 18) der Mentalisierung, auch Theory of Mind genannt, wurde von Fonagy (2008) und seiner Arbeitsgruppe entwickelt und hat eine entscheidende Relevanz für die Betrachtung des Zusammenhangs von Entwicklung und Intersubjektivität. Dieses Konzept beinhaltet viele komplexe, sich schrittweise vollziehende kognitive Entwicklungen, die im Laufe der ersten Lebensjahre vom Kind durchlaufen werden und ihm bei erfolgreicher Bewältigung ungefähr im fünften Lebensjahr „zur Verfügung“ (Klöpper, 2014) stehen. Fonagy beschreibt diese Entwicklungen als „vorbewusste[] imaginative[] mentale[] Aktivitäten“ (2008: 134, Anmerkung der Verfasserin), die bedeuten, dass ein Mensch sich selbst oder anderen mentale Zustände zuschreiben und dadurch sein Verhalten und seine Motivation oder Intention interpretieren kann (Dornes, 2004; Köhler 2004). Die Möglichkeit dieser Zuschreibung setzt voraus, dass eine Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem möglich ist und Gefühle und mentale sowie affektive Zustände als Repräsentanzen existieren. Mentalisierung beschreibt die Fähigkeit, eigene innere Zustände, Bedürfnisse, etc. und die Vermutungen über die Zustände, Bedürfnisse etc. eines Gegenübers sowie die gemeinsame Interaktion und Wechselwirkung dieser reflektieren zu können. Sie ermöglicht es, inneres Erleben bewusst wahrzunehmen, es als etwas Individuelles bzw. Subjektives zu betrachten und entsteht im Wesentlichen in der Bezugspersonen-Kind-Beziehung. (Fonagy, Gergely, Jurist, Elliot, Target 2004; Fonagy 2008). Die subjektive Betrachtung psychischer Zustände ist deshalb eine so wichtige Erkenntnis der mentalen Entwicklung, weil sie dem Menschen ermöglicht, zwischen der inneren Realität und Wahrnehmung einer/eines Anderen und der eigenen zu unterscheiden. Mit den Fähigkeiten zur Mentalisierung ist außerdem das Verständnis verbunden, dass die Ideen über das eigene oder fremde innere Erleben „der eigenen Phantasiewelt“ (Klöpper 2014: 266) entspringen und der Realität nicht entsprechen müssen. 

 

Zwei unreife Mentalisierungsformen, die als Zwischenschritte der mentalen Entwicklung betrachtet werden, sind der Äquivalenmodus (erstes und zweites Lebensjahr) und der Als-ob-Modus (drittes bis fünftes Lebensjahr). Im Äquivalenzmodus erlebt das Kind Gefühle und Kognition als einheitliches Zusammenspiel und die innere Welt mit der äußeren als deckungsgleich. Die eigenen Gefühle und Gedanken werden auch als die des Gegenübers angenommen und dies in ganz konkreter Art und Weise. Das Kind kann noch nicht zwischen Interpretationen der Umwelt und der tatsächlichen Wirklichkeit unterscheiden, weswegen es annimmt, dass die eigene Wahrnehmung und das Empfinden der Welt auch die der Anderen sein muss. Das bedeutet fernerhin, dass alle Empfindungen des Kindes von ihm auch als Realität übersetzt werden.

 

Der Als-ob-Modus ist der Modus des Spiels und der Fähigkeit zu Fantasie, bei dem die Verschmelzung des Inneren mit dem Äußeren aufgelöst wird. Die physische Wirklichkeit ist eine Realität, die sich von der imaginierten, inneren Wirklichkeit unterscheidet. Der Als-ob-Modus bietet dem Kind die Möglichkeit der Verarbeitung psychischer Zustände auf mentaler Ebene, während es im Spiel Lösungen von Fragen und (inneren) Konflikten entwickeln kann. Das Spiel ist ein wichtiger Entwicklungsraum des Kindes. Bezüglich der Heranreifung der Mentalisierungsfähigkeit im Als-Ob-Modus ist die Fähigkeit des Kindes entscheidend, leicht zwischen der Fantasiewelt und der tatsächlichen Wirklichkeit wechseln zu können. (Klöpper 2014, Dornes 2004). Das Kind wechselt zwischen diesen beiden Modi hin und her, um sie im weiteren Verlauf in der reifen Form der Mentalisierung, dem Reflexionsmodus, zu integrieren. Es erkennt Zusammenhänge und Unterschiede der mentalen und äußeren Wirklichkeit und wird fähig, über eigene mentale Zustände auf einer metakognitiven Ebene nachdenken zu können. Dabei versteht es, dass es einen Unterschied gibt zwischen seiner Perspektive auf die Welt, die aus seinen Gefühlen und Gedanken entsteht, der tatsächlichen Wirklichkeit und der Perspektive anderer auf diese Wirklichkeit (Dornes 2013).

 

3.3 Schwierige Bindungserfahrungen

 

Zu den möglichen Belastungen, die die Bindung zwischen Bindungspersonen und Kind nachhaltig beeinflussen können, „gehören etwa psychosoziale Belastungen, wie Armut und Verlust des Arbeitsplatzes, frühere traumatische Erlebnisse aus der eigenen Kindheit, … frühere Fehl,- Tot- und Frühgeburten sowie psychische Erkrankungen“ (Brisch 2011: 292) der Bezugspersonen. Es gibt ebenso eine Vielzahl von Facetten und Möglichkeiten, wie sich schwierige und traumatische Bindungserfahrungen auf die Persönlichkeitsstruktur und Beziehungsfähigkeit, sowie auf die allgemeine psychische Entwicklung eines Menschen auswirken können. Diese seien hier nur angedeutet, um auf die Verknüpfung von Beziehungsdynamiken und möglichen bei Klient/-innen im Bereich der sozialpädagogischen Arbeit auftretenden Konflikte, Auffälligkeiten oder Schwierigkeiten hinzuweisen.

 

„Als Voraussetzung der Mentalisierung wird vor allem die Bindungssicherheit angenommen“ (Heinemann 2008: 21). Daraus abgeleitet kann davon ausgegangen werden, dass Klient/-innen, ob jugendlich oder erwachsen, die Schwierigkeiten in der Ausprägung der Fähigkeiten zeigen, die der Grundlage der Mentalisierung entspringen, in ihren frühen Lebensjahren schwierige Bindungserfahrungen gesammelt haben.[1] Gleichzeitig bedeuten schwierige bzw. unsichere Bindungserfahrungen nicht zwangsläufig, dass ein Mensch Mentalisierungsschwierigkeiten ausprägen muss, wenngleich eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gegeben ist, dass seine inneren Repräsentanzen ihm in komplexen sozialen Situationen weniger angepasste Verhaltensmöglichkeiten und Umgangsstrategien ermöglichen (Grossmann u. Grossmann 2001). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Fähigkeiten, die unter dem großen Konzept der Theory of Mind zusammengefasst werden, nicht lebenslang bestehen bleiben müssen und „traumatische Erfahrungen zu einer Desintegration und Rückfällen in prämentalisierende Stadien führen“ (Kirsch 2014: 42) können. Auch während des Entwicklungsprozesses können bereits Störungen auftreten, die insbesondere häufig auf Störungen im Feld der Intersubjektivität zwischen Kind und Bezugsperson zurückzuführen sind. Das Kind kann z.B. auf der Stufe des Als-ob-Modus oder des Äquivalenzmodus verhaftet bleiben, was nach Fonagy et al. im Falle der Borderline-Störung auftritt. Bleiben Menschen auf der Entwicklungsstufe des Äquivalenzmodus stehen, können sie nicht erkennen, dass aktuelle Beziehungsstrukturen sich von denen ihres früheren Kindseins unterscheiden. Sie nehmen die Welt nach wie vor aus der kindlichen Perspektive und mit kindlichen Vorstellungen und Gefühlen der Welt wahr und verstehen diese als reine objektive Realität. Wenn diese Menschen traumatische oder verstörende Erlebnisse in ihrer Kindheit erfahren haben und sie in ihrer weiteren Entwicklung im Äquivalenzmodus arretiert sind, kann das bedeuten, dass sie sich unbewusst aus ihrer kindlichen, ungeschützten und nach Lösung der inneren Konflikte sehnenden Bedürftigkeit heraus, immer wieder sich wiederholende ähnlich traumatisierende oder entwicklungshemmende neue Beziehungen gestalten.

 

Eine weitere schwierige Entwicklungshemmung kann sich derart ausdrücken, dass Menschen ihre Fähigkeit zur Kreativität, Fantasie und Als-ob-Realität nicht oder nicht vollständig entwickeln konnten. Als Kind sind sie in dem unterstützenden Feld des Spiels stark eingeschränkt oder verzichten vollständig auf diesen Entwicklungsraum, womit sie die Möglichkeit, sich in einer ungefährlichen Ebene Lösungen für innere Konflikte zu erarbeiten, nicht wahrnehmen können. Dies hat auch Auswirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit, die sich in der Spielentwicklung mit ausbildet. Andererseits ist es auch möglich, dass das Kind die spielerische Ebene nutzt, zwischen dieser und der Realität jedoch nicht frei wechseln kann, was auch in der weiteren Entwicklung dazu führt, dass es keine Unterscheidung zwischen Fantasiewelt und Realität gibt. Als-ob-Äußerungen oder Handlungen der eigenen oder anderer Personen können dann nicht als solche verstanden werden. Im Allgemeinen verschwimmen bei derartigen Entwicklungsstörungen die Grenzen zwischen dem Selbst und den anderen, Vergangenheit und Gegenwart, Fantasie und Realität. (Streeck  2007; Rass 2014; Streeck-Fischer 2014).

 

Ist durch eine wenig stabile Bindung kein Grundgefühl von Sicherheit entstanden, fehlt die Grundlage, die es dem Kind erst ermöglicht, die Welt für sich zu erkunden und auf eigene Weise zu erfahren (Rass 2014). Mangelnde oder belastete Kommunikation zwischen dem Kind und der/den Bezugsperson/-en in den frühen Lebensjahren kann zu einer lückenhaften oder negativen Repräsentation des eigenen Selbst führen. Dies basiert auf mangelnde oder destruktive Spiegelung der kindlichen Affekte. Das Kind kann seine Gefühle nicht eindeutig wahrnehmen und in sprachlicher bzw. kognitiver Weise verarbeiten, wodurch viele Jugendliche und Erwachsene große Schwierigkeiten haben, ihre Gefühlszustände zu verbalisieren und zu differenzieren. Die Affekte und inneren Bilder sind ggf. sprachlich nicht zugänglich und auf kognitiver Ebene können keine adäquaten Einordnungen gefunden werden. Gefühle werden dadurch intensiv und unmittelbar erlebt, ohne Möglichkeit der Reflexion. Affekttoleranz und -regulierung sind ebenfalls betroffen, was sich im weiteren Verlauf der Entwicklung in geringer Stresstoleranz, erhöhter Aggressivität oder Impulsivität und konstanten Schwierigkeiten in sozialer Interaktion ausdrücken kann. Im Zuge dieser schwerwiegenden Entwicklungsschwierigkeiten, sind die höheren metakognitiven Funktionen der Selbst- und Fremdreflexion ebenfalls eingeschränkt oder gar nicht verfügbar. (Fonagy u. Target 2007; Rass 2014; Streeck 2007 u.a.).

 

Wenn die Persönlichkeits- und Affektentwicklung so intensiv betroffen ist, liegt es nahe, dass auch die Fähigkeit zu Empathie begrenzt entwickelt wird. Steinebach (2000) beschreibt, dass das Fehlen von empathischer Kompetenz häufig zu eher aggressivem Verhalten führt, da das Verhalten anderer als ungerecht und nicht nachvollziehbar eingeschätzt wird, wenn es in Differenz zu eigenen Ansichten steht. Darüber hinaus ist die Hemmschwelle, andere zu verletzten, niedriger, wenn weder Gefühl noch Verständnis für die Position des anderen entstehen. Nach z.B. Seiffge-Krenke (2010) zu urteilen, sind immer mehr junge Klient/-innen von Traumatisierungen durch Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung sowie von schwierigen Bindungserfahrungen betroffen. Die Berücksichtigung dieser Umstände ist demnach grundlegend und auch zunehmend bedeutsam für die sozialpädagogische Arbeit. Sind Menschen in den ersten Lebensjahren mir schweren Bindungsschwierigkeiten konfrontiert und erleben sie Beziehungen grundsätzlich als Gefahr oder Ursache von schmerzlichen Erfahrungen, ist es nur allzu verständlich, dass sie im späteren Verlauf ihres Lebens ein Vermeidungsverhalten entwickeln und nur wenige oder überwiegend schwierige soziale Kontakte vorweisen können. Schon auf geringe Belastungen in sozialer Interaktion reagieren sie mit Beziehungsabbrüchen. Dies verstärkt den subjektiv empfundenen negativen Charakter von sozialen Interaktionen und kann zu generalisierter Vermeidung bis hin zur Isolation führen. „Weit reichende Probleme im Zusammenleben mit Anderen, sich nicht gesehen fühlen zu können oder gar sozial isoliert zu sein, betreffen existenzielle Grundlagen und gehen in ihrer Bedeutung über symptomatische Ursachen … weit hinaus“ (Streeck 2007: 28). Von dieser Isolation betroffene Klient/-innen sind auch für die pädagogischen Hilfsangebote nur schwer erreichbar. Selbst wenn sie in einem Hilfekontext ankommen, stehen die pädagogischen Fachkräfte vor der großen Herausforderung, den Kreislauf schützender Vermeidungsstrategien zu durchbrechen.

 

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutsamkeit der Beziehungsdimension in der psychoanalytischen sozialpädagogischen Praxis am Beispiel von Klienten mit schwierigen Bindungserfahrungen
Hochschule
Alice-Salomon Hochschule Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
45
Katalognummer
V387464
ISBN (eBook)
9783668615618
ISBN (Buch)
9783668615625
Dateigröße
626 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bedeutsamkeit, beziehungsdimension, praxis, beispiel, klienten, bindungserfahrungen
Arbeit zitieren
Nanett Neustädt (Autor:in), 2017, Die Bedeutsamkeit der Beziehungsdimension in der psychoanalytischen sozialpädagogischen Praxis am Beispiel von Klienten mit schwierigen Bindungserfahrungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/387464

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