Europäische Union, Geschlecht und Wohlfahrtsstaat

Eine Untersuchung der Europäischen Beschäftigungsstrategie 2003 unter besonderer Berücksichtigung ihrer gleichstellungspolitischen Konsequenzen


Magisterarbeit, 2004

102 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Begriffsklärungen
1.2.1 Theoretisch fassbare Gestalt der EBS
1.2.2 Wohlfahrtsstaatsforschung und Beschäftigungspolitik
1.2.3 Geschlecht und Gender Mainstreaming

2. Wohlfahrtsstaat und Gleichstellungspolitik
2.1 Staat und Geschlechterverhältnis
2.1.1 Entstehung der modernen Nationalstaaten
2.1.2 Rechtsstaat
2.1.3 Wohlfahrtsstaat
2.2 Feministische Reaktionen auf androzentrische Staaten
2.2.1 Staatskritische Frauenbewegung
2.2.2 Mittelbare und unmittelbare Diskriminierung
2.3 ‚Frauenfreundlicher‘ Staat?
2.3.1 Skandinavischer Staatsfeminismus
2.3.2 Kritik an der skandinavischen Position
2.3.3 Herrschaft als ambivalenter Begriff

3. Wohlfahrtsstaatsforschung
3.1 Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung
3.1.1 Maßstab: Dekommodifikation
3.1.2 Einteilung von Wohlfahrtsstaaten in Typen
3.1.2.1 Der liberale Wohlfahrtsstaat
3.1.2.2 Der korporatistische Wohlfahrtsstaat
3.1.2.3 Der universalistische Wohlfahrtsstaat
3.1.2.4 Der lateinisch-katholische Wohlfahrtsstaat
3.2 Feministische Wohlfahrtsstaatsforschung
3.2.1 Maßstab: Defamilialisation
3.2.2 Typologisierung nach dem männlichen Brotverdienermodell
3.2.2.1 Starke Version: Deutschland/Großbritannien
3.2.2.2 Abgeschwächte Version: Frankreich
3.2.2.3 Schwache Version: Schweden
3.3 Fragen an eine geschlechtergerechte Beschäftigungspolitik

4. Die Europäische Union als beschäftigungspolitischer Akteur
4.1 Die EU als dynamisches Gebilde, Rechtsgemeinschaft und Mehrebenensystem
4.2 Die sozial- und beschäftigungspolitische Staatstätigkeit der EU
4.2.1 Der Vertrag von Amsterdam
4.2.2 Beschäftigungspolitik
4.2.3 Die Europäische Beschäftigungsstrategie
4.2.3.1 Das erste Stadium der EBS (1997-2002)
4.2.3.2 Erste Erfahrungen und Kritik
4.2.3.3 Die aktuelle Form: Die beschäftigungspolitischen Leitlinien für 2003
4.3 Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union
4.3.1 Geschichte der Gleichstellungspolitik
4.3.2 Reproduktionssphäre und Gender Mainstreaming in der EU

5. Analyse der Europäischen Beschäftigungsstrategie von 2003
5.1 Zugang zur Beschäftigung
5.1.1 Die Leitlinien
5.1.1.1 Aktive und präventive Maßnahmen für Arbeitslose und Nichterwerbspersonen
5.1.1.2 Schaffung von Arbeitsplätzen und Unternehmergeist
5.1.1.3 Erhöhung des Arbeitskräfteangebots und Förderung des aktiven Alterns
5.1.1.4 Gleichstellung der Geschlechter
5.1.2 Exkurs I: Zugang zur Beschäftigung in den Nationalen Aktionsplänen
5.1.2.1 Bildungspolitik
5.1.2.2 Wiedereingliederung
5.1.2.3 Aufstiegschancen und Unternehmensgründungsunterstützung für Frauen
5.1.3 Zwischenfazit I
5.2 Organisation der Reproduktionsarbeit
5.2.1 Die Leitlinien
5.2.1.1 Betreuung von Abhängigen
5.2.1.2 Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse
5.2.1.3 Einbezug von Männern in häusliche Arbeiten
5.2.2 Exkurs II: Reproduktionsarbeit in den Nationalen Aktionsplänen
5.2.2.1 Öffentliche Kinderbetreuung
5.2.2.2 Ältere Angehörige
5.2.2.3 Einbezug der Väter
5.2.2.4 Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse
5.2.3 Zwischenfazit II
5.3 Vergleich mit den vorangegangen beschäftigungspolitischen Leitlinien

6. Schluss
6.1 Ergebnisse
6.2 Ausblick

Bibliographie
1. Literatur
2. Materialien und Dokumente
2.1 Dokumente der Europäischen Union
2.2 Nationale Aktionspläne

1. Einleitung

1.1 Fragestellung

Die Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS), die entwickelt wurde, um Vollbeschäftigung in Europa zu erreichen, ist jung. Erst auf der Tagung des Europäischen Rates in Amsterdam im Jahre 1997 ist der rechtliche und institutionelle Rahmen zur Unterstützung der beschäftigungspolitischen Annäherung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) geschaffen worden: der neue Beschäftigungstitel im Vertrag von Amsterdam.[1] Seitdem ist sie unter Berücksichtigung ihrer Ergebnisse kontinuierlich weiter entwickelt worden.[2] Im Ergebnis unterscheiden sich die beschäftigungspolitischen Leitlinien aus dem Jahre 2003 deutlich von den vorangegangenen.[3]

Durch die Selbstverpflichtung der Europäischen Union in Art. 3, 3 des Vertrages der Europäischen Gemeinschaft (EGV) unterliegt die EBS - ebenso wie jedes andere Betätigungsfeld der EU - dem Prinzip des Gender Mainstreaming . Hiermit ist die im Vertrag von Amsterdam festgelegte Einbeziehung der gender -Perspektive in alle Prozesse, auf allen Ebenen, in allen Entscheidungsmomenten durch alle beteiligten Akteuren gemeint. Prinzip, Erfolge und Misserfolge dieser gleichstellungspolitischen Strategie wurden von der Forschung vielfach diskutiert.[4] Eine Untersuchung der gleichstellungspolitischen Dimension der jüngsten beschäftigungspolitischen Leitlinien und ihrer Umsetzung in den Nationalen Aktionsplänen für die Jahre 2003-2006 steht noch aus.[5]

Die Wohlfahrtsstaatsforschung ist ein etablierter sozialwissenschaftlicher Forschungszweig mit elaboriertem, umfangreichem und für eine geschlechtersensible Analyse der Europäischen Union möglicherweise fruchtbarem methodologischem Handwerkszeug. Wohlfahrtsstaatsforschung beschäftigt sich dabei traditionell mit Staatstätigkeit.[6] Kann der EU eine solche Staatstätigkeit in welcher Form auch immer nachgewiesen werden, eröffnet sich die Möglichkeit der Verwendung dieses Instrumentariums für eine Betrachtung der EU. Denkbar wäre dann eine Einschätzung von politischen Prozessen auf der Ebene der EU und damit auch der zu erwartenden Wechselwirkungen zwischen Institutionen und Gesetzgebung der EU und den Mitgliedstaaten. In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die Ergebnisse der Wohlfahrtsstaatsforschung für eine Untersuchung der Europäischen Beschäftigungsstrategie zu nutzen. Dabei steht im Mittelpunkt des Interesses, ob die Auswirkungen der Europäischen Staatstätigkeit auf verschiedene Typen von nationalen Wohlfahrtsstaaten unterschiedlich sind.

Um diese Untersuchung leisten zu können, sollen einleitend die Zusammenhänge zwischen Gleichstellungspolitik, Wohlfahrtsstaat(sforschung) und Beschäftigungspolitik (1.2.) geklärt werden. Auf dieser Basis kann dann das Spannungsverhältnis zwischen männlicher Verfasstheit des Staates und einem feministischen Bezug auf ihn aufgezeigt werden (2.). Des weiteren muss die traditionelle Wohlfahrtsstaatsforschung einer feministischen Revision (3.) unterzogen werden. Mit dem in diesem Verfahren gewonnenen Instrumentarium können dann die als Staatstätigkeit bestimmte Beschäftigungspolitik der EU (4.) qualitativ analysiert und die verschiedenen Wechselwirkungen mit den traditionellen nationalen Geschlechterpolitiken aufgezeigt werden (5.).

1.2 Begriffsklärungen

Um die Europäische Beschäftigungspolitik zu untersuchen, muss sie als Gegenstand bestimmt und abgegrenzt werden. Es ist notwendig, sich eine Vorstellung zu machen, in welcher Gestalt ‚die EBS’ zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden kann und welche Analysen hier nicht geleistet werden können. Da die Ergebnisse und Methoden der Wohlfahrtstaatsforschung als auch in diesem Bereich als lohnenswert verwendbar einschätzt werden können, soll anschließend aufgezeigt werden, inwiefern die EBS unter den klassischen Begriff von Wohlfahrtsstaat subsumierbar ist. Abschließend macht die Selbstverpflichtung der EBS zum Gender Mainstreaming eine Klärung dieses Prinzips notwendig.

1.2.1 Theoretisch fassbare Gestalt der EBS

In der Forschung wird zwischen Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsregime unterschieden.[7] Ein Wohlfahrtsregime als weitergehender Begriff umfasst alle Arten von gesellschaftlichen Diskursen und Debatten über die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, also auch alle Arten von Politiken und Maßnahmen, die sich staatlich oder nichtstaatlich aus diesen Diskursen ergeben. Wohlfahrtsstaat hingegen meint hier ‚nur‘ die sich daraus entwickelnden staatlichen Materialisierungen und Praktiken, also das Sozial- und Arbeitsrecht und die entsprechend funktionierenden Umverteilungsinstitutionen und -programme.

Ein europäisches Wohlfahrtsregime ist theoretisch demnach schwer zu fassen: Nicht nur, dass die Vielzahl an sozialen und politischen Orientierungen, Kulturen und Rechtsformen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein schier unsortierbarer Haufen mit zahllosen Schattierungen sind, die darüber hinaus noch einem ständigen historischen Wandel unterworfen sind.[8] Es lässt sich auch keine Aussage darüber machen, ob eine theoretische Addition der Einzelregime überhaupt ein adäquates Bild zur Einschätzung der gesamten Union ergäbe. Welche Praxis, welche Art und Weise, Geschlechterverhältnisse zu reproduzieren oder zu verändern, sich in welcher Situation durchsetzt, ist schwer vorhersehbar.

Besser theoretisch zu fassen hingegen ist der Europäische Wohlfahrtsstaat in Form des Gemeinschaftsrechts und der Vorgaben, die von der Europäischen Kommission und dem Europäischem Rat[9] den Mitgliedstaaten gemacht werden. Nach obiger Definition ist dies der gesamte Korpus der suprastaatlichen Regelungen zu Beschäftigungspolitik und sozialer Sicherung. Er ist als Ergebnis jahrzehntelanger, teilweise verbitterter Verhandlungen zwischen den Vertretern der Mitgliedsstaaten der nun sichtbare Niederschlag der diversen nationalen Kulturen und Regimes und kann in dieser Form theoretisch begreifbar und kritisierbar gemacht werden. Welche der zahlreichen Europäischen Regelungen für die hier behandelte Fragestellung relevant sind, wird auf dieser Abgrenzung aufbauend in 4.2 im Einzelnen entwickelt.

1.2.2 Wohlfahrtsstaatsforschung und Beschäftigungspolitik

Das Vorhaben, die Beschäftigungspolitik der Europäischen Union mit den Instrumenten der Wohlfahrtsstaatsforschung zu analysieren, impliziert eine bestimmte Definition von Wohlfahrtsstaat. Im Folgenden wird die traditionell eher angelsächsische Definition von Wohlfahrtsstaat benutzt, die im Gegensatz zur deutschen neben den Sozialversicherungen auch die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zum Wohlfahrtsstaat rechnet.[10] Diese definitorische Festlegung soll es ermöglichen, die Methoden und Erkenntnisse der Wohlfahrtsstaatsforschung auf die Beschäftigungspolitik der Europäischen Union anzuwenden.[11] Alle sozialstaatlichen Aktivitäten auf der Ebene der Europäischen Union[12] machen den von den einzelnen europäischen Wohlfahrtsstaaten unterscheidbaren Wohlfahrtsstaat der Europäischen Union (auch E uropäischer Wohlfahrtsstaat)[13] aus. Die Sozialpolitik der Europäischen Union hingegen bezeichnet ‚nur’ die auf Europäischer Ebene erfolgenden Maßnahmen zur sozialen Absicherung.[14] Dieser Bezeichnung folgend umfasst der Wohlfahrts- oder Sozialstaat der Europäischen Union also die Sozialpolitik und die Beschäftigungspolitik der EU. Gegenstand einer Untersuchung, die das Instrumentarium der Wohlfahrtsstaatsforschung in Anspruch nehmen will, kann aber wegen der institutionalisierten Trennung der beiden Bereiche auf der Europäischen Ebene auch die beschäftigungspolitische Komponente des Europäischen Wohlfahrtstaates sein, ohne dass die sozialpolitische berücksichtigt werden muss.[15]

Grundsätzlich hängt die gleichstellungspolitische Wirkung von (Wohlfahrts)Staaten stark vom Maß der Anerkennung der Arbeit in der Reproduktionssphäre ab. Die Organisation dieser für jede Form von Gesellschaft notwendigen[16], aber nicht in Lohnzahlungen vergoltenen Leistungen strukturiert entscheidend das Geschlechterverhältnis.[17] Deshalb ist Beschäftigungspolitik in gleichstellungspolitischer Hinsicht eine wichtige Schaltstelle: Möglichkeiten eines Übergangs von der Reproduktionssphäre in die öffentliche (und zurück) werden durch staatliches Handeln, auch und gerade durch unterlassenes, mehr oder weniger geschlechtergerecht gestaltet.

Manche Theoretikerinnen legen ihren Arbeiten darüber hinaus die Annahme zugrunde, dass Europäische Gleichstellungspolitik aufgrund der Begrenztheit der EU auf den finanz- und wirtschaftspolitischen Bereich vor allem über die Europäische Beschäftigungspolitik betrieben werde.[18] Sowohl ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz als auch die Exponiertheit der Beschäftigungspolitik innerhalb der Politik der Europäischen Union machen die Untersuchung der aktuellen Europäischen Beschäftigungsstrategie also zu einer (feministischen) Notwendigkeit.

1.2.3 Geschlecht und Gender Mainstreaming

Die EBS ist, wie erwähnt, verpflichtet, bei all ihren Aktivitäten Gender Mainstreaming[19] durchzuführen. Gender Mainstreaming als Weiterentwicklung der bisherigen Gleichstellungspolitik, die vor allem Frauenpolitik war, geht aber von einem bestimmten Begriff von Geschlecht oder gender und von einer bestimmten Vorstellung von einer ‚Gleichheit der Geschlechter’ aus.[20] Wichtig ist hierbei sowohl die Anerkennung der sozialen Konstruktion von sowohl sozialem als auch biologischem Geschlecht[21] als auch die reale Wirkungsmacht, die diese Konstruktion seit Jahrhunderten hatte[22] und immer noch hat.[23]

Die Konstruiertheit von Geschlecht verlangt nach einer Dekonstruktion der damit verbundenen normativen, hierarchischen und repressiven Zwänge; die reale Existenz von unterschiedlichen ‚männlichen’ und ‚weiblichen’ Lebensentwürfen danach, die jeweils spezifischen Probleme anzuerkennen und nicht durch rechtlich-materielle Regelungen eine gelebte „geschlechtlich Sozialrolle“[24] der anderen vorzuziehen.[25] Kritisiert und beseitigt werden müssen Ungleichheiten zwischen Menschen, die aufgrund der sozialen und historischen Konstruktion und Trennung der beiden hierarchisch zueinander stehenden Lebensbereiche ‚öffentlich’ und ‚privat’ entstanden sind und noch bestehen.[26] Diesen Bereichen werden qua angeblich vorgesellschaftlicher, ‚biologischer’ Körperlichkeit die Individuen zugewiesen, deren Positionen sich in Bezug auf Unabhängigkeit und wirtschaftliches wie kulturelles Eigentum hierarchisch unterscheiden. Personen mit bestimmten Körpermerkmalen werden der Privatsphäre zugewiesen und qua angeblich ‚biologischer Zuständigkeit’ für die dort anfallende Arbeit verantwortlich gemacht. Auf der anderen Seite wird in der öffentlichen Sphäre die bezahlte und gesellschaftliche anerkannte Arbeit geleistet; nur hier werden Machtressourcen akkumuliert.

Solange dies so ist, muss bei der rechtlichen Regelung einer so konstituierten Gesellschaft auf der Ebene des Wohlfahrtstaates zweierlei bedacht werden. Angestrebt werden muss einerseits eine gerechte Verteilung aller gesellschaftlich zu erbringenden Arbeiten und andererseits eine gerechte Verteilung der Ergebnisse auf beide Geschlechter. Das heißt - und das muss ein Kernbestandteil jedes Gender Mainstreaming sein -, dass nicht nur Frauen geschützt werden müssen, sondern auch Männer, die ‚Frauenarbeit’ verrichten. Während im Bereich der Beschäftigungspolitik auf der einen Seite also alle Hemmnisse bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit für Frauen beseitigt werden müssen, solange diese statistisch nachweisbar weniger erwerbstätig sind, muss auf der anderen Seite gewährleistet sein, dass für beide Geschlechter die Möglichkeit besteht, nicht-marktvermittelte Reproduktionsarbeit und eine Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren.

Gender Mainstreaming ist nicht unkritisiert geblieben. Feministische Kritik an Gender Mainstreaming zielt zumeist darauf ab, dass der „‚vag[e]’, ‚unklar[e]’ und ‚unglücklich[e]’“ Begriff so missverstanden werden könne, „daß aufgrund des Einbezugs der Geschlechterdimension in alle anderen Politikbereiche nunmehr frauenspezifische Maßnahmen bzw. besondere Frauenfördermaßnahmen überhaupt überflüssig geworden seien“.[27] Diese Vorstellung nimmt Gender Mainstreaming und Frauenförderung als gleichwertige Strategien an, die sich zu einer Art „Doppelstrategie“ ergänzen.[28] Dadurch können die beiden Strategien - z.B. aus einem konservativen Impetus heraus - praktisch und strategisch gegeneinander gestellt und ausgespielt werden.

Dies ist nicht möglich, wenn Gender Mainstreaming als durch Umsetzungsprobleme des schon lange existierenden Gleichstellungsrecht notwendig gemachter[29], konzeptioneller Rahmen für verschiedenste Instrumente der Gleichstellungspolitik bestimmt wird. Neu ist dieses Verständnis nicht: Eine unumgängliche Voraussetzung für die Entwicklung und Einsetzung von gleichstellungspolitischen Maßnahmen war die gründliche Reflexion des bestehenden Geschlechterverhältnisses schon immer. Daher ist diese Bestimmung von Gender Mainstreaming als Verpflichtung dazu, immer und überall die Beziehung der Geschlechter und die geschlechtsspezifischen Konsequenzen einer jeden Maßnahme zu berücksichtigen, der Vorstellung einer ‚Doppelstrategie’ auch vorzuziehen. Neu ist an Gender Mainstreaming streng genommen nur, dass dieses Vorgehen jetzt auf der gesetzlichen Ebene festgeschrieben wurde.

Ausschließliche Frauenförderung hatte den Mangel, die traditionelle Asymmetrie zwischen den geschlechtlichen Sozialrollen fortzuschreiben. Frauen, die sich in der traditionell männlichen Sozialrolle einfanden, erhielten Unterstützung, während Männer, die beispielsweise die Kindererziehung übernahmen (eine Facette der tradierten weiblichen Sozialrolle), sich denselben Schwierigkeiten ausgeliefert sahen, mit denen berufstätige Mütter schon immer zurecht kommen mussten. Gender Mainstreaming geht über diese Mängel hinaus, indem nicht mehr nur Diskriminierung aufgrund eines als weiblich wahrgenommenem Geschlechtskörper, sondern auch Diskriminierung bei Übernahme der weiblichen Sozialrolle zum Objekt der Kritik geworden ist.[30] Durch die Erweiterung um diese vorgelagerte Rahmung soll das traditionelle Instrument der Frauenförderung um andere, die soziale Konstruktion von beiden Geschlechtscharakteren berücksichtigende Instrumente zu einer effektiven Gleichstellungspolitik komplettiert werden.

Das heißt aber auch, dass Frauenförderung - durch die gesellschaftlichen Gegebenheiten: fast immer - Teil eines sinnvollen Gender Mainstreaming-Prozesses ist. Solange Menschen als Frauen diskriminiert werden, wird jedes Gender-Mainstreaming - unter anderem - praktische Frauen förderungs-Maßnahmen zur Folge haben. Gender Mainstreaming kann und will spezielle Maßnahmen zur Frauenförderung also nicht ersetzen, sondern begründet vielmehr in seinen Analysen die Notwendigkeit, den Ort und das Ausmaß ihres Einsatzes. Susanne Baer verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Gender Mainstreaming als Strategie nie unabhängig vom konkreten Kontext, in dem es entstanden ist, verstanden und inhaltlich gefüllt werden kann: „Das Gleichstellungsziel [neben anderen des Europäischen Rechts, A. S.] lässt sich als Hierarchisierungsverbot oder, traditioneller formuliert, als materielle Chancengleichheit bezeichnen. Auf sie muss Gender Mainstreaming zielen, soweit rechtlich gebundene Akteure handeln.“[31] Das Vorhaben, materielle Chancengleichheit durchzusetzen, wird Frauenförderung noch lange notwendig machen.

2. Wohlfahrtsstaat und Gleichstellungspolitik

Wohlfahrtsstaat und Gleichstellungspolitik unterscheiden sich in den expliziten Zielsetzungen ihrer Handlungen. Hier wird der Ausgleich der sozialen Unterschiede und die Bekämpfung der Armut angestrebt, dort der Ausgleich von strukturellen Unterschieden aufgrund des Geschlechts, also Geschlechtergerechtigkeit, verfolgt. Trotzdem wurden sie in der Vergangenheit oft zusammen gedacht, weil ihre Wirkungen oft zusammenfallen. Beide staatlichen Regelungskomplexe haben sowohl Auswirkungen auf die soziale Gestaltung einer Gesellschaft als auch auf die Situation von Frauen und Männern. Jede staatlich initiierte Minderung oder Verschärfung von Armut ist gleichzeitig ein Eingriff in das Geschlechterverhältnis. Umgekehrt ist jede Hilfe gegenüber Frauen, die auf wirtschaftliche Unabhängigkeit abzielt, eine gute und effektive Möglichkeit, Armut zu unterbinden. Arme und reiche Menschen sind keine geschlechtslosen Subjekte; ebenso wenig wie Asymmetrien zwischen den Geschlechtern jenseits von ökonomischer Diskriminierung bestehen.[32] Es ist also kein Zufall, dass auf der Ebene der Europäischen Union fast der gesamte Bereich der Gleichstellungspolitik institutionell der Generaldirektion Beschäftigung und soziale Angelegenheiten eingegliedert und untergeordnet ist.

Aber Gleichstellungspolitik erschöpft sich nicht in sozialpolitischen Frauenförderungsmaßnahmen. Ein Ziel der Einführung des Gender Mainstreaming ist es gewesen, Gleichstellungspolitik aus ihrem Dasein als Unter- bzw. Teilbereich der Sozialpolitik zu befreien und ihre Notwendigkeit in jedem anderen Bereich (dem ‚mainstream’) des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufzuzeigen. Diesem Prinzip folgt die vorliegende Arbeit, indem sie einen Unterbereich der Europäischen Sozialpolitik auf seine geschlechtsspezifischen Konsequenzen hin untersucht, nämlich die Beschäftigungspolitik der Europäischen Union.

Gleichstellungspolitik muss nicht staatlich sein. Staatliche Gleichstellungspolitik ist nur ein Aktionsfeld innerhalb feministischer Politik, und Gleichstellung kann auch auf Wegen außerhalb der staatlichen Institutionen angestrebt werden. Werden gleichstellungspolitische Veränderungen aber innerhalb des Staates und über seine Legislativ- und Umverteilungsinstanzen angestrebt, geschieht das auf der Ebene des Rechts- und Wohlfahrtsstaates. Daher bietet sich eine Übertragung der Ergebnisse der Wohlfahrtsstaatsforschung auf eine Untersuchung der gleichstellungspolitischen Dimension der Europäischen Beschäftigungsstrategie an.

Der Wohlfahrtsstaat ist aber eingebettet in das Gesamtgebilde des Staates, das männlich geprägt ist. Die ‚Männlichkeit’ aller bekannten Staaten soll daher in 2.1 kurz skizziert werden. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend ist es nicht erstaunlich, dass, wie in 2.2 erläutert, auch die verschiedenen nationalen Wohlfahrts staaten aus einem asymmetrischen Geschlechterverhältnis heraus wirken und dieses reproduzieren. Trotzdem besteht, wie 2.3 zeigen wird, die Möglichkeit, mit Hilfe des (Wohlfahrts-)Staates dieses Geschlechterverhältnis positiv zu beeinflussen.

2.1 Staat und Geschlechterverhältnis

Ebenso wie in der traditionellen Politikwissenschaft hat es sich in der feministischen Forschung als sinnvoll herausgestellt, drei Ebenen des Staates zu unterscheiden.[33] Das Phänomen Staatlichkeit muss in seiner Gleichzeitigkeit als erstens Akteur, zweitens Terrain und drittens als die Normen und Strukturen, die die ersten beiden Bereiche prägen und gestalten, verstanden werden. Diese drei Ebenen policy (=Staat als Akteur), politics (=Aushandlungsprozesse der Akteure) und polity (=Normen und Strukturen staatlicher Verfasstheit) lassen sich getrennt voneinander analysieren. Beim Staat als Akteur betrachtet man die Staatstätigkeit in Institutionen, ihr Funktionieren und ihre realen Auswirkungen auf die Menschen im Staat. Diese Staatstätigkeit findet unter anderem in wohlfahrtsstaatlichen Prozessen statt.[34] Dem Staat kommt bei einer Betrachtung der sozialstaatlichen Wirkungsweise eine zentrale, quasi doppelte Rolle zu, weil er in seiner Existenz als Rechtsstaat/ polity die Verteilung auf die drei unterschiedlichen Erbringer von Reproduktionsarbeiten - Markt, Familie und Staat - vornimmt, von denen er selbst dann wieder, neben der familiären Sphäre und dem Markt, den Bereich des Sozialstaats/ policy ausfüllt.[35] Bei einer Betrachtung des Wohlfahrtsstaates muss - wie bei der Betrachtung der anderen Ebenen auch – die Geschlechtlichkeit des Staates berücksichtigt werden.

Alle bekannten bürgerlichen Staaten sind männlich geprägt. Damit ist gemeint, dass die existierenden Verfahrensweisen und Mechanismen in unterschiedlichem Maße, aber regelmäßig Männer und männliche Lebensentwürfe begünstigen.[36] Zusätzlich erwies es sich als problematisch, bei der theoretischen Durchdringung dieses Sachverhaltes auf bisherige Erkenntnisse der Politikwissenschaft aufzubauen, weil auch der politologische ‚malestream’ Geschlecht nicht als relevante, Gesellschaft strukturierende Kategorie annahm, sondern im günstigsten Falle das Geschlecht der betroffenen Personen nach fertig gestellter Analyse hinzu addierte.[37]

Während soziale Situation und Ausgangsbedingungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wie Klassen- oder Standeszugehörigkeit oder nationale und ethnische Herkunft schon früh als das gesellschaftliche Ganze prägend (an)erkannt wurden, blieb die Geschlechtszugehörigkeit auch in der Politikwissenschaft eine reine Privatangelegenheit. Geschlecht als soziale und politische Kategorie, also als private und öffentliche Beziehungen strukturierend, und das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliches und politisches Organisationsprinzip wurden ignoriert.[38] Daher musste das männliche Geschlecht des Staates, also die für als Männer bzw. Frauen identifizierte Menschen strukturell und sich selbst reproduzierenden unterschiedlichen Konsequenzen aus der spezifischen Organisationsform des modernen Nationalstaates, in der feministischen Theorie über den Staat überhaupt erst einmal sichtbar gemacht werden.[39]

2.1.1 Entstehung der modernen Nationalstaaten

Schon die Betrachtung der Entstehung des modernen Nationalstaates zeigt, dass und wie Männlichkeit in die Strukturen des bürgerlichen Staates eingelassen ist: Die Konstruktion einer Trennung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre wurde für das Funktionieren des gesellschaftlichen Zusammenlebens konstitutiv. Den modernen Nationalstaaten liegt in der Vorstellung der bürgerlich-liberalen politischen Theoretikern, halb historisch nachweisbar, halb theoretische Hypothese, ein Gesellschaftsvertrag zugrunde.[40] Dessen Menschenbild geht davon aus, dass wegen des „natürlichen Hang[s] zur Freiheit und Herrschaft“[41] der Naturzustand der Menschen „ein Krieg aller gegen alle“[42] sei, weshalb eine übergeordnete Instanz mit Gewaltmonopol notwendig sei, um friedliche Zustände zu schaffen. Diese sei im bürgerlichen Zeitalter mit einem Vertrag von den Vätern und Grund- und Leibherren auf das republikanische Ganze verschoben worden. Dieser Gesellschaftsvertrag bedeute also Freiheit für die Individuen. Die Freiheit des bürgerlichen Subjekts in der Privatheit der Produktionssphäre, in Thomas Hobbes‘ Vorstellung eine notwendige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Versorgung aller Gesellschaftsmitglieder, ließe sich nur garantieren durch eine allseitige Unterwerfung unter den öffentlichen Gewaltinhaber ‚Leviathan‘ in der Sphäre der politisch-staatlichen Öffentlichkeit.

Außer Acht gelassen wird dabei, dass diese nicht die einzige Sphärentrennung beim Eintritt ins moderne Zeitalter war. Carole Pateman hat aufgezeigt, dass sich nicht die zwei Sphären Öffentlichkeit und Privatheit gegenüberstehen, sondern dass eine private Privatheit (Bereich der Reproduktionsarbeit), eine öffentliche Privatheit (Markt), eine öffentliche Öffentlichkeit (politische Diskussions- und Entscheidungsarenen auf staatlicher Ebene) und eine private Öffentlichkeit (staatliche Versorgung der privaten Bedürfnisse) eng miteinander verwoben sind.[43] Um die private Produktion für den Markt überhaupt beginnen zu lassen, musste die kurz- und langfristige Reproduktion der Arbeitskräfte in der Familie immer schon gewährleistet sein. Daher spricht Pateman von einem dem Gesellschaftsvertrag unterliegendem ‚Geschlechtervertrag‘ (gender contract).[44] Die Erledigung der Aufgaben, die in der häuslichen Sphäre anfallen, musste ideologisch, rechtlich oder/und repressiv abgesichert sein. Wenn sie, was in der Entwicklung der westlichen Industriegesellschaften der Fall war, vom weiblichen Geschlecht unausgesprochen aber verlässlich übernommen wird, liegt ein hierarchisches Geschlechterverhältnis vor. Tritt dieses Geschlechts in die privat-öffentliche Sphäre des Arbeitsmarktes, ist das notwendig mit einer Doppelbelastung verbunden.[45]

2.1.2 Rechtsstaat

Eine weitere Besonderheit in der Entstehung des bürgerlichen Staates ist sein neuartiges Rechtssystem und das neue Verhältnis des einzelnen Bürgers zum Staat, also die neu entstandene Staatsbürgerschaft. In der Überwindung des Feudalstaates wurden Männern politische Rechte und Freiheiten gegenüber dem Staat zugestanden. Als historische Neuartigkeit gelangte jeder einzelne von ihnen in den Zustand eines Rechtssubjekts. Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten bedingten sich gegenseitig: Weil den Männern in ihrer Gesamtheit jetzt in den neuen demokratischen Organen die Organisation des Gemeinwesens oblag, kamen sie in den Genuss der Staatsbürgerschaft.

Frauen hingegen wurden von den staatsbürgerlichen Aufgaben konsequent ferngehalten.[46] Wenn die ökonomische Not in einer Familie zu groß wurde, war es durchaus üblich, dass sie auf dem ‚privat-öffentlichen‘ Arbeitsmarkt hinzuverdienten; den ‚öffentlich-öffentlichen‘ Bereich von Politik und Staatsgeschäften aber durften sie konsequent nicht (mehr) betreten.[47] Diesem Prinzip folgend wurden Frauen nur über ihre Beziehungen zu Männern als Töchter, Ehefrauen, Witwen usw. abgeleitete Rechte zugesprochen. Diesen Prämissen entsprechend wurde dann das Personal des entstehenden bürokratischen Staatsapparates ausschließlich unter Männern rekrutiert und gemäß den sich entwickelnden ‚männerbündischen Strukturen‘[48] immer wieder männlich besetzt. Diese eingeschlechtliche Besetzung der Positionen im Staatsapparat ist offensichtlich für eine wohlfahrtsstaatliche Politik verantwortlich, die Männer bevorzugt. Sie wäre aber ohne die vorangegangenen Mechanismen staatlicher Männlichkeit weder existent noch annähernd so wirkungsmächtig.[49]

Der moderne Territorialstaat bildete neben einem bürgerlichen Rechtssystem aber noch ein zweites spezifisches Merkmal aus: Er nahm sich, wenn auch mit enormen nationalen Unterschieden, der materiellen Versorgung seiner Bürger an und wurde zum Wohlfahrtsstaat.

2.1.3 Wohlfahrtsstaat

Die theoriegeschichtlichen Anfänge feministischer Staatsanalyse bewegten sich nicht zufällig auf dem Gebiet des Wohlfahrtsstaates.[50] Geschlechtsspezifische und nach den oben erläuterten männlichen Fundierungen neuzeitlicher Staaten nicht überraschend frauenfeindliche Ergebnisse sozialstaatlicher Maßnahmen waren offensichtlich und mussten aufgedeckt und erklärt werden. Seit den 70er Jahren beschäftigte sich die Frauen- und Geschlechterforschung mit dem Mythos des Wohlfahrtstaates als geschlechtsneutraler Instanz und wies nach, dass er tatsächlich eher als „wesentliche Säule der vorherrschenden Geschlechterordnung“[51] charakterisiert werden muss.

Die historische Entwicklung des Sozialstaates war eine Folge der sozialen Ungleichheiten, die in seiner Bevölkerung existierten. Er sollte die Möglichkeit eröffnen, „aus dem Zwang, die Arbeitskraft unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen auch immer anzubieten“[52] auszusteigen. In der spezifischen Ausgestaltung der westlichen Wohlfahrtsstaatsregime war der Adressat der Sozialstaatsleistungen der Lohnarbeiter und damit ein Mann. Der moderne Sozialstaat sollte die Beantwortung der Arbeiter(!)frage sein, die restlichen Gesellschaftsmitglieder brauchten ihn entweder gar nicht oder mussten sich auf traditionelle Versorgungsmechanismen, meistens innerhalb der Familien, verlassen.

Frauen konnten nur in Abhängigkeit zu ihren lohnarbeitenden Verwandten Ansprüche auf soziale Dienste erwerben. Ein Lebensentwurf außerhalb der üblichen familiären Beziehungen war also ökonomisch unmöglich. Aus der Perspektive der Frauen bedeutete das aber auch dann eine empfindliche materielle Schlechterstellung, wenn sie versuchten, sich nach tradierten Vorstellungen zu verhalten. Ob ein solcher Lebensentwurf funktionierte, lag offensichtlich nicht einmal dann in der Macht der einzelnen, wenn sie alle etwaigen Einschränkungen in Kauf nahm, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ganz allgemein wurde Armut mehr und mehr ein weibliches Problem und „jenseits aller sonstigen Differenzen gilt Armut in der feministischen Diskussion als handgreiflichste Konsequenz der kritisierten sozialpolitischen Benachteiligung von Frauen.“[53]

Dabei beschränken sich die Strategien, die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern einzuhalten, nicht auf die spezifische Auszahlungsform der staatlichen Aufwendungen: Auch die im sich ausbildenden Sozialstaat entstehenden Pflegeberufe werden aufgrund ideologischer Zuständigkeitsvorstellungen vorwiegend mit Frauen besetzt, dadurch weiblich konnotiert, schlechter bezahlt und weniger gewürdigt. Die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung wird also durch die arbeitsorganisatorische Einrichtung des Sozialstaats selber fortgeführt.[54] Dieser Punkt birgt die Gefahr, dass bei Abbau des Sozialstaates Frauen nicht nur in stärkerem Masse betroffen sind, weil sie Empfänger von gekürzten Bezügen sind, sondern auch, weil gerade die hauptsächlich weiblich besetzten Stellen im Pflegebereich gestrichen werden und ihnen verstärkt Arbeitslosigkeit droht.

2.2 Feministische Reaktionen auf androzentrische Staaten

Angesichts dieser offenkundig patriarchalen Prinzipien und Mechanismen der bestehenden Staaten und Wohlfahrtsstaaten, ist es nicht weiter überraschend, dass sich die Neue Frauenbewegung seit den 70er Jahren nur zögerlich mit einem Engagement innerhalb der staatlichen Institutionen anfreunden konnte. Historisch vorangegangen war hingegen eine längere Tradition des weitgehend unproblematisierten Bezugs auf den Staat: Gleichheit der Geschlechter als Zielsetzung der ersten Generation der Frauenbewegung um die letzte Jahrhundertwende hatte sich vorwiegend auf der staatlichen Ebene abgespielt.[55] Vor allem ein „Recht auf Bildung und Arbeit“[56] sollte vom Staat gewährt werden. Frauen sollten formal-rechtlich gleiche Ausgangsbedingungen wie Männern geboten werden. Praktisch bedeutete das die tatsächliche Durchsetzung des allgemeinen aktiven und passiven Wahlrechts und die Abschaffung aller existierenden Restriktionen der weiblichen Erwerbstätigkeit.

Diese Ziele wurden nach und nach in allen demokratischen Staaten durchgesetzt. Trotzdem blieb die reale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bestehen.[57] Frauen befanden sich nach wie vor in Abhängigkeit von ihren Ehemännern, jetzt allerdings mit der Verschiebung von der offenen rechtlichen hin zu einer verdeckten und vermittelten materiellen Abhängigkeit. Sie waren weiterhin viel seltener erwerbstätig, hatten dann trotzdem noch ein geringeres Einkommen und die niedrigeren Positionen in den Betriebshierarchien und sie waren bei Krankheit und im Alter qualitativ anders und quantitativ schlechter sozial abgesichert.

2.2.1 Staatskritische Frauenbewegung

Dieses Phänomen musste erklärt werden. In den 70er Jahren entwickelte sich eine Strömung innerhalb der Frauenbewegung, die annahm, dass Frauen wegen ihrer Gebärfähigkeit ein spezifisches Verhältnis zu Natur und Gesellschaft und deshalb auch andere Interessen, Bedürfnisse und Werte hätten als Männer, die aber während Jahrhunderte langer Männerherrschaft in Staat und Ökonomie verschüttet worden seien.[58] Die politische Sphäre wurde in dieser Sichtweise von Feministinnen als ‚dem Weiblichen’ grundsätzlich entgegenstehend identifiziert. Ziel war eine Aufwertung der ‚weiblichen‘ Reproduktionssphäre und nicht die Gleichstellung der Geschlechter in der und durch die staatliche Sphäre. Eine solche Betonung der biologischen und vorgesellschaftlichen Differenz zwischen den Geschlechtern ist aber in der Geschlechterforschung mittlerweile sehr umstritten[59] ; konsequent differenztheoretische Positionen sind kaum mehr anzutreffen.[60]

Ein anderes Argument gegen ein Engagement von Feministinnen in der staatlichen Arena war die historisch-konkrete männliche Verfasstheit des Staates und die Besetzung aller entscheidenden Positionen durch Männer.[61] Eine Gleichstellung der Geschlechter in der öffentlichen Sphäre könne und müsse durch alternative und autonome Politikformen außerhalb der staatlichen Institutionen angestrebt werden. Aus verschiedenen Gründen war es deshalb lange Zeit beispielsweise innerhalb der bundesdeutschen Frauenbewegung höchst strittig, ob ein Bezug auf den Staat nicht ein gefährlicher Pakt mit dem Feind wäre.[62]

2.2.2 Mittelbare und unmittelbare Diskriminierung

Parallel dazu war es innerhalb der staatsorientierten Strömung der feministischen Rechtsbewegung deutlich geworden, dass neutral formulierte rechtliche Regelungen allein die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Macht zwischen den Geschlechtern nicht beheben konnten. Solange die Lebensbedingungen ungleich sind, schreiben neutrale rechtliche Regelungen die Ungleichheit der Geschlechter fort. Es wurde schnell offensichtlich, dass es nicht genügt, unmittelbare Diskriminierung zu verhindern, also die explizite Anders- und Schlechterbehandlung von Frauen zu verbieten. Als langlebiger und schwerer zu greifen und einzudämmen erwies sich die mittelbare Diskriminierung[63]: In einer Gesellschaft, die zwei Lebenswelten mit spezifischen Rechten und Pflichten schafft und Individuen qua ihrer angeblich biologischen Ausstattung auf jeweils eine der beiden ‚Existenzweisen‘[64] festlegt, müssen alle politischen Forderungen und Maßnahmen sorgfältig darauf geprüft werden, dass sie diese Lebenswelten und die sich in ihnen befindenden Individuen nicht unterschiedlich treffen. Sonst reproduzieren und verfestigen sie unweigerlich die bestehenden Ungleichheiten. Diese aber sind rechtlich bzw. staatlich form- und regelbar, also veränderbar. Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Faktor ist hierbei der Sozialstaat.

Es ist nicht der Platz, hier eine Antwort auf die Frage zu finden, welcher der genannten Wege am effektivsten und erfolgversprechendsten das - in dieser Abstraktion allen Diskutantinnen gemeinsame - Ziel der Geschlechtergerechtigkeit verfolgt. Allerdings muss an dieser Stelle geklärt werden, ob staatliche Gleichstellungspolitik - also die, die auf der Ebene des Wohlfahrtsstaates stattfindet - überhaupt ein Weg sein kann. Dazu soll im folgenden - nach einer Erörterung der vorwiegend skandinavischen Diskussion um die potentielle ‚Frauenfreundlichkeit‘ eines männlichen Staates - mithilfe eines theoretisch erweiterten Konzepts von Herrschaft, das von Marion Löffler vorgelegt wurde[65], die Möglichkeit feministischer politischer Forderungen an den Staat plausibel gemacht werden.

2.3 ‚Frauenfreundlicher‘ Staat?

Die Debatte für oder gegen einen Bezug auf den Staat innerhalb der Neuen Frauenbewegung kann unter der Überschrift „Autonomie oder Institution“ zusammengefasst werden.[66] Der historisch ältere Flügel der Autonomie vertreterinnen identifizierte den Staat als Gesamtpatriarch oder mindestens alle staatlichen Institutionen als so gründlich mit männlichen Subjekten besetzt, dass kein Bezug auf den Staat je emanzipative Auswirkungen haben könne.[67]

2.3.1 Skandinavischer Staatsfeminismus

In Skandinavien hingegen eröffneten die realen Erfahrungen eine neue Perspektive: Gleichstellungspolitik war aus verschiedenen Gründen[68] staatlich unterstützt worden, mit einem deutlichen Erfolg für die soziale Situation von Frauen.[69] Hier zeigte sich, dass die von der marxistischen Staatsableitungsdebatte beeinflusste Vorstellung, staatliches Handeln sei qua Gründungslogik immer und unveränderlich von dem Staat äußerlichen, bestimmten gesellschaftlichen Interessen (Männer, Kapital) determiniert, in dieser Kürze offensichtlich nicht der Realität entsprach.

Skandinavische Frauenforscherinnen versuchten, diese Entwicklung theoretisch zu fassen. Schon ihre Fragestellung zeugt von einem klaren Problembewusstsein: „Die Frage ist, ob der Status von Frauen als Klienten und ihr politisches Profil als Empfängerinnen ihre Machtlosigkeit verlängert und institutionalisiert hat, oder ob das Existenzminimum, das der Wohlfahrtsstaat ihnen garantiert, ihnen die Gelegenheit und die Mittel gegeben hat, ihren Unabhängigkeitskampf überhaupt erst zu wagen.“[70] Dabei kam Helga Maria Hernes zu der symptomatisch für die skandinavische Richtung des ‚Staatsfeminismus‘ stehenden Einschätzung: „Die nordischen Demokratien [verkörpern] eine Staatsform, die eine Umwandlung in frauenfreundliche Gesellschaften möglich macht. [Dies] wäre, kurz gesagt, ein Staat, in dem Ungerechtigkeit auf geschlechtlicher Basis weitgehend abgeschafft würde, ohne daß andere Formen von Ungleichheit zunehmen würden, z. B. zwischen einzelnen Gruppen von Frauen.“[71]

2.3.2 Kritik an der skandinavischen Position

Hernes wurde mit dem Hinweis darauf kritisiert, dass in einem starken Wohlfahrtsstaat Frauen erneut abhängig gemacht würden, diesmal vom Ehemann- oder Vaterersatz Staat. Mary Langan und Ilona Ostner beispielsweise halten als Kritikpunkt am schwedischen Modell fest, dass „Frauen ihre Abhängigkeit gewechselt haben [...]: von der persönlichen Abhängigkeit zur öffentlichen, von der Abhängigkeit vom Ehemann zu der vom Staat.“[72] Von einer liberal orientierten Theorieentwicklung beeinflusste Arbeiten betonten, dass der politische Schwerpunkt auf das Erringen von wirtschaftlicher Unabhängigkeit gelegt werden müsse.[73] Staatliche Leistungen und/oder ein Arbeitsplatz im staatlich unterhaltenen Sozialstaat verschöben die Abhängigkeit von Frauen lediglich auf eine höhere Ebene, die jederzeit wieder wegbrechen und die alten Verhältnisse in neuer Schärfe ausbrechen lassen könne.

Allerdings ist die bloße Feststellung der ‚Abhängigkeit‘ vom Staat noch kein Argument gegen den Staatsfeminismus. Die Alternative zur Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat ist die Abhängigkeit von einem Arbeitgeber, der der größte Teil einer Bevölkerung in einer Industriegesellschaft unterworfen ist. Wie Linda Gordon und Nancy Fraser in einer Betrachtung des Bedeutungswechsel des Begriffes ‚Abhängigkeit‘ nachweisen konnten, „leugnete die für die Lohnarbeit typische Sprache im Kapitalismus die Abhängigkeit des Arbeiters von seinem Arbeitgeber und verschleierte dadurch seinen Status als Untergeordneter in einem Betrieb, der von einem anderen geleitet wird. [...] In einem gewissen Sinne wurde die ökonomische Abhängigkeit des weißen Arbeiters durch einen sprachlichen Kunstgriff zum Verschwinden gebracht [...]. ‚Abhängigkeit‘ wurde folglich so umdefiniert, daß sie sich ausschließlich auf solche nichtökonomischen Unterordnungsverhältnisse bezog, die man für Menschen nichtweißer Abstammung und für weiße Frauen als passend ansah.“[74] Im Gegensatz zur traditionellen persönlichen, rechtlich kodierten Abhängigkeit vom Haushaltsvorstand stellen Arbeitgeber oder Staat über ein – immerhin kalkulierbares - Gewähren von finanziellen und sachlichen Diensten ein Abhängigkeitsverhältnis her, dass vergleichbar ambivalent und prekär ist.

Wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen birgt für Frauen darüber hinaus besondere Schwierigkeiten. Denn auch die Einstellungsmuster auf dem Arbeitsmarkt sind vom Geschlechtervertrag geprägt: Einerseits unterliegen auch die einstellenden Arbeitgeber den allgemeinen diskursiven Annahmen über natürliche Geschlechterrollen. Und andererseits markieren so geartete Diskurse auch das Arbeitsplatzangebot selbst. Nicht nur, dass der Markt Pflege- und Betreuungsdienste nur anbietet, wenn eine Nachfrage danach besteht, die Beschaffenheit der Arbeitsplätze selbst wird ebenfalls davon betroffen: Nach wie vor ist eine Teilzeiterwerbstätigkeit nicht vollwertig, sondern wird als eine Übergangs- oder Ausnahmelösung sozial abgesichert, obwohl sie in der Realität das dominierende Beschäftigungsverhältnis für Frauen ist.[75]

Hildegard Theobald kommt dementsprechend in ihrer vergleichenden empirischen Untersuchung der tatsächlichen Verteilung der ‚ökonomischen‘ Macht entlang der Geschlechterlinie in Schweden, Deutschland und den USA für die 90er Jahre zu einem klaren Ergebnis: „[D]ie Ausgangshypothese zum direkten Zusammenhang zwischen Organisationsform der Frauenbewegung und der Entwicklung des Geschlechterverhältnisses kann nicht beleg[t werden].“[76] Obwohl die Frauenbewegung in den USA vergleichsweise staatsfern und in Schweden eher staatlich organisiert war, ließen sich weder eine größere wirtschaftliche Aktivität unter US-Bürgerinnen noch mehr Erfolge bei nordamerikanischen Unternehmerinnen konstatieren. Vielmehr gibt es mehr schwedische als US-amerikanische Unternehmerinnen. Außerdem war sich auch Hernes schon sehr früh darüber bewusst, dass „Staatsfeminismus [...] die politische Mobilisierung nicht ersetzen [kann] und nicht damit verwechselt werden [sollte]. Man kann bestenfalls hoffen, daß eine Kombination von beidem es den Frauen ermöglichen wird, Bürger mit eigenen Rechten zu werden.“[77]

2.3.3 Herrschaft als ambivalenter Begriff

Auch neuere feministische Arbeiten - sensibilisiert durch die ‚dekonstruktivistische’ Erkenntnis der repressiven Wirkungsweise von konstruierten Dualismen[78] - tendieren dazu, sich nicht vor die falsche Alternative ‚Emanzipation per Gesetz versus Emanzipation durch veränderte Lebensweisen‘ stellen zu lassen. Marion Löffler löst das Problem logisch und plausibel, indem sie den Begriff ‚Herrschaft‘ (analog zu Foucaults Machtbegriff) neu fasst.[79]

Die Begriffe Macht, implizite Herrschaft und explizite Herrschaft müssen auf der theoretischen Ebene voneinander getrennt werden. Herrschaft ist in dieser Sichtweise ähnlich wie Macht nicht nur durchgehend destruktiv, sondern hat die Funktion, auch nicht-hierarchische Ordnung zu schaffen. Der Verlauf der immer und überall stattfindenden Macht kämpfe wird durch verschiedene Arten der Herrschaft geprägt. Während Macht dabei also eher die momentane Machtposition einer Person oder das momentane Machtdispositiv verschiedener, permanent miteinander Konflikte austragender Subjekte oder Kollektive bezeichnet (Machtkämpfe) und damit ein ungesteuertes und dezentrales soziales Kräftefeld umreißt, drückt Herrschaft längerfristige, gesellschaftliche Ordnungsprinzipien aus, die bewirken, dass Machtkämpfe nicht willkürlich ablaufen. Herrschaft gestaltet die Ausgangsbedingungen und gibt Machtmittel für die alltäglichen Machtkämpfe vor.

Löffler unterscheidet nun theoretisch in implizite und explizite Herrschaft: Implizite patriarchale Herrschaft z. B. bezeichnet die unterschiedlichen hegemonialen ideologischen, normativen und damit repressiven Deutungsmuster und Diskurse in der gesamten Gesellschaft über eine ‚natürliche Ordnung der Geschlechter‘ oder darüber, wie Lebensentwürfe von Männern und Frauen natürlicherweise auszusehen haben. Diese Diskurse werden über permanente Machtkämpfe zu expliziter Herrschaft, wenn sie vom Staat in Gesetzen festgehalten werden, also der Staat „Machtpositionen und Machtmittel per Gesetz“[80] festlegt.

Am Beispiel des Wohlfahrtsstaates lässt sich dies anhand der verschiedenen Männer bevorzugenden Modelle sozialer Sicherungssysteme zeigen. Beide Herrschaftsebenen stehen in Wechselwirkung, wobei die implizite weitaus wirkungsmächtiger ist als die explizite. Das lässt sich an der geringen Durchsetzungskraft eines Gesetzes verdeutlichen, das dem ‚ common sense ‘ widerspricht, weil es überraschend in einem einzelnen Machtkampf errungen wurde. Dennoch: Auch diese nur explizite Herrschaft kann emanzipative Wirkung haben. Zwar beeinflusst sie lediglich die Mittelwahl, und der Ausgang des Machtkampfes hängt nach wie vor von der aktuellen Machtkonstellation ab. Aber: “Werden diese Mittel konsequent in Anspruch genommen und verlaufen daraufhin die Machtkämpfe entgegen implizit gestützter Machtpositionen, so wirkt letztlich explizite Herrschaft auf implizite transformierend.“[81]

Nach dem Konzept von Löffler muss feministische, oder genauer: Gleichstellungspolitik nicht nur, aber auch staatlich sein. Falls in einem einzelnen Machtkampf Mittel für die Auseinandersetzung gewonnen werden können, wäre es verheerend, mit dem Verweis auf eine nur sehr langwierige Transformation des Geschlechterverhältnisses darauf zu verzichten.

3. Wohlfahrtsstaatsforschung

Wenn die Europäische Sozialpolitik auf ihre gleichstellungspolitischen Konsequenzen hin untersucht werden soll, bietet es sich an, auf Instrumente und Ergebnisse der Wohlfahrtsstaatsforschung zurückzugreifen. Die Wohlfahrtsstaatsforschung bietet eine lange wissenschaftliche Tradition mit einem großen Fundus an empirischen Untersuchungen und Datenbanken und elaborierten und erprobten Methoden. Auch wenn diese nicht umstandslos auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit zu übertragen sind, stellen sie doch einen wertvollen Ausgangspunkt für die hier zu behandelnden Überlegungen dar.

Unter Wohlfahrtsstaat werden hier die gesamten staatlichen Maßnahmen, Programme oder (Zwangs-)Versicherungen zur Umverteilung materieller Güter verstanden, die ökonomische und soziale Asymmetrien lindern oder korrigieren sollen. Wie, von wem, in welchem Ausmaße - seit kürzerer Zeit auch, warum bzw. auf der Grundlage welcher normativen Vorstellungen und mit welchen Konsequenzen - diese Umverteilungen vorgenommen werden, ist Gegenstand einer quantitativ umfangreichen politologischen Forschung mit einer langen Tradition: die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung. Sie beabsichtigt, über Vergleiche der verschiedenen nationalen Programme die staatlichen Politiken erkennbar und benennbar, verortbar und kritisierbar zu machen. Die komparatistische Methode verspricht dabei, durch Erörterung der Unterschiede oder Gemeinsamkeiten der nationalen Ausprägungen von Wohlfahrtsstaaten diese - nach allerdings unterschiedlichen Maßstäben - auf ihre Effektivität hin untersuchen zu können. Der Vorteil ist nicht nur, dass „der komparative Blick von außen nach innen (und zurück) das Auge schärft für die eigene nationale Besonderheit und ihre Geschichte“[82]. Aus einem Vergleich heraus können sich auch Antworten auf aktuelle Fragen ergeben. Als Beispiele wären hier transnationale Übernahmen von bestimmten nationalen Lösungen oder der Entwurf einer praktizierbaren Kombination aus verschiedenen erfolgreichen nationalen Politiken für sich in Entstehung befindende politische Gebilde wie die Europäische Union denkbar.

[...]


[1] Vgl. in: Vertrag von Amsterdam. Text und konsolidierte Fassungen des EU- und EG-Vertrags/mit einer Einführung von Angela Berdenhewer, Baden-Baden 1997, S. 262-264. Zur Neuartigkeit des beschäftigungspolitischen Engagements: Europäische Kommission, Die Europäische Beschäftigungsstrategie. In Menschen investieren. Mehr und bessere Arbeitsplätze schaffen, Luxemburg 1999, S. 8.

[2] Vgl. hierzu: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Fünf Jahre Europäische Beschäftigungsstrategie – Eine Bestandsaufnahme, KOM(2002) 416 endgültig; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission zur Straffung der alljährlichen wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Koordinierung, KOM(2002) 487 endgültig; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Die Zukunft der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS). „Eine Strategie für Vollbeschäftigung und bessere Arbeitsplätze für alle“, KOM(2003) 6 endgültig.

[3] Beschluss des Rates vom 22. Juli 2003 über die Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten, (2003/578/EG), ABl. EU Nr. L 197 v. 5. 8. 2003, S. 13-21.

[4] Zur weiteren Diskussion von Gender-Mainstreaming allgemein vgl.: Kapitel 1.2.3 und auf der Europäischen Ebene Kap. 4.3.2.

[5] Friederike Maier hat das erste Stadium der EBS 1997-2002 ausführlich untersucht: Maier, Friederike, Gibt es eine frauenpolitische Wende durch die Europäische Beschäftigungsstrategie? in: Bothfeld, Silke u.a. (Hg.), Gender Mainstreaming – eine Innovation in der Gleichstellungspolitik. Zwischenberichte aus der politischen Praxis, Frankfurt a.M., New York 2002, S. 159-184. Vgl. zu weiteren Untersuchungen der EBS bis 2002/2003: Behning, Ute u.a., Introduction, in: Behning, Ute, Amparo Serrano Pascual (Hg.), Gender Mainstreaming in the European Employment Strategy, Brüssel 2001, S. 9-22; Bilinski, Merle, Christel Degen, Europäische Beschäftigungsstrategien im Spannungsfeld nationaler Umsetzung, in: Allroggen, Ulrike u. a. (Hg.), Was bringt Europa den Frauen? Feministische Beiträge zu Chancen und Defiziten der Europäischen Union, Hamburg 2002, S. 51-67.

[6] Zur Unterscheidung der verschiedenen Ebenen des Staates vgl. Kap. 2.1.

[7] Vgl. stellvertretend für andere: Esping-Andersen, Gösta, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990, S. 26-29. Zum Begriff des staatlichen ‚Regimes‘ in der Regulationstheorie vgl.: Hübner, Kurt, Theorie der Regulation. Eine kritische Rekonstruktion eines neuen Ansatzes der Politischen Ökonomie, Berlin 1990, S. 11-18 und Aglietta, Michel, Ein neues Akkumulationsregime, Hamburg 2000, S. 7-11; zum ‚Geschlechterregime‘: Mosesdottir, Lilja, The case of Sweden, in: Behning/ Pascual 2001, S. 23-50

[8] Vgl. zur Gegenstandsproblematik in der Wohlfahrtsstaatsforschung einleitend: Schmid, Josef, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, 2. völlig überarbeitete und erw. Aufl., Opladen 2002, S. 69-97.

[9] Funktionsweise und Verhältnis der einzelnen Europäischen Institutionen werden in 4.2.1 erläutert.

[10] Vgl. zur angelsächsischen Definition des welfare state: Kleinman, Mark, A European Welfare State? European Union Social Policy in Context, Hampshire, New York 2002, S. 8; zur Definition des deutschen Sozialstaat: Fuchs, Maximilian (Hg.), Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2000, S. 4f.

[11] Die Begriffe Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat werden synonym verwandt; sprachliche Bedeutungsnuancen, nach denen ‚Wohlfahrtsstaat‘ gerade in den USA eine stark pejorative Färbung hat, sollen hier nicht berücksichtigt werden. Vgl. hierzu: Kleinman 2002, S. 1-7 und Schmidt 2002, S. 33-36.

[12] Zu der Frage, ob und inwiefern die EU sozial staatlich tätig ist, vgl.: Kapitel 4.

[13] Vgl. zu dieser Unterscheidung der Begriffe: Streeck, Wolfgang, Vom Binnenmarkt zum Bundesstaat? Überlegungen zur politischen Ökonomie der europäischen Sozialpolitik, in: Leibfried, Stephan, Paul Pierson (Hg.), Standort Europa. Sozialpolitik zwischen Nationalstaat und Europäischer Integration, Frankfurt a. M. 1998, S. 369-421, S. 397 und Kleinman 2002, S. 83.

[14] Vgl. zu einer solchen Begriffsklärung Kuhn, Heike, Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft, (= Schriften zum Europäischen Recht 22), Berlin 1995, S. 30.

[15] Zur allgemeinen Kritik der Europäischen Sozialpolitik vgl.: Kleinman 2002. Feministische Kritik ist im Allgemeinen wie zu bestimmten Bereichen geleistet worden in den Sammelbänden von Rossilli, Mariagrazia, Gender Policies in the European Union, New York u. a. 2000 und Allroggen 2002.

[16] Vgl. zur sogenannten ‚Hausarbeitsdebatte’ zusammenfassend: Bauböck, Rainer, Wertlose Arbeit. Zur Kritik der häuslichen Ausbeutung, Wien 1991 und Beer, Ursula, Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses, Frankfurt 1990, S. 47-55.

[17] Vgl. als Beispiel für eine Studie, in der dieses Phänomen für den Übergang zwischen agrarisch-handwerklicher Standesgesellschaft und bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft dargelegt wird: Beer 1990.

[18] Vgl. hierzu: Lewis, Jane, Ilona Ostner, Gender and the Evolution of European Social Policies, Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, Arbeitspapier Nr. 4, 1994; Ostner, Ilona, Jane Lewis, Geschlechterpolitik zwischen europäischer und nationalstaatlicher Regelung, in: Leibfried/ Pierson 1998a, S. 196-237 und Ostner, Ilona, From Equal Pay to Equal Employability: Four Decades of European Gender Policies, in: Rossilli 2000, S. 25-42.

[19] Zur Geschichte des Begriffs Gender-Mainstreaming vgl.: Stiegler, Barbara, Wie Gender in den Mainstream kommt. Konzepte, Argumente und Praxisbeispiele zur EU-Strategie des Gender-Mainstreamings, in: Bothfeld u.a. 2002, S. 19-40; Dunst, Claudia, „Gender Mainstreaming“ – das bessere Rezept für Chancengleichheit?!, in: Allroggen 2002, S. 30-51.

[20] Vgl. hierzu: Baer, Susanne, Gender Mainstreaming als Operationalisierung des Rechts auf Gleichheit. Ausgangspunkte, Rahmen und Perspektiven einer Strategie, in: Bothfeld u.a. 2002, S. 41-62.

[21] Vgl. zu den bekanntesten Ansätzen, die diese soziale Konstruiertheit von sex zu dekonstruieren suchen: Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991 und Haraway, Donna, Die Neuerfindung der Natur, Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M., New York 1995. Theorien zu gender entwickelten sich vor allem aus dem ethnomethodologischen-sozialkonstruktivistischen Ansatz. Vgl. hierzu: Gildemeister, Regine, Angelika Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Knapp, Gudrun-Axeli, Angelika Wetterer (Hg.), TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg 1992, S. 201-254.

[22] Zur neueren Geschlechtergeschichte und deren Verwendung der analytischen Kategorie gender vgl.: Scott, Joan W., Deconstructing Equality-Versus-Difference: Or, The Uses of Poststructuralist Theory for Feminism, in: Feminist Studies 14, 1988, S. 33-50. Außerdem: Duden, Barbara, Geschichte unter der Haut, Frankfurt a.M. 1987; Laqueur, Thomas, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge u.a. 1990 und Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750-1850, Frankfurt a.M. 1990.

[23] Vgl. hierzu: Maihofer, Andrea, Geschlecht als Existenzweise. Einige kritische Anmerkungen zu aktuellen Versuchen zu einem neuen Verständnis von „Geschlecht“, in: Institut für Sozialforschung Frankfurt, Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt 1994, S. 168-187 und Becker-Schmidt, Regina, Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis: soziale Dimension des Begriffs „Geschlecht“, in: Zeitschrift für Frauenforschung, 1993, H. 1+2, S. 37-46.

[24] Zum Begriff der geschlechtlichen Sozialrolle: Leitner, Sigrid, Frauen und Männer im Wohlfahrtsstaat. Zur strukturellen Umsetzung von Geschlechterkonstruktionen in sozialen Sicherungssystemen, Wien 1999, S. 26-28.

[25] Nachdem beispielsweise Andrea Maihofer „Geschlecht als hegemonialen Diskurs und gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise“ entwickelt hat, plädiert sie dennoch auf eine „Anerkennung der Geschlechterdifferenz“: „Die Forderung nach Anerkennung der Geschlechterdifferenz tritt also nicht an die Stelle der Forderung nach Gleichheit bzw. Gleichberechtigung. Sie stellt vielmehr deren Weiter entwicklung dar. Sowohl die Anerkennung als gleichberechtigte Menschen an sich im Sinne der herkömmlichen Menschenrechte als auch die Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen und -bürger im Sinne der herkömmlichen Staatsbürgerrechte bleiben notwendige Vorraussetzungen. Die Forderung nach Anerkennung der Geschlechterdifferenz soll – gleichsam als nächster Schritt – die Gleichberechtigung der Frau nun auch als „Frau“ garantieren. Diese Forderung ist – wie sich historisch gezeigt hat – aber auch deshalb notwendig, weil nur dadurch für Frauen die Verwirklichung auch der anderen Ebenen wirklich garantiert scheint. Der nächste Schritt wäre dann die Anerkennung der/des Einzelnen auch in ihrer/seiner konkreten Individualität.“ Maihofer, Andrea, Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a. M. 1995, S. 79-108, 168 u. 172f (Hervorhebung im Original, A. S.).

[26] Vgl. hierzu Pateman, Carole, Der Geschlechtervertrag, in: Appelt, Erna, Gerda Neyer (Hg.) Feministische Politikwissenschaft, Wien 1994, S. 73-95 und die Diskussion des gender contract in Kapitel 2.1.

[27] Schunter-Kleemann, Susanne, „Mainstreaming“ - die Geschlechterfrage und die Reform der europäischen Strukturpolitik, in: Zeitschrift für Frauenforschung, 3/1998, S. 22-33, S.27. Ein weiteres Problem wird von Ilona Ostner angeführt, die befürchtet, dass durch das fortwährende verbale Wiederholen der Herstellung von ausgeglichener Marktteilhabe von Frauen und Männern in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit weibliche Beschäftigte in frauenintensiveren Sektoren von Männern verdrängt würden (Ostner 2000, S. 25-42, S. 37). Vgl. hierzu auch: Stiegler 2002, S. 38f.

[28] Vgl. hierzu beispielsweise: Ehrhardt, Angelika, Mechthild M. Jansen, Gender Mainstreaming. Grundlagen, Prinzipien, Instrumente, Wiesbaden 2003 (= Polis 36), S. 12.

[29] Vgl. hierzu: Baer 2002.

[30] Vgl. hierzu auch die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung in Kapitel 2.2.2.

[31] Baer 2002, S. 54.

[32] Nancy Fraser löst die in Zeiten der Identitätspolitik wiederaufkommende falsche Alternativenstellung zwischen materieller Umverteilung und kultureller Anerkennung durch die Einführung der Kategorie Teilhabe. Sie weist nach, dass in jeder Ungleichbehandlungssituation ineinander verzahnt beide Arten von Diskriminierung vorkommen: „Eine kritische Perspektive [...] muss sichtbar und kritisierbar machen, dass angeblich rein ökonomische Prozesse einen kulturellen und angeblich rein kulturelle Prozesse einen ökonomischen Hintergrund haben.“ (Fraser, Nancy, Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition, Participation, Discussion Paper FS I 98-108, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, 1998, Hervorhebung im Original, Übersetzung von mir, A. S.) Effektive und gerechte Gleichstellungs- wie Sozialpolitik muss also die volle Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder in jedem gesellschaftlichen Bereich anstreben.

[33] Vgl. hierzu: Kulawik, Teresa, Birgit Sauer, Staatstätigkeit und Geschlechterverhältnisse. Eine Einführung, in: Kulawik, Teresa, Birgit Sauer (Hg.), Der halbierte Staat. Grundlagen feministischer Politikwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, S. 9-44, S. 21 und Sauer, Birgit, Die Asche des Souveräns, Staat und Demokratie in der Geschlechterdemokratie, Frankfurt, New York 2001, S. 66ff.

[34] Der Staat als Terrain betont hingegen die Dynamik, die den ständigen Aushandlungsprozessen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften innewohnt, und dass Staat und Gesellschaft nicht getrennt voneinander zu denken sind. Der Bereich der polity berücksichtigt die Erkenntnis, dass die ersten beiden Funktionsweisen des Staates bestimmten Diskursen unterworfen sind, die die tatsächliche Materialisierung im Alltag und das Leben der Menschen im Staat strukturieren. Vgl. hierzu genauer Sauer 2001, S. 67.

[35] Vgl. hierzu: Esping-Andersen, Gösta, Social Foundations of Postindustrial Exonomies, Oxford 1999, S. 5f.

[36] Vgl. für viele: Appelt, Erna, Staatsbürgerin und Gesellschaftsvertrag, in: Das Argument 210, 37. Jahrgang, Heft 4, Juli/August 1994, S. 539-554.

[37] Zur Kritik des geschlechtsblinden ‚malestreams‘ der klassischen und aktuellen Politikwissenschaft: Sauer 2001, S. 13-17; Kreisky, Eva, Birgit Sauer (Hg.), Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Eine Einführung, Frankfurt a.M./New York 1995; Kreisky, Eva, Birgit Sauer, Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, in: Kreisky, Eva, Birgit Sauer (Hg.), Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, Wiesbaden 1998, S. 9-49; Kreisky, Eva, Birgit Sauer, Anti-Politikwissenschaft? Auf der Suche nach dem Geschlecht von Politik, in: Kreisky, Eva, Birgit Sauer (Hg.), Geschlecht und Eigensinn. Feministische Recherchen in der Politikwissenschaft, Wien u. a. 1998, S. 7-23.

[38] Vgl. hierzu: Becker-Schmidt 1993 und Becker-Schmidt, Regine, Gudrun-Axeli Knapp, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 7-18.

[39] Vgl. hierzu: Sauer 2001, S. 123.

[40] Vgl.: Pateman 1994, S. 73-95, S. 73.

[41] Hobbes, Thomas, Leviathan, Stuttgart 1970, S. 151.

[42] Hobbes 1970, S. 153, vgl. aber auch die nachfolgenden Seiten.

[43] Vgl. hierzu: Pateman, Carole, Feminist Critiques of the Public/Private Dichotomy, in: Pateman, Carole (Hg.), The Disorder of Women, Stanford 1989, S. 118-140. Für eine weitere Diskussion der Einordnung der verschiedenen Sphären auf der Achse Öffentlich-Nichtöffentlich vgl.: Löffler, Marion, Herrschaft als zentrales Konzept zur Entschlüsselung der Geschlechtlichkeit des Staates, in: Kreisky, Eva u. a. (Hg.), EU. Geschlecht. Staat, Wien 2001, S. 15-32, S. 19.

[44] „Mit Ausnahme von Hobbes behaupten die Klassiker, daß den Frauen die Eigenschaften und Fähigkeiten von ‚Individuen‘ von Natur aus fehlen. Geschlechterdifferenz ist politische Differenz; Geschlechterdifferenz ist der Unterschied zwischen Freiheit und Knechtschaft. Frauen sind nicht Partei beim Grundvertrag, durch den die Männer ihre natürliche Freiheit gegen die Sicherheit bürgerlicher Freiheit eintauschen. Frauen sind die Gegenstände des Vertrages. Der (Geschlechter)Vertrag ist das Instrument, mit dem Männer ihre natürliche Macht über Frauen in die Sicherheit der bürgerlichen patriarchalen Ordnung überführen.“ Pateman 1994, S. 79. Zu einer fundierten Kritik der ‚Vertragsvorstellung’ vgl. Fraser, Nancy, Jenseits des Herr/Knecht-Modells. Über Carole Patemans The Sexual Contract, in: Fraser, Nancy, Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt a. M. 2001, S. 322-337.

[45] Vgl. hierzu: Becker-Schmidt 1993, S. 42-44.

[46] Vgl. zum historischen Ausschluss von Frauen über die Konstruktion von Staatsbürgerschaft einführend: Appelt, Erna, Bürgerrechte – Feministische Revisionen eines politischen Projekts, in: Appelt/Neyer 1994, S. 100-106.

[47] Vgl. zur Historizität der Geschlechterdifferenz Laqueur 1990 und zu deren ‚wissenschaftlicher‘ Verfestigung Honegger 1990.

[48] Vgl. hierzu: Kreisky, Eva, Der Stoff, aus dem die Staaten sind. Zur männerbündischen Fundierung politischer Ordnung, in: Becker-Schmidt, Regina, Gudrun-Axeli Knapp, Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M., New York 1995, S. 85-124.

[49] Zur Kritik am Konzept des Staates als Männerbund vgl.: Sauer 2001, S. 147.

[50] Vgl. hierzu: Sauer 2001, S. 125.

[51] Theobald, Hildegard, Geschlecht, Qualifikation und Wohlfahrtsstaat. Deutschland und Schweden im Vergleich, Berlin 1999, S. 11.

[52] Langan, Mary, Ilona Ostner, Geschlechterpolitik im Wohlfahrtsstaat: Aspekte im internationalen Vergleich, in: Kritische Justiz, Jahrgang 1991, S. 302-317, S. 302.

[53] Mädje, Eva, Claudia Neusüß, Frauen in der Sozialpolitik- und Armutsforschung, in: Kulawik/Sauer 1996a, S. 206-222, S. 208.

[54] Vgl. hierzu: McIntosh, Mary, Feminism and Social Policy, in: Pierson, Christopher, Francis G. Castles (Hg.), The Welfare State. A Reader, Cambridge 2000, S. 119-132, S. 121.

[55] Alternative Ansätze zu dieser staatsorientierten Fraktion hat es in der Frauenbewegung aber schon immer gegeben. Für Deutschland beschreibt Rosemarie Nave-Herz beispielsweise die Entwicklung der ‚proletarischen Frauenbewegung’. Da aber erstens vor allem die ‚bürgerliche Frauenbewegung’ ihre Zielen praktisch durchgesetzt hat und zweitens aber auch die proletarische Frauenbewegung sich zumindest in ihren kurzfristigen Forderungen in erster Linie an den vorhandenen bürgerlichen Staat gewandt hat, arbeitete die Neue Frauenbewegung nach 1968 sich vor allem an dieser ab. Vgl. hierzu: Nave-Herz, Rosemarie, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Opladen 1994.

[56] Nave-Herz 1994, S. 13.

[57] Vgl. hierzu Nave-Herz 1994, S. 61.

[58] Vgl. beispielsweise Mies, Maria, Gesellschaftliche Ursprünge der geschlechtlichen Arbeitsteilung, in: Bennholdt-Thomsen, Veronika, u. a., Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit, Zürich 1992.

[59] Eine schöne Übersicht zu dieser Debatte bietet: Nicholson, Linda, Was heißt „gender“? in: Institut für Sozialforschung Frankfurt, Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt 1994, S. 188-220. Vgl. hierzu für den deutschsprachigen Raum auch: Gildemeister/Wetterer 1992.

[60] Eine Theoretikerin wie Maihofer geht, wie in 1.2.3 skizziert wurde, von einer zwar sozial konstruierten Zweigeschlechtlichkeit aus, die aber so eingelebt ist, dass sie zur unterschiedlichen „Existenzweise“ der real anzutreffenden Gruppen von Männern und Frauen wurde. Vgl.: Maihofer 1995, S. 85.

[61] Vgl. hierzu: Kreisky 1995.

[62] Eine sehr differenzierte Diskussion dieser Gründe findet sich in Kulawik/ Sauer 1996b, S. 13-21. Vgl. auch: Sauer 2001, S. 119-123.

[63] Zur Geschichte des Begriffs der mittelbaren Diskriminierung vgl.: Kalisch, Ines, Die Entwicklung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sozialrecht, Frankfurt u. a. 1999, S. 33-40; Mittman, Andreas, Gleichbehandlung von Männern und Frauen im niederländischen und deutschen Arbeitsleben. Ein Rechtsvergleich auf EU-rechtlicher Grundlage, Sinzheim 1997, S. 146-152 und Kuppel, Martina, Mittelbare Diskriminierung in der Rechtssprechung des EuGH, in: Kreuzer, Christine, Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, Baden-Baden 2001, S. 193-204. Diese Begrifflichkeit ist mittlerweile auch von der Europäischen Union in den Richtlinien 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. EG Nr. L 180 v. 19.7.2000, S. 24 und 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. EG Nr. 303, S. 18 aufgegriffen worden.

[64] Siehe zum Begriff der Existenzweise Fußnote 25.

[65] Siehe: Löffler 2001.

[66] Vgl. hierzu: Gerhard, Ute, Westdeutsche Frauenbewegung: Zwischen Autonomie und dem Recht auf Gleichheit, Frankfurt 1992.

[67] Vgl. zu den verschiedenen Positionen: Autonomie oder Institution. Über Leidenschaft und Macht von Frauen. Dokumentationsgruppe der Sommeruniversität der Frauen e.V., Berlin 1981 und Dokumentation: Kongress Autonome Frauenbewegung und die Organisationsfrage, Köln 1982.

[68] Im Nachkriegsskandinavien herrschte Arbeitskräftemangel. Deshalb war die Einbindung von Frauen in den öffentlichen Bereich „von unten her, sozusagen durch den Boteneingang, [...] eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung. Die arbeitmarktsrelevanten [...] Veränderungen ergaben sich zum Teil aus wirtschaftlichen Entwicklungen, zum Teil aus Aktivitäten der Frauenbewegung und zum Teil aus der Regierungspolitik.“ Hernes, Helga Maria, Welfare State and Woman Power. Essays in State Feminism, Oslo 1987, S. 20.

[69] Vgl. hierzu: Hernes 1987, S. 31.

[70] Hernes 1987, S. 27.

[71] Hernes 1987, S. 15 (Hervorhebungen von mir, A. S.).

[72] Langan/Ostner 1991, S. 308.

[73] Vgl. hierzu: Theobald 1999, S. 12f.

[74] Fraser, Nancy, Linda Gordon, Abhängigkeit im Sozialstaat. Genealogie eines Schlüsselbegriffs, in: Fraser 2001a, S. 180-220, S. 197.

[75] Langan und Ostner kritisieren weiterhin, dass die neuen Möglichkeiten für Frauen in den nordischen Staaten, sich mithilfe des Staates in der öffentlichen Sphäre der Gesellschaft zu betätigen, die „Frauenleben im Lebenslauf untereinander ungleicher“ werden lassen. Es wird nun befürchtet, dass dies „in Zukunft weibliche Solidarität schwächen“ wird. Erstens steht das Argument immanent im Widerspruch zu der etwas später geäußerten Hoffnung, dass „der Einschluß von Emigranten und allen anderen“ eine Diversität ermöglicht, „die auch die Option, nur Hausfrau und Mutter zu sein, zulassen würde“. (Langan/Ostner 1991, S. 309, Hervorhebung von mir, A. S.) Zweitens hat ‚weibliche Solidarität‘, unabhängig von gemeinsamen Sorgen und Problemen, die einem Individuum wegen seines ‚Frauseins‘ gesellschaftlich zugewiesen werden, keinen Wert aus sich selbst heraus: Die Annahme einer „Spaltung der Frauen“ unterstellt genuine Gemeinsamkeiten und geht fälschlicherweise von einem starken gemeinsamen feministischen Engagement der in der privaten Sphäre oft genug isolierten Hausfrauen und Mütter aus.

[76] Theobald 1999, S. 13.

[77] Hernes 1987, S. 28.

[78] Hierbei handelt es sich um die diskursive Praktik, die Menschen als aus zwei komplementären Geschlechtern bestehend zu konstruieren und dementsprechend den Rest der Welt ebenfalls vorwiegend in begrifflichen Gegensatzpaaren zu fassen: Natur-Kultur, öffentlich-privat usw. Diese Gegensatzpaare werden dabei üblicherweise in eine hierarchische Reihenfolge gebracht, in der das mit dem Weiblichen konnotierte regelmäßig die untergeordnete Stellung einnimmt. Eine gute Zusammenfassung von Derridas Definition von ‚Dekonstruktion’ bietet Scott: „Dekonstruktion bedeutet, im jeweiligen Kontext die Art und Weise aufzuarbeiten, in der jede binäre Opposition ihre hierarchische Konstruktion in Gang bringt, umstößt und verschiebt, statt sie als wirklich oder selbstverständlich oder in der Natur der Dinge liegend anzunehmen.“ (Scott 1988, S. 41, Übersetzung von mir, A.S.) Vgl. zur Debatte darüber, ob „binäre Oppositionen“ allein schon „diskriminierende Sprechakte“ sind: Nagl-Docekal, Herta, Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1999, S. 37-41.

[79] Löffler 2001.

[80] Löffler 2001, S. 27.

[81] Löffler 2001, S. 28.

[82] Langan/Ostner, 1991, S. 304 (Hervorhebung im Original, A. S.).

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Europäische Union, Geschlecht und Wohlfahrtsstaat
Untertitel
Eine Untersuchung der Europäischen Beschäftigungsstrategie 2003 unter besonderer Berücksichtigung ihrer gleichstellungspolitischen Konsequenzen
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,1
Autor
Jahr
2004
Seiten
102
Katalognummer
V38710
ISBN (eBook)
9783638376976
ISBN (Buch)
9783638715010
Dateigröße
879 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Europäische, Union, Geschlecht, Wohlfahrtsstaat
Arbeit zitieren
Aiga Stüber (Autor:in), 2004, Europäische Union, Geschlecht und Wohlfahrtsstaat, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38710

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