Logotherapie und Psychoanalyse im Dialog. Auf dem Weg zum Verständnis des menschlichen Verhaltens und Erlebens

Erkenntnistheoretische Ansätze nach Erich Fromm und Viktor Frankl


Diplomarbeit, 2017

169 Seiten, Note: 6.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

TEIL I – DIALOG ÜBER THEORETISCHE KONZEPTE

1 Erkenntnistheoretischer Einstieg – weltanschauliche Verzerrungen
1.1 Kulturell bedingte Verzerrungen von Theorien
1.2 Zeitgeist bedingte Verzerrungen von Theorien
1.2.1 Zeitgeist bedingte Verzerrungen der Freudschen Theorie
1.3 Methodisch bedingte Verzerrungen
1.3.1 Wahrnehmungspsychologische Überlegungen
1.3.2 Chance und Gefahren qualitativer Methoden
1.4 Fromms Kritik psychoanalytischer Verzerrungen
1.5 Frankls Kritik psychoanalytischer Verzerrungen
1.6 Objektivität in der Geisteswissenschaft

2 Existenzphilosophische Erkenntnisse über den Menschen
2.1 Die Bedingungen menschlicher Existenz: Instinktarmut und Selbst-Bewusstsein
2.2 Die metaphysischen Bedürfnisse der menschlichen Existenz
2.3 Die Lösungsmöglichkeiten menschlicher Existenz
2.3.1 Der Rahmen der Orientierung
2.3.2 Objekt(e) der Hingabe
2.4 Das systemische Prinzip der Noodynamik
2.5 Das Bild vom Menschen

3 Die menschliche Natur und noopsychophysische Gesundheit
3.1 Die Natur des Menschen – Potential und Aufgabe
3.2 Der Standpunkt eines normativen Gesundheitsverständnisses
3.3 Das Dilemma des Individuationsprozesses und die zwei Auswege
3.3.1 Integrität vs. Entfremdung
3.3.2 Rationale und irrationale Kräfte
3.3.3 Die sinnvolle bzw. produktive Orientierung
3.3.4 Die sinnwidrige bzw. nicht-produktive Orientierung
3.3.5 Sinnvolle/produktive vs. sinnwidrige/nicht-produktive Orientierung
3.4 Die Stimme des Gewissens
3.4.1 Schuldgefühle in der Psychotherapie
3.4.2 Was ist die Stimme des Gewissens?

Zusammenfassung Teil I

TEIL II – DIALOG ÜBER DIE PRAKTISCHE PSYCHOTHERAPIE

4 Der (trans-)therapeutische Auftrag
4.1 Das psychotherapeutische Grundprinzip – Bewusstmachen von Unbewusstem (Ressourcen und Defiziten)
4.1.1 Das psychoanalytisch Unbewusste – Affektlogische Erfahrung
4.1.2 Das geistig Unbewusste – Affektlogisches Verantwortungsbewusstsein
4.2 Transtherapeutische Wirksamkeit – Affektlogische Lebensform
4.3 Stärken und Grenzen der Psychoanalyse
4.4 Stärken und Grenzen der Logotherapie
4.5 Therapeutischer Wachstumsprozess - Entwicklung der Persönlichkeit

5 Die Bedeutung der (defizitorientierten) Psychoanalyse
5.1 Psychoanalyse als Methode zum Bewusstmachen unbewusster irrationaler Kräfte
5.2 Die Verdrängung irrationaler Kräfte
5.3 Die Rationalisierung irrationaler Kräfte
5.4 Der Widerstand gegen das Bewusstmachen irrationaler Kräfte
5.5 Der wahrnehmungsverzerrender Effekt irrationaler Kräfte – Die Übertragung
5.6 Wege und Methoden zur Aufdeckung und zum Verständnis unbewusster Kräfte

6 Die Bedeutung der (ressourcenorientierten) Existenzanalyse und Logotherapie
6.1 Existenzanalytischer Schwerpunkt: Bewusstmachen der geistigen Kräfte
6.2 Logotherapeutischer Schwerpunkt: Sinnwahrnehmung und Wertverwirklichung

7 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1-1: Kulturell bedingte Unterschiede im Denken

Abbildung 1-2: Aufnahmefähigkeit und bewusste Verarbeitung

Abbildung 1-3: Bordeau-Brief frankiert mit blauer und roter Maurtitius

Abbildung 2-1: Serielle Reproduktion eines komplexen Punktemusters

Abbildung 2-2: Resultate einer seriellen Reproduktion

Abbildung 2-3: Prinzip der Ganzheitlichkeit am Beispiel Stern und Viereck

Abbildung 2-4: Asch-Experiment: Beispiel sozialer Einflüsse

Abbildung 2-5: Zirkuläre Struktur zwischen Mensch und Mitwelt

Abbildung 2-6: Gesellschafts-Charakter

Abbildung 2-7: Yin und Yang Prinzip

Abbildung 2-8: Systemtheorie aus logotherapeutischer Sicht

Abbildung 3-1: Der indirekte Weg zum Glück

Abbildung 4-1: Logotherapeutischer und Psychoanalytischer Therapie-Schwerpunkt

Abbildung 4-2: Affektlogisches Erleben. Sapere Aude!

Abbildung 4-3: Transformationsprozess bei Charakterneurosen

Abbildung 6-1: Nur Licht kann Dunkelheit vertreiben

Kurzbeschreibung

Titel: Logotherapie und Psychoanalyse im Dialog

Verfasser: Patrick Lenherr

Ein umfassendes Verständnis des menschlichen Erlebens und Verhaltens bedarf anthropologi-scher Theorien, welche die Natur des Menschen in seiner Ganzheit und Komplexität erfassen. Erkenntnistheoretische Überlegungen sind dabei unerlässlich, um den menschlichen Bedürf-nissen und Kräften gerecht zu werden.

Auf der Grundlage eines existenz-analytischen Menschenbildes können sich auch vermeint-lich so unversöhnliche Theorien wie die tendenziell ressourcenorientierte Logotherapie („Ent-scheide dich selbst!“) und die eher defizitorientierte Psychoanalyse („Erkenne dein irrationa-les, illusionäres Selbst!“) in einem bereichernden Dialog begegnen.

Während die Logotherapie im therapeutischen Prozess v.a. unbewusste geistige Ressourcen wie das Freiheits- und Verantwortungsbewusstsein, Werte, die Stimme des Gewissens und sinnvolle Interessen bzw. Ziele bewusst macht, deckt die Psychoanalyse v.a. Defizite wie (in-dividuelle und gesellschaftliche) Verdrängungen, Rationalisierungen, Widerstände und Über-tragungen auf. Aus der Pädagogik wissen wir, dass man so Ressourcen-orientiert wie möglich und so Defizit-orientiert wie nötig arbeiten sollte.

Die Franklsche Logotherapie und die Frommsche Psychoanalyse sind miteinander kompati-bel, weil sie mit dem Postulat eines metaphysischen Bedürfnisses des Menschen über ein entscheidendes gemeinsames Element verfügen. Für beide Richtungen wird dadurch die Er-fahrung von Glück, Lebenszufrieden bzw. Sinn unter ganz bestimmten Bedingungen erfahr-bar. Aus einer ganzheitlich-systemischen Perspektive ergänzen sie einander in zweierlei Hin-sicht: Einerseits stärkt die Logotherapie im Allgemeinen eher die Ressourcen, wohingegen die Psychoanalyse ihr Augenmerk v.a. auf die Defizite und Widerstände legt. Beide Aspekte sol-len in einem therapeutischen Prozess Raum haben. Andererseits betont die Logotherapie sehr stark die Eigenverantwortung des Individuums. Fromm weist demgegenüber mit dem Gesell-schafts-Charakter auf wichtige gesellschaftliche Einflüsse hin. Insgesamt ermöglicht der Dia-log zwischen diesen beiden Theorien ein umfassenderes Verständnis des menschlichen Erle-bens und Verhaltens, als es eine Theorie für sich alleine vermag.

Danksagung

Ich möchte mich bei meinem Betreuer Arno Arquint für seine verständnisvolle Art, seine bedingungslose Unterstützung, die wohlwollende Kritik sowie die fachliche Begutachtung ganz herzlich bedanken.

Ein besonderer Dank geht an meinen Bruder Marc, welcher mir durch seine Fromm-Kenntnisse immer wieder wertvolle Inputs gegeben hat.

Ein grosser Dank geht nicht zuletzt an Giosch Albrecht, welcher das Institut für Logotherapie und Existenzanalyse in Chur gegründet und mir auf diese Weise überhaupt diese lebensberei-chernde Ausbildung möglich gemacht hat. Der Dank geht ebenso an all seine Nachfolger, die zur Aufrechterhaltung dieses Instituts beigetragen haben und noch dazu beitragen werden. Es ist zu hoffen, dass dieses wunderbare Institut noch lange existieren möge.

Einleitung

Kreative Wissenschaftler [...] erwarten alles andere eher als Gewissheit. Sie sind sich darü-ber klar, dass jede Hypothese über kurz oder lang durch eine andere ersetzt werden wird, die nicht unbedingt die erste negiert, sondern die sie modifiziert und erweitert.“

(E. Fromm: Sigmund Freuds Psychoanalyse – Grösse und Grenzen)

Die Logotherapie ist offen gegenüber ihrer eigenen Entwicklung und für eine Kooperation mit anderen Schulen.“

(V. Frankl: Im Anfang war der Sinn)

Die persönliche Faszination und der Grundstein für eine wissenschaftliche Auseinanderset-zung mit der Psychologie ist in meinem erkenntnisleitenden Interesse begründet. Dieses Inter-esse manifestiert sich in der folgenden Frage: Warum verhalten sich Menschen auf eine ganz bestimmte Art und Weise? Auf der Suche nach einer Erklärung auf diese Frage bin ich auf viele Theorien mit z.T. sehr unterschiedlichen Antworten gestossen. Bekanntlich stehen sich dabei die Psychoanalyse von Sigmund Freud sowie die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls nicht gerade nahe. Zu verschieden sind ihre Menschenbilder und den damit verbundenen Schlussfolgerungen in bezug auf das menschliche Erleben und Verhalten. Frankls Überlegungen haben mich dabei stets mehr überzeugt als diejenigen von Freud.

Im Zuge meiner privaten Lektüren bin ich irgendwann auf den Sozialpsychologen Erich Fromm gestossen, der die klassische Psychoanalyse Sigmund Freuds auf überzeugende Art und Weise revidiert und mit soziologischen Aspekten erweitert hat. Fromm selbst sieht sich nicht als Gründer einer neuen Schule, sondern als „ein Psychoanalytiker, der Freuds Theorie dadurch zu fördern versuchte, dass ich bestimmte Revisionen vornahm.“ (Fromm 1969a, S. 18).

In knappen Worten kann man Fromms Sichtweise wie folgt beschreiben: Er erachtet eine Re-vision der Freudschen Theorie als notwendig, weil sie für ein umfassendes Verständnis des Menschen zu eng gefasst ist. Im Mittelpunkt des Interesses der von Fromm revidierten Psy-choanalyse stehen nicht die Sexualität und die Triebe, sondern die besonderen Bedingungen der menschlichen Existenz: Der Mensch ist Teil der Natur und transzendiert sie gleichzeitig, weil er mit dem Bewusstsein seiner selbst begabt ist. Diese besonderen Bedingungen machen das Wesen des Menschen aus. Die den Menschen motivierenden Leidenschaften sind auf-grund dieses inhärenten Widerspruches in erster Linie nichts Physisches, kein physiologisches Substrat, also „nicht instinktiv-triebhaft, sondern eine ‚zweite Natur’ des Menschen“ (Fromm 1989, S. 440). Diese Ansicht kommt den Franklschen Aspekten des menschlichen Geistes und dem Willen zum Sinn verblüffend nahe, und deshalb sieht man, je länger man Fromms Bü-cher studiert, desto mehr Berührungspunkte zwischen der Logotherapie und der von Fromm revidierten Psychoanalyse.

Mit Hilfe Erich Fromms Überlegungen, die auf empirischen Beobachtungen gründen, lässt sich ein grosser Konsens zwischen den vermeintlich unversöhnlichen Schulen der Höhen- (Logotherapie) und Tiefenpsychologie (Psychoanalyse) herstellen. Die Übereinstimmungen stehen und fallen jedoch mit dem „Wechsel des philosophischen Hintergrundes von einem mechanistischen Materialismus [...] zur Phänomenologie und zur Existenzphilosophie“ (Fromm 1969b, S. 27). Fromm hat eine psychoanalytische Theorie entworfen, welche die exi-stentiellen Bedingungen des Menschen über die triebhaften Bedürfnisse stellt. Dieser Wechsel bewirkt eine revidierte Vorstellung vom Menschen: „Anstelle eines isolierten und erst sekun-där sozialen homme machine ist der Mensch primär als soziales Wesen zu sehen. Es gibt den Menschen nicht anders denn als bezogenes Wesen, dessen Leidenschaften und Strebungen in den Bedingungen seiner menschlichen Existenz wurzeln.“ (ebd., S. 28).

Mit Hilfe dieser Revision stösst ein Dialog zwischen einer an der conditio humana orien-tierten Psychoanalyse und der Logotherapie und Existenzanalyse auf sehr fruchtbaren Boden. Diese neue Verbundenheit ermöglicht eine Erweiterung des Blickfeldes, denn wie überall sonst auch sehen verschiedene Auffassungen zusammengenommen mehr als eine einzelne für sich. Allein deshalb sollte immer schon ein Bestreben vorhanden sein, verschiedene Theorien miteinander in einen Dialog treten zu lassen. Eine solche Auseinandersetzung bedingt jedoch, dass alle Seiten offen aufeinander zugehen und ernsthaft bemüht sind, zu hören, was die je-weils andere Seite zu sagen hat.

Eine solche Konfrontation wird unweigerlich viel Verunsicherung, Zweifel und Ängste aus-lösen. Luc Ciompi führt dies darauf zurück, dass alle revolutionären Entdeckungen – von Kepler und Galilei über Darwin bis zu Freud und Einstein – emotional zu tiefgehenden Um-stellungen zwingen, denn neben der Destabilisierung rein geistiger Begriffsgebäude sind die Umstellungen „oft auch mit schweren persönlichen Identitätskrisen sowie Macht- und Presti-geverlust verbunden. In jedem Fall bedeuten sie [...] Unruhe und enormen Energieaufwand“ (Ciompi 1997, S. 109f.).

Wenn man trotz allem bereit ist, sich auf neue Sichtweisen einzulassen, gewinnt man zweier-lei: Einerseits gewinnt man an Selbsterkenntnis. Man lernt in einem solchen Prozess viel über sich selbst, über seine eigenen Vorstellungen, Voreingenommenheiten, Wünsche und Ängste. Andererseits gewinnt man als Resultat dieser Dialogbereitschaft neue Erkenntnisse, die in einer revidierten bzw. erweiterten Theorie von der menschlichen Natur zum Ausdruck kom-men. Solche neuen theoretischen Erkenntnisse sind für jeden Psychotherapeuten[1] von un-schätzbarem Wert, weil jeder Therapeut letztlich auf der Grundlage einer bestimmten Theorie Menschen therapeutisch begleitet. Umso entscheidender ist es, auf ein theoretisches Konstrukt zurückzugreifen, welches dem Menschen als ganzem Mensch gerecht wird.

TEIL I – DIALOG ÜBER THEORETISCHE KONZEPTE

Im ersten Teil der Arbeit stehen die theoretischen Grundlagen der Logotherapie sowie der Psychoanalyse im Zentrum. Um den kritischen Blick für die beiden Theorien zu schärfen, werden als Einstieg wichtige erkenntnistheoretische Überlegungen dargelegt. Im Anschluss daran werden die Menschenbilder der beiden Ausrichtungen ausführlich analysiert und not-wendige Korrekturen an den bestehenden Konzepten vorgenommen. Dieses Vorgehen ist äusserst evident, legt es doch den Grundstein für ein möglichst umfassendes Verständnis vom Menschen. Die gewonnen Erkenntnisse über das Wesen des Menschen lassen schliesslich re-lativ konkrete Aussagen über lebensfördernde bzw. -hinderliche Verhaltensweisen mit ent-sprechenden Auswirkungen auf die noopsychophysische Gesundheit zu.

1 Erkenntnistheoretischer Einstieg – weltanschauliche Verzerrungen

Jede Therapie ist ‚Weltanschauung’. Ich möchte sagen: Jede Psychotherapie basiert auf anthropologischen Prämissen – oder, wenn sie nicht bewusst sind, auf anthropologischen Implikationen.“

(V. Frankl: Das Leiden am sinnlosen Leben)

Gewöhnlich sind sich die Menschen nicht bewusst, dass sie eine bestimmte Philosophie haben. Psychoanalytiker nehmen gern an, ihr Verfahren sei ‚wissenschaftlich’, es handle sich dabei um eine Technik, die sich rein objektiv entwickelt habe und die sie dann unabhängig von persönlichen Meinungen und Werturteilen verfolgten. “ Tatsache ist: „ Ein psychologisches System wurzelt in bestimmten weltanschaulichen Voraussetzungen.“

(E. Fromm: Die Sozialphilosophie der „Willenstherapie“ Otto Ranks)

Die Erkenntnistheorie befasst sich mit der Frage nach den Voraussetzungen einer wissen-schaftlichen Erkenntnisgewinnung. Im Allgemeinen wird die wissenschaftliche Forschung (und somit auch eine wissenschaftliche Theorie) mit dem Anspruch objektiver, d.h. überper-sönlicher Gültigkeit verbunden. Mit anderen Worten, eine wissenschaftliche Theorie sollte in-tersubjektiv nachprüfbare und nachvollziehbare Aussagen über einen bestimmten Sachverhalt widergeben. Daraus ergibt sich die Forderung, dass „der weltanschauliche, gesellschaftliche oder politische Standpunkt des betreffenden Wissenschaftlers seine Ergebnisse oder seine Methode nicht beeinflusst“ (Fromm 1939, S. 97). Diesem erkenntnistheoretischen Anspruch kann man jedoch in der Psychotherapie nicht gerecht werden, denn die Psychotherapie wird u.a. von den Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft bzw. deren philosophischen und ethi-schen Richtlinien beeinflusst. Ziele und Methoden der Psychotherapie hängen aber auch von den weltanschaulichen bzw. religiösen, politischen, und gesellschaftlichen Auffassungen des Psychotherapeuten ab. Seine Ansichten, was unter seelischer Gesundheit zu verstehen, was das Ziel der psychotherapeutischen Behandlung und welche Methode angemessen ist, hängen „davon ab, was nach Überzeugung des Therapeuten für den Menschen ‚am besten’ ist“ (Fromm ebd., S. 97). So kann Gesundheit im psychotherapeutischen Kontext die völlige Anpassung an die Regeln unserer Gesellschaft bedeuten, wie sie in der Fähigkeit zum Geld-verdienen zum Ausdruck kommt. Stattdessen kann Gesundheit aber auch dadurch definiert werden, dass der Klient seine Spontaneität und innere Freiheit zurückgewinnen soll. Es ist nun einmal eine Frage der persönlichen Weltanschauung, ob man glaubt, „dass das menschli-che Glück im spontanen Ausdruck seiner selbst besteht und von innerer Freiheit und Aktivität untrennbar ist, oder ob man glaubt, Erfolg und Anpassung seien die Lebensziele, welche die Psychotherapie den Menschen wieder zugänglich machen solle“ (ebd., S. 98). Im therapeuti-schen Prozess haben diese beiden sehr unterschiedlichen (un)bewussten Vorstellungen von Gesundheit weitreichende Folgen. Z.B. wird ein Therapeut mit einem humanistischen Ideal[2] sich weigern, einen Manager mit Depressionen zu therapieren, dessen einziges Ziel es ist, wieder arbeitsfähig zu werden, um Boni in Millionenhöhe abkassieren zu können. Dies aus der Überlegung bzw. Überzeugung heraus, dass eben gerade diese Lebensführung den Klien-ten überhaupt erst depressiv werden lässt. Er wird, wenn er nicht von Anfang an abwinkt, allenfalls dem Klienten aufzuzeigen versuchen, dass er anstelle ökonomisch dominierender Werte (reich werden, um konsumieren zu können) humanistische Werte (wie z.B. die Wah-rung der Integrität) verwirklichen muss, wenn er wirklich gesund bzw. glücklich werden will.

Wenn man dieses Fallbeispiel abstrahiert, kommt man zu der Einsicht, dass der Mensch auf-grund seiner Sonderstellung[3] gezwungen ist, die Fragen, die das Leben stellt, auf der Basis bewusster und unbewusster Prämissen zu beantworten. Dieser Ver antwortung sprozess ist uni-versell und höchst individuell zugleich. Universell ist er in dem Sinne, dass jeder Mensch auf der Grundlage von Prämissen sein Leben bewältigt. Individuell ist er in dem Sinne, dass jeder Mensch diese Prämissen auf je persönliche Art und Weise entwickelt. Dies ist darauf zurück-zuführen, dass die Prämissen sehr eng mit der eigenen Biografie verknüpft sind.

Anhand des oben dargelegten Fallbeispiels wurde aufgezeigt, dass persönliche Annahmen und Vorstellungen unumstösslich als anthropologische Prämissen bzw. als anthropologische Implikationen (wenn die Annahmen nicht bewusst sind) in wissenschaftliche Theorien und psychotherapeutische Behandlungskonzepte einfliessen. Man kann daher ein psychologisches oder psychotherapeutisches Konzept nicht einordnen bzw. beurteilen, „wenn man die sozial-philosophischen Anschauungen nicht berücksichtigt, auf deren Grundlage es errichtet wurde“ (Fromm 1959a, S. 207).

Wenn man verschiedene Theorien vom Menschen miteinander vergleicht, stellt man fest, dass diese z.T. sehr unterschiedlich und nach einer ganz eigenen Logik aufgebaut sind. Dies ist, wie Fromm (1992a) aufzeigt, u.a. darauf zurückzuführen, dass die Prämissen der einzelnen Theorien wesentlich durch die jeweilige Kultur und Epoche geprägt werden. Dies hat zur Folge, dass für eine Gesellschaft jeweils nicht nur bestimmte Gedanken inhalte, sondern auch bestimmte Gedanken kategorien un-denkbar sind. In den folgenden Kapiteln sollen nun ver-schiedene Beispiel darlegen, wie es zu weltanschaulichen Verzerrungen kommen kann und dass sie z.T. sogar unumgänglich sind. Je mehr man für diese Problematik sensibilisiert ist, desto mehr wird man versuchen, seine eigenen Theorien möglichst differenziert zu analysie-ren und, falls nötig, zu modifizieren.

1.1 Kulturell bedingte Verzerrungen von Theorien

Kulturell bedingte Unterschiede im Denken lassen sich sehr einfach aufzeigen. Z. B. ist die aristotelische Logik vom Standpunkt der paradoxen Logik des Ostens aus gesehen undenk-bar. Suzuki (1960) hat diesen grundlegenden, kulturell bedingten Unterschied im Denken ein-drücklich dargelegt, indem er die Gedichte des westlichen Dichters Tennyson und des östli-chen Dichters Basho analysierte. Die beiden Gedichte beschreiben den Anblick einer Blume (links Tennyson, rechts Basho):

Abbildung 1-1: Kulturell bedingte Unterschiede im Denken (Suzuki 1960)

Der westlichen analytisch-logischen Denkweise steht die östliche holistisch-intuitive gegen-über. Diese Unterschiede zwischen dem westlichen und östlichen Denken konnten von Masu-da & Nisbett (2001) in wissenschaftlichen Studien bestätigt werden.

1.2 Zeitgeist bedingte Verzerrungen von Theorien

In bezug auf die epochalen Unterschiede verweist Fromm (1992a) darauf, dass vom Stand-punkt des mittelalterlichen Denkens aus gesehen ein postmoderner, atheistischer Standpunkt undenkbar ist. Und was un-denkbar ist, ist oft auch un-sagbar: Weil im europäischen Mittel-alter die Vorstellung einer Welt ohne Gott undenkbar war, konnte ein Wort wie „Atheismus“ genauso wenig existieren wie das Wort „haben“ in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft existiert. Es gibt tatsächliche viele Sprachen, die das Wort „haben“ nicht kennen. Erst mit dem Aufkommen des Privateigentums durch die Entwicklung einer kapitalistischen Gesell-schaft hat sich eine Vorstellung von „haben“ ergeben.

Aus diesen Überlegungen folgt die Einsicht, dass der Denker zu einem sehr grossen Teil im Sinne der Logik, der Gedankenmodelle und der ausdrückbaren Vorstellungen seiner Kultur denkt, dass er also „seine neuen Gedanken im Geist seiner Zeit ausdrücken muss.“, weil „jede Gesellschaft ihren eigenen ‚gesellschaftlichen Filter’ besitzt, der nur für bestimmte Ideen, Be-griffe und Erfahrungen durchlässig ist“ (Fromm 1979, S. 263). Als Konsequenz daraus sind wissenschaftliche Theorien oft eine Mischung aus etwas wirklich revolutionär Neuem und den konventionellen Denkkategorien. Da aber dem Denker die konventionellen Gedanken sei-ner Kultur i.d.R. nicht bewusst bzw. durchschaubar sind, kann er nicht unterscheiden zwi-schen dem, was an seinem Denken revolutionär und was rein konventionelles Gedankengut ist. Fromm betont, dass daher „erst im historischen Prozess, wenn sich gesellschaftliche Veränderungen in den Veränderungen der Denkmodelle spiegeln, offenbar wird, was am Denken eines kreativen Denkers wirklich neu war und bis zu welchem Grad sein System lediglich ein Spiegelbild des herkömmlichen Denkens ist“ (ebd. S. 265).

Die Einordnung einer wissenschaftlichen Theorie bedarf demnach der genauen Analyse und Revision der zeitbedingten Elemente bzw. Denkkategorien. Hierbei behalten jene Elemente ihre Gültigkeit, welche die Theorie von den Fesseln eines früheren konventionellen Denkens befreit haben. Die nachweislich zeitbedingten Elemente hingegen verlieren ihren Anspruch auf Gültigkeit, sobald sie als solche erkannt wurden. In diesem Sinne ist jede wissenschaft-liche Theorie nur als vorläufig „richtige“ Theorie zu betrachten, was auf die Idee eines Kriti-schen Rationalismus von Karl Popper (2005) hinausläuft, nach der sich die Wissenschaft der Wahrheit immer ein Stück weit annähert. Der Wissenschaftler muss mit dieser Ungewissheit und Fehlerhaftigkeit umgehen können. Er muss sich dessen bewusst sein und es ertragen können, dass er nicht zu einem endgültigen bzw. absoluten Resultat vorgedrungen ist. Wis-senschaftliches Arbeiten wird demnach charakterisiert durch das systematische Überarbeiten bisheriger Lösungsansätzen. Die neuen Ideen müssen zu diesem Zweck empirisch überprüf-bar und falsifizierbar bzw. revidierbar sein, denn nur so können zeitbedingte Verzerrungen und Fehlbarkeiten korrigiert werden. Eine Theorie, die kritikresistente Thesen aufbaut, kann keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben.

1.2.1 Zeitgeist bedingte Verzerrungen der Freudschen Theorie

Wenn man nun die im obigen Abschnitt dargelegten Überlegungen auf die Theorien Freuds anwendet, gilt es herauszuarbeiten, bis zu welchem Grad seine Entdeckungen neu waren, und bis zu welchem Grad er sie – geprägt vom Geist seiner Zeit – auf entstellte Weise ausdrücken musste. Dabei ist es lohnenswert, sich auf Fromm zu stützen, denn wie kaum ein zweiter hat er die Grösse und die Grenzen des Freudschen Konzepts dargelegt. Für ihn ist die Revision einer Theorie „ein normaler Prozess innerhalb der Wissenschaft“. Somit lautet die Frage nicht, „ob oder ob nicht revidiert werden soll, sondern was revidiert wird und in welche Rich-tung die Revision führt“ (Fromm 1969b, S. 21). Fromms grosses Verdienst besteht darin, dass er aufgezeigt hat, warum und in welcher Weise Freuds Denken nicht über das bürgerliche Vorstellungsvermögen des 19. Jahrhunderts hinausging und dadurch seine Entdeckungen ein gutes Stück eingeschränkt blieben.

Da die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts sich den Menschen primär als isoliertes und selbst-genügsames Wesen vorstellte, sah auch Freud den Menschen primär als „geschlossenes Sys-tem, das von zwei Kräften angetrieben wird: den Selbsterhaltungs- und den Sexualtrieben“ (Fromm 1970a, S. 231). Demnach zeichnete Freud ein Bild vom Menschen als „isoliertes Wesen, dessen Primäres Interesse der optimalen Befriedigung seines Ichs und seiner libidinösen Wünsche gilt. Freuds Mensch ist der physiologisch angetriebene und motivierte homme machine “ (ebd., S. 231). Die Reduzierung der libidinösen Spannung wirkt dabei als eigentlicher Regulator, weshalb der Mensch „nur sekundär in Beziehung zu anderen hineingezwungen oder zu ihnen verführt“ (ebd., S. 232) wird. Zur gegenseitigen Befriedigung ihrer libidinösen Bedürfnisse kommen Mann und Frau zusammen, ihrem Wesen nach bleiben sie jedoch isolierte Einzelwesen.

Fromm (1970a) liefert eine Erklärung, weshalb Freud nicht in der Lage war, das in seiner Ge-sellschaft vorherrschende Menschenbild zu überschreiten. Freud stand als Schüler unter dem Einfluss des Physiologen Ernst Wilhelm von Brücke, der zu den rigorosen Repräsentanten eines mechanistischen Materialismus zählte. Diese Form des Materialismus gründete auf dem Prinzip, „dass alle psychischen Phänomene ihre Wurzeln in physiologischen Prozessen haben, und dass sie hinreichend erklärt und verstanden werden können, wenn man diese Wurzeln kennt“ (ebd., S. 232). Der Mensch gleicht diesem Verständnis nach einer Maschine, „die durch chemische Vorgänge angetrieben wird“ (Fromm 1979, S. 342), wodurch sämtliche Ge-fühle und Affekte „durch spezifische und identifizierbare physiologische Prozesse “ (ebd., S. 342) erklärt werden können. Diese Sichtweise engte das Vorstellungsvermögen Freuds so stark ein, dass für ihn nur eines denkbar war, wenn er die menschlichen Leidenschaften ver-stehen wollte: all die Leidenschaften mussten der Ausdruck des Substrats der Sexualität sein. Mit der Sexualität hatte er zudem eine Kraft, „die offensichtlich gleichzeitig physiologisch und psychologisch eine Rolle spielte“ (Fromm 1992a, S. 372). In dieser Denkkategorie ver-haftet, war für den Begründer der Psychoanalyse somit „un-denkbar, dass es psychische Kräf-te geben soll, die nicht direkt aus der Physiologie des Menschen zu erklären sind“ (ebd., S. 372). Und so kam Freud nicht darum herum, alle Bedürfnisse und Interessen, für die er keine somatische Quelle nachweisen konnte, zu ignorieren.

Ein weiteres Beispiel für Freuds „gesellschaftlich bedingte Fehlerhaftigkeit“ (Fromm 1992a, S. 272) in seinem Denken liefert seine Überzeugung, dass eine nicht-autoritäre patriarchali-sche Gesellschaft undenkbar war. Über Stuart Mill, der ein Anhänger der Gleichberechtigung der Frauen war, schrieb Freud (1960, S. 73) in einem Brief, dass dieser in diesem Punkt ein-fach verrückt sei. Es war für Freud unerklärlich, wie jemand nur denken könne, dass die Frau dem Mann gleichgestellt sei.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass Freuds Triebkonzept dem Prinzip des materia-listisch-mechanistischen Denkens folgt. Mit dieser Denkkategorie war Freud definitiv ein Kind seiner Zeit, und dessen war er sich offenbar auch irgendwie bewusst, als er schrieb: „So kann ich denn, rückschauend auf das Stückwerk meiner Lebensarbeit, sagen, dass ich [...] manche Anregungen ausgeteilt habe, woraus denn in der Zukunft etwas werden soll. Ich kann selbst nicht wissen, ob es viel sein wird oder wenig. Aber ich darf die Hoffnung aussprechen, dass ich für einen wichtigen Fortschritt in unserer Erkenntnis den Weg eröffnet habe.“ (Freud, 1925, S. 96) Fromm ist der Meinung, dass Freuds Triebtheorie trotz ihrer gesellschaftlichen Determinanten ein bedeutender Beitrag zum Modell des Menschen bleibt: „Selbst wenn die Libidotheorie als solche nicht richtig ist, so ist sie doch symbolischer Ausdruck eines umfas-senden Phänomens: dass menschliches Verhalten das Produkt von Kräften ist, die, obgleich im allgemeinen als solche unbewusst, den Menschen motivieren, antreiben und in Konflikte stürzen“ (Fromm 1970a, S. 233). Frankl (Frankl & Kreuzer 1982) teilt diese Auffassung und betonte stets, dass das wesentliche Element in der Psychotherapie das Bewusstmachen von Unbewusstem ist und bleibt.

1.3 Methodisch bedingte Verzerrungen

Neben den kulturell und Zeitgeist bedingten Verzerrungen darf eine weitere Schwierigkeit im psychotherapeutischen Kontext nicht verschwiegen werden. Sie betrifft das Verständnis von Wissenschaftlichkeit bzw. die Anwendung wissenschaftlicher Methoden sowie irregeleitete Deutungsversuche.

Wenn man zu einem wissenschaftlichen Verständnis des einzelnen Menschen gelangen will, muss man sich zuerst einmal der Tatsache bewusst werden, dass „die Daten, welche wir bei dieser Untersuchung erhalten, „anderer Art sind als die, welche wir bei anderen wissenschaft-lichen Untersuchungen gewinnen“ (Fromm 1979, S. 272). Mit anderen Worten, quantitative Prinzipien der wissenschaftlichen Methode – also Objektivität, genaue Beobachtung, Hypo-thesenbildung und deren Revision durch die weitere Untersuchung von Tatsachen – lassen sich nicht auf alle Gegenstände wissenschaftlichen Denkens in der gleichen Weise anwenden. Mit einem solchen Vorgehen würde man nicht zu einem Verständnis des Menschen als Sub-jekt gelangen. Dies deshalb, weil der Menschen, der die Welt immer schon interpretiert, einer Erfahrung eine je subjektive Bedeutung beimisst. So ist beispielsweise ein Wort nicht schlechthin ein Wort ist, sondern ein Wort ist das, was es für den Menschen, der es gebraucht, bedeutet. Die subjekt- und kontextabhängige Generierung von Bedeutung kann anhand einer lapidaren Feststellung wie „es regnet“ aufgezeigt werden. Für den Landwirt, der seit Wochen auf Regen wartet, bedeutet diese objektive Feststellung etwas ganz anderes als für den Tou-risten, der eine Stadtrundfahrt geplant hat oder für den Pöstler, der die Zeitungen austragen muss. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass „die Wörterbuch-Bedeutung eines Wortes eine Ab-straktion ist, verglichen mit der wirklichen Bedeutung, die dieses Wort für den hat, der es aus-spricht“ (ebd., S. 272). Wörter wie Liebe, Glaube, Hoffnung, Mut oder Hass haben für jeden eine völlig andere Bedeutung. Ein Wort kann sogar für dieselbe Person nach 10 Jahren eine neue Bedeutung haben, weil sie sich inzwischen selbst verändert hat. Dies hat zur Konse-quenz, dass psychotherapeutische Verfahren einer qualitativen Vorgehensweise bedürfen, also eines „verstehenden, historischen, einzelfallorientierten Denkens, das auf die Differenzie-rung spezifischer praktischer Regeln statt allgemein gültiger Naturgesetze abzielt“ (Mayring 2002, S. 13). Diese Forderung nach qualitativen Forschungsmethoden lässt sich damit legiti-mieren, weil alles vom Menschen Hervorgebrachte immer mit sinnhafter Bedeutungsgenerie-rung verbunden ist, und „eine Analyse der nur äusserlichen Charakteristika nicht weiter führt, wenn man nicht diesen subjektiven Sinn interpretativ herauskristallisieren kann“ (ebd., S. 14).

Die subjektive Komponente menschlicher Erfahrungen mit der damit einhergehenden Not-wendigkeit qualitativer Methoden kann am folgenden Beispiel verdeutlicht werden: Ange-nommen ein Therapeut hätte zwei Klienten nacheinander in der Sprechstunde, die beide den-selben Traum gehabt hätten, so müsste er davon ausgehen, dass die zwei inhaltlich gleichen Träume für die beiden Klienten sehr unterschiedliche Bedeutung hätten. D.h. der Therapeut muss im Gespräch mit den beiden stets bemüht sein, jede Äusserung nicht „als gegeben hin-zunehmen, sondern sich stets zu fragen, was dieses besondere Wort [oder diese besondere Geste oder dieses besondere Symptom] in diesem besonderen Augenblick und in diesem be-sonderen Zusammenhang für diesen besonderen Menschen bedeutet“ (ebd., S. 273).

Da die Bedeutungsgenerierung im psychologischen und insbesondere im psychotherapeuti-schen Kontext eine so zentrale Rolle spielt, wird dieses Phänomen mit Hilfe der Wahrneh-mungspsychologie im folgenden Unterkapitel etwas genauer dargelegt.

1.3.1 Wahrnehmungspsychologische Überlegungen

Eine wichtige Erkenntnis aus der Wahrnehmungspsychologie betrifft die Informationsaufnah-me. Der Mensch kann nur eine kleine Menge der auf ihn einströmenden Reize bewusst wahr-nehmen (Kapazität von 7 plusminus 2 Sinn-Einheiten). Der grösste Teil der einströmenden sensorischen Reize wird darum mehr oder weniger effektiv ausgeblendet. Diese „blinden Flecken“ sind im Alltagsleben sehr stark verbreitet, aber eben auch lebensdienlich, weil sie den Menschen vor einer Überflutung bzw. Überforderung durch Reize schützen. Wie viele Informationen im Wahrnehmungsprozess verloren gehen, zeigt folgende Abbildung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1-2: Aufnahmefähigkeit und bewusste Verarbeitung (Willems 2003, S. 11)

Die Darstellung zeigt eine enorme Diskrepanz zwischen der Menge an eintretenden Reizen und der im Gegensatz dazu sehr geringen Verarbeitungskapazität des Gehirns. Würde der Mensch alles registrieren, was um ihn herum vorgeht, wäre er komplett überfordert.

Eine weitere Erkenntnis aus der Wahrnehmungspsychologie betrifft die Informationsverarbei-tung. Wie wir im vorherigen Kapitel an den Beispielen der Wörter und des Traumes gesehen haben, reagiert eine Person eben nicht allein auf einen sensorischen Reiz (wie beispielsweise physikalische Schwingungen der Luft), sondern auf die Bedeutung, welche die Person diesem Reiz zuordnet. Mit dieser Feststellung entpuppt sich der Mensch als „sinnkonstituierendes System“ (Siebert 2008), das den Gegenständen und Ereignissen Bedeutungen beimisst. Mit anderen Worten, jeder einzelne Mensch hat einen ganz individuellen Bezugsrahmen, aus dem heraus er „der Welt, anderen Menschen und letztlich sich selbst Sinn stiftend und Stellung nehmend begegnet“ (Kriz 2004, S. 16). Die Generierung von Bedeutung und Sinn erfolgt da-bei auf der Basis der eigenen Systemgeschichte, d.h. das Individuum orientiert sich an seinen eigenen (unbewussten) Wertemassstäben und Referenzsystemen, die sich in Laufe des Lebens erfahrungsbedingt entwickelt haben. Wir können daher festhalten: Der Mensch denkt, fühlt und handelt im Rahmen erlebter und gelernter Strukturen, und aufgrund der biografisch verankerten Referenzsysteme können Bedeutungen auch nicht auf Mitmenschen übertragen werden.

Watzlawick (2006) hat die Bedeutung der personalen Ebene anhand der Unterscheidung zwi-schen einer „Wirklichkeit 1. und 2. Ordnung“ dargelegt. Die Wirklichkeit 1. Ordnung wäre demnach „das Universum aller ‚Tatsachen’“ (ebd., S. 218). Hierunter fallen alle Gesetzmäs-sigkeiten wie beispielsweise der freie Fall. Es gibt aber noch eine Wirklichkeit ausserhalb der naturwissenschaftlichen Fakten. Watzlawick nennt es die Wirklichkeit 2. Ordnung. Es ist „jener Aspekt der Wirklichkeit, durch den den Fakten der 1. Ordnung Sinn, Bedeutung und Wert zugeschrieben werden.“ (ebd., S. 219). Diese Unterscheidung kann am Beispiel von Briefmarken demonstriert werden.

[Bordeau-Brief frankiert mit blauer und roter Maurtitius]

Abbildung 1-3: Bordeau-Brief frankiert mit blauer und roter Maurtitius

Der in Abbildung 1-3 gezeigte Brief stellt für einen Laien ein Couvert mit zwei Briefmarken dar. Bei den zwei Briefmarken (= Wirklichkeit 1. Ordnung) handelt es sich aber um die wohl berühmtesten Briefmarken der Welt: die blaue und rote Mauritius (= Wirklichkeit 2. Ord-nung). Dies ist der Grund, weshalb dieser „Bordeaux-Brief“ 1993 für über 6 Millionen Schweizer Franken versteigert wurde.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass „Primärprozesse“ durch „Sekundärprozesse“ (vgl. Neisser 1979) weiter verarbeitet werden. Dies führt dazu, dass die Bedeutung und der Wert der blauen und roten Mauritius absolut nichts mit der physikalischen Beschaffenheit der Briefmarken zu tun haben, wobei die Bedeutungsgenerierung – und das ist entscheidend – auf personaler Ebe-ne erfolgt und damit individuell sehr unterschiedlich sein kann. D.h. wir können über das Kul-turwesen Mensch folgendes sagen: Wir wissen, dass er Bedeutung generiert, aber wir können nicht sagen, welche Bedeutung generiert wird. Dies ist darauf zurückzuführen, dass für den Menschen Gegenstände, Mitmenschen und Ereignisse prinzipiell deutungsoffen sind.

Wie lassen sich diese empirisch feststellbaren Tatsachen physiologisch erklären? Die Kogni-tionspsychologie liefert mit ihrem Bottom-up/Top-down-Konzept einen überzeugenden An-satz. Es leitet die menschliche Deutungsgenerierung aus der Architektur des Gehirns ab: die datengesteuerte, d.h. durch Sinnesorgane in Gang gesetzte Aufnahme sensorischer Reize (der sog. Bottom-up-Prozess) ist mit konzept- oder strategiegeleiteten Prozessen (dem sog. Top-down-Prozess) gekoppelt. Diese Verbindung von sensorischen Reizen mit kognitiven Prozes-sen kann mit anatomischen Fakten belegt werden: Das menschliche Gehirn besteht aus ca. 100 Milliarden Nervenzellen. Dabei wird unterschieden zwischen eingehenden, d.h. afferen-ten Nervenzellen (= Bahnen von peripher nach zentral) sowie solchen Nervenzellen, die mit der systeminternen Reizverarbeitung befasst sind. Schätzungen zufolge steht der Anteil von Afferenz: innere Verarbeitung bei ca. 1 : 100'000. Dies bedeutet, dass eine externe Erregung zusammen mit 100'000 internen Erregungen verarbeitet wird. Daraus lässt sich schliessen, dass die Verarbeitung externer Reize geringfügig ist im Vergleich zu den internen Prozessen. Zwischen den systeminternen Nervenzellen bzw. netzwerkartigen Zellverbänden bestehen hochkomplexe Feedbackmechanismen mit erregenden und hemmenden Effekten. Aufgrund seiner hochgradigen Binnenverdrahtung – es bestehen bis zu 10'000 synaptische Verbin-dungen eines Neurons zu anderen Neuronen, insgesamt ca. 100 bis 500 Billionen Synapsen – beschäftigt sich das Gehirn sozusagen wesentlich mit sich selbst. Es „ist eine Vielzahl von kommunikativen Schleifen zwischen den Einheiten und Teilstrukturen des Gehirns angelegt, welche efferente und afferente, aktivierende und inhibierende Bottom-up- und Top-down-Verbindungen ermöglichen.“ (Haken & Schiepek 2006, S. 59).[4]

Das Bottom-up/Top-down-Konzept zeigt auf, wie sensorische Reize mit Bedeutung angerei-chert werden und verdeutlicht eindringlich, dass wenn wir menschliches Erleben und Verhal-ten verstehen wollen, „notwendig die innenweltliche, subjekt-bedeutsame Perspektive mit einbezogen werden muss“ (Kriz 2012, S. 28). Mit einer rein naturwissenschaftlichen Be-trachtungsweise lässt sich das psychische Geschehen nicht verstehen. Kriz (2012a) zeigt diese Tatsache am Beispiel einer Ansammlung von Steinen auf, die mit geologischen Fragestellun-gen und naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden, bis die Wissenschaftler reali-sieren, dass es sich bei den Kerbungen auf den Steinen um Zeichen handelt. Mit einem Schlag verlagert sich dadurch das Interesse von der naturwissenschaftlichen auf die geisteswissen-schaftliche Seite: im Fokus stehen plötzlich die Intentionen menschlicher Handlungen. An-stelle der Ursachen werden die Gründe für die Kerbungen auf den Steinen von Bedeutung.

Insgesamt werden jene Reize weiter verarbeitet und zu „Information“ transformiert, welche für einen Menschen aktuell von Bedeutung sind. Grawe & Caspar (2012) haben Grundbedürf-nisse evaluiert, die im Wahrnehmungsprozess eine wichtige Rolle spielen, nämlich

- das Streben nach Konsistenz
- das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle,
- das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung,
- das Bindungsbedürfnis und
- das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz.

Das Streben nach Konsistenz ist ein sehr zentrales Grundbedürfnis, denn Konsistenzbildung macht das Leben grundsätzlich planbarer, prognostizierbarer und damit sicherer. Aufgaben, Ziele und Motive werden letztlich immer in einen sinnvollen Kontext gestellt.

1.3.2 Chance und Gefahren qualitativer Methoden

Den obigen Überlegungen folgend kommt der Therapeut nicht darum herum, die mensch-lichen Erfahrungen zumindest im psychotherapeutischen Kontext subjektspezifisch zu deuten, wenn er den Klienten in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit mitsamt seiner psychisch bedingten Störung verstehen will. So kann z.B. der Tod einer nahe stehenden Person viel Trauer über den Verlust auslösen oder aber den Klienten mit dem eigenen Tod konfrontieren, was in Todesängsten mit Panikattacken zum Ausdruck kommen kann. Im therapeutischen Prozess ist es Aufgabe des Therapeuten, diese unterschiedlichen unbewussten subjektspezifi-schen Empfindungen bewusst werden zu lassen.

Auch Frankl hat die subjektive Komponente in der Psychotherapie betont. Niemals dürfe die Existenzanalyse, wenn sie den Menschen zum „Objekt“ etwa einer Psychotherapie mache, den Subjektcharakter des Menschen ignorieren. Im Gegenteil, „sie ist Ko-‚operation’ mit dem Subjekt! Sie muss den Menschen – schon ex definitione! – als ‚existentielles’ Wesen fassen, und mit dem Subjektcharakter muss sie ihm als sein Wesen die Freiheit und die Verantwor-tung belassen; ja, viel mehr als dies: sie muss ihm Freiheit und Verantwortlichkeit allererst verschaffen. Denn dann und nur dann wird sie an seine Verantwortlichkeit auch appellieren können. Dazu aber ist sie da.“ (Frankl 1972, S. 60)

Freud hat mit der Traumdeutung, der Analyse von Versprechern, der freien Assoziation sowie der Übertragung wissenschaftliche Methoden entwickelt, welche es ermöglichen, die unbe-wussten subjektspezifischen Komponenten einer psychischen Störung erfahrbar zu machen. Er hatte aber aufgrund seiner eingeengten Theorie lediglich ein Auge bzw. Gehör für unbe-wusst triebhafte Konflikte. Für geistig bzw. existentiell Unbewusstes war er komplett unemp-fänglich. Dabei kann in Träumen, Assoziationen und Versprechern sehr wohl auch geistig bzw. existentiell Unbewusstes zum Ausdruck kommen. Nichtsdestotrotz hat Freud – dies bleibt sein grosser Verdienst – mit seiner psychoanalytischen Methode den Weg bereitet, die unbewussten noo-psycho-physischen Erfahrungen zu objektivieren, denn im Kern steckt letzt-lich hinter jeder psychotherapeutischen Methode dieses freudsche Prinzip des Bewusstma-chen von Unbewusstem.

Wenn die psychischen und oder geistigen Konflikte verdrängt werden und höchstens symbol-haft ins Bewusstsein treten, müssen die verschlüsselten Botschaften des Unbewussten durch Interpretationen richtig erschlossen werden. Darin liegt jedoch die grosse Schwierigkeit bzw. Schwachstelle qualitativer Methoden verborgen, denn Interpretationen bringen die Gefahr weiterer Verzerrungen mit sich. Diese Verzerrungen lassen sich darauf zurückführen bzw. sind damit zu erklären, dass „die Analyse sozialwissenschaftlicher Gegenstände immer vom Vorverständnis des Analytikers [bzw. Therapeuten] geprägt“ (Mayring 2002, S. 30) ist, und dieses Vorverständnis die Interpretation beeinflusst. Wenn nun ein Therapeut auf der Grund-lage eines falschen Konzepts fehlgeleitete Deutungen vornimmt, führt dies im Ergebnis zu sehr abstrusen „Erkenntnissen“. Man muss aber dennoch festhalten, dass trotz dieser Gefahr die qualitativen Methoden für den psychotherapeutischen Prozess unverzichtbar bleiben.

Am Beispiel der Psychoanalyse lässt sich zeigen, wie die Anwendung qualitativer Methoden zu einem höchst fragwürdigen Ergebnis führen kann. Die Ursache ist ein unhaltbarer Deu-tungsmechanismus, der schliesslich in einer völlig schrägen Verzerrung der Realität endet. Wie Fromm (1979) aufzeigt, führt Freuds Methode des Bewusstmachen von Unbewusstem bei einer unvoreingenommenen Interpretation zu der Erkenntnis, dass ein bestimmtes Phäno-men das bedeuten kann, was es zu bedeuten scheint, dass es aber auch das Gegenteil ausdrük-ken kann. So lässt sich z.B. entdecken, dass hinter einer Liebesbeteuerung auch unterdrückter Hass versteckt ist oder dass Unsicherheit durch Arroganz und Angst durch Aggressivität über-deckt wird usw. Diese Entdeckung war revolutionär, sie ist aber gleichzeitig auch sehr gefähr-lich. Dann nämlich, wenn dieser Grundgedanke so willkürlich angewendet wird, dass es ein-zig dem Zweck der Bestätigung der eigenen vorgefassten Meinung dient. Dieser Gefahr sind mit Freud viele andere Analytiker erlegen, und sie waren geistreich genug, um „Beweise“ für ihre Hypothesen zu (er)finden. Man kann das sehr eindrücklich an einem realen Fallbeispiel demonstrieren: „Um zu zeigen, dass er hinter die Kulissen sehen kann, spricht der Analytiker die Vermutung aus, dass der Klient an unbewusster Homosexualität leide.“ (ebd., S. 277) Mit dem Konzept des Widerstandes hat er auch ein Mittel zur Hand, mit dem er diese Vermutung unter allen Umständen beweisen kann. Wenn der Klient beispielsweise ein normales hetero-sexuelles Leben führt, wird argumentiert, gerade diese Lebensweise beweise, dass er damit eine unbewusste Homosexualität zu verdrängen versuche. Wenn der Klient stattdessen sagt, er habe überhaupt kein sexuelles Interesse an Personen des eigenen Geschlechts, argumentiert der Analytiker, dass dieses völlige Fehlen des homosexuellen Interesses die Verdrängung der Homosexualität beweise. Wenn aber ein Klient zu seiner Homosexualität steht, dann ist das natürlich der Beweis dafür, dass er es eben auch ist. Dieses absonderliche Vorgehen gleicht dem Texanischen Scharfschützen, der eine 100-prozentige Treffsicherheit vorweisen kann. Auf die Frage, wie er das denn mache, lautet seine Antwort: „Ganz einfach, ich schiesse zu-erst drauflos, und anschliessend mache ich einen Kreis um das Einschussloch.“ Das Problem ist: Mit dieser „psychoanalytischen Beweisführungsakrobatik“ (Schleeger 1992) kann man alles nach eigenem Gusto beweisen und widerlegen.

1.4 Fromms Kritik psychoanalytischer Verzerrungen

Fromm (1979) kritisierte die im letzten Abschnitt dargelegte psychoanalytische Art von Be-handlung in aller Deutlichkeit, weil die Interpretationen derart willkürlich sind, dass sie zu völlig falschen Schlüssen führen kann. Freud hat zwar richtigerweise entdeckt, „dass Unsi-cherheit durch Arroganz und Angst durch Aggressivität überdeckt werden kann usw. Das war eine wichtige, aber auch eine gefährliche Entdeckung. Die Annahme, dass ein Verhalten ge-nau sein Gegenteil bedeuten kann, bedurfte eines Beweises, und Freud war eifrig bemüht, die-sen Beweis zu finden“ (Fromm 1979, S. 277). Eine differenzierte Sichtweise ist an dieser Stelle unerlässlich, denn es ist nicht so, dass hinter jedem Phänomen notwendigerweise ein anderes Motiv lauert bzw. dass jedes Phänomen notwendigerweise das Gegenteil ausdrückt, was es vorzugeben scheint. Mit der wissenschaftlichen Methode der Verifikation ist dieser Differenzierung nicht beizukommen, denn das Problem der Verifikationsmethode besteht da-rin, dass eine These nicht widerlegt werden kann. Die Verifikationsmethode dient letztlich einzig und allein dazu, die eigene Meinung zu bestätigen, weshalb sie als wissenschaftliche Methode unzulässig ist. Demgegenüber hilft das Falsifikationsprinzip, eigene Vorurteile auf-zudecken bzw. zu revidieren.

Fromm lehnte neben dieser unwissenschaftlichen Vorgehensweise auch das materialistische Bild vom Menschen als homme machine entschieden ab. Bezüglich der Motivationstheorie stellt sich Fromm mit seinen Überlegungen entschieden gegen die gängigen Theorien der Psy-choanalyse: „Wenn man nicht unter dem Zwang steht, von allen menschlichen Leidenschaften zu behaupten, sie seien in der Sexualität verwurzelt, ist man nicht gezwungen, Freuds Erklä-rung zu akzeptieren; man kommt dann zu einer einfacheren und, wie ich glaube, genaueren Analyse der menschlichen Leidenschaften“ (Fromm 1979, S. 305). Fromm sieht den Men-schen weniger „getrieben vom chemisch bedingten Mechanismus Unlust – Lust, sondern als ein primär auf andere bezogenes und ihrer bedürfendes Wesen, und dies nicht in erster Linie zum Zweck der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung, sondern aus Gründen, die in der ‚Natur’ des Menschen liegen“ (Fromm 1970a, S. 244). Mit dieser Revision distanziert sich Fromm auch vehement vom so typischen psychoanalytischen Reduktionismus menschlicher Motive: „Freud neigt auf Grund seiner instinktivistischen Orientierung und auch auf Grund seiner Überzeugung von der Verderbtheit der menschlichen Natur dazu, alle ‚idealen’ Motive im Menschen als Resultat von etwas ‚Niederem’ zu interpretieren. Ein Beispiel hierfür ist seine Zurückführung des Gerechtigkeitsgefühls auf den ursprünglichen Neid des Kindes auf jeden, der mehr hat als es selbst. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass Ideale wie Wahrheit, Gerechtig-keit und Freiheit zwar oft nur Phrasen oder Rationalisierungen sind, dass es sich bei ihnen aber auch um echte Strebungen handeln kann und dass jede Analyse, die diese Strebungen als dynamische Faktoren nicht in Rechnung zieht, sich auf einem Irrweg befindet. Diese Ideale sind nicht metaphysischer Art, sondern sie wurzeln in den Bedingungen des menschlichen Lebens und können auch in dieser Eigenart analysiert werden“ (Fromm 1941, S. 389). Und so hält Fromm fest, dass man „die ungeheure Energie in den Kräften, welche eine psychische Krankheit hervorrufen, wie auch die in Kunst und Religion steckende Energie, [...] niemals als Folge frustrierter oder sublimierter physiologischer Bedürfnisse verstehen“ (Fromm 1955a, S. 25) könnte. Vielmehr streben alle Menschen „nach der Befriedigung von Bedürfnis-sen [...], die spezifisch menschlich sind und die über die physiologischen Bedürfnisse des Organismus hinausgehen“ (ebd., S. 25).

1.5 Frankls Kritik psychoanalytischer Verzerrungen

Frankls Kritik richtet sich v.a. gegen das reduktionistische Element der psychoanalytischen Verzerrung, welches in erster Linie auf die in Kap. 1.2.1 aufgeführte materialistische Denk-kategorie Freuds zurückzuführen ist. Die Folge davon ist eine in psychoanalytischen Kreisen vorherrschende Entwertungstendenz, und aus dieser Entwertungstendenz heraus will der Psychoanalytiker „ständig demaskieren, ist er stets krampfhaft darauf aus, zu entlarven, ist er immer wieder auf der Suche nach uneigentlichen, nämlich neurotischen Motivationen. Allen Fragen nach der Geltung – etwa auf religiösem oder künstlerischem, aber auch auf wissen-schaftlichem Gebiet – weicht er aus. [...] So ist der Psychologismus letztlich auf der Flucht [...] vor den Wirklichkeiten und Möglichkeiten des Daseins“ (Frankl 2005b, S. 57f.).

Frankl lehnte die entlarvende Psychologie nicht grundsätzlich ab, sondern fand es durchaus legitim, vorausgesetzt, dass das Entlarven „innehält, wo der ‚entlarvende Psychologe’ mit einem Phänomen konfrontiert ist, das sich einfach deshalb nicht weiter entlarven lässt, weil es echt ist“ (Frankl 1992a, S. 53f.). Der reduktionistische Einfluss, so führt Frankl weiter aus, dürfe nicht unterschätzt werden:„Bedenken wir doch, in welchem Ausmass solche Hypothe-sen geeignet sind, den Enthusiasmus für Sinn und Werte zu unterminieren“ (Frankl 1972, S. 14f.).

1.6 Objektivität in der Geisteswissenschaft

Was lässt sich zum Abschuss dieses Kapitels über geisteswissenschaftliche Theorien und wissenschaftliche Methoden aus erkenntnisphilosophischen Überlegungen sagen? Ist eine ob-jektive Sichtweise überhaupt möglich? Wir können festhalten, dass die Interpretationen welt-licher Geschehnisse durch die ihr zugrunde liegenden Prämissen, Axiome und Paradigmen in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt werden. Auf diese Weise entsteht ein spezifischer Blick auf die untersuchten Phänomene. Der Spielraum an Interpretationsmöglichkeiten und Schlussfolgerungen wird demnach durch die Grundannahmen wesentlich beeinflusst. Wenn nun viele Wissenschaftler den Anspruch auf Objektivität erheben und sich einreden, ihre Theorien „seien das Ergebnis logischer Deduktion“ (Fromm 1947, S. 42), ist es keineswegs so, dass ihre Grundannahmen nicht mit ihren Interessen bzw. ihrer Charakterstruktur zusam-menhängen, denn Personen mit entsprechenden Charakterstrukturen werden sich jeweils für eine ihrem Charakter entsprechende Theorie entscheiden. Mit anderen Worten, ein existenz-philosophisch interessierter Mensch wird sich für eine existenzphilosophische Grundannahme entscheiden, ein in einer materialistischen Denkkategorie verhafteter Mensch wird eine mate-rialistische Grundannahme favorisieren, ein Anhänger der Selbstorganisationstheorie wird die Grundlagen der Synergetik heranziehen usw. Man kann somit sagen, dass jede Grundannah-me für jeden Wissenschaftler einen ganz eigenen Wert hat. Wie Fromm richtigerweise fest-hält, werden sich diese unterschiedlichen Wertungen nie auflösen lassen bzw. „es wäre prak-tisch nicht viel gewonnen, wenn einer mit objektiven Gründen beweisen könnte, dass eine be-stimmte Wertstruktur allen anderen ‚überlegen’ sei; denn für alle, die jene Wertstruktur nicht für ‚überlegen’ halten, weil sie den in ihrer eigenen Charakterstruktur verwurzelten Ansprü-chen widerspricht, wäre ein solcher objektiver Beweis nicht zwingend“ (Fromm 1968b, S. 329). Trotzdem hält er fest, dass es in bezug auf das weltanschauliche Bild vom Menschen wenigstens theoretisch möglich ist, zu objektiv gültigen Normen gelangen kann. Dies setzt je-doch eine Einigkeit darüber voraus, wie man z.B. die Vorstellung „Mensch sein“ definiert. Zum Beispiel muss es wünschenswert sein, „dass ein lebendiges System sich entwickelt und ein Höchstmass an Vitalität und innerer Harmonie, d.h. [...] ein Maximum an Wohl-Sein er-zeugt. [...] Die Gültigkeit der Normen ergibt sich demnach daraus, dass sie ein optimales Wachstum und Wohl-Sein und ein möglichst geringes Krank-Sein hervorrufen“ (ebd., S. 329). Selbstverständlich wird nicht jeder Wissenschaftler diese Definition gutheissen, theore-tisch könnte man aber aufgrund einer allgemein akzeptierten Vorstellung zu objektiv gültigen Normen gelangen.

2 Existenzphilosophische Erkenntnisse über den Menschen

„... kommen wir bezüglich der Frage nach dem Wesen des Menschen zu dem Schluss, dass die Natur oder das Wesen des Menschen keine spezifische Substanz [...] ist, sondern ein Wider-spruch, der in den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst begründet ist. Dieser Kon-flikt bedarf selbst eine Lösung, und es gibt dafür grundsätzlich nur die regressive oder die progressive Lösung.“

(E. Fromm: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen)

Die Existenzanalyse versucht, das Wesen des Menschen zu erfassen und kommt dabei zu fol-gendem Schluss:Menschsein weist immer schon über sich selbst hinaus, und die Transzen-denz ihrer selbst ist die Essenz menschlicher Existenz.“

(V. Frankl: Der leidende Mensch)

Wir wollen uns im Folgenden mit der Situation des Menschen auseinander setzen. Dabei wollen wir uns stets vor Augen halten, dass die hier vorgestellte Theorie wie jede andere auch auf Prämissen aufgebaut ist, die man gutheissen oder ablehnen kann. Folgende zwei Aspekte spielen bei den Überlegungen eine zentrale Rolle:

1. Wenn die Anthropologie – die Wissenschaft vom Menschen – sich mit der Frage Was ist der Mensch? befasst, geht sie von der Annahme aus, dass es so etwas wie eine „Natur des Menschen“ gibt, also etwas, das das „Wesen“ des Menschen ausmacht. Mit anderen Worten, es lässt sich etwas sagen über den „universalen Menschen, nicht nur des Menschen, wie er sich in den verschiedenen Kulturen manifestiert, sondern eines Menschen, über dessen Struk-tur allgemeingültige empirische Feststellungen getroffen werden können“ (Fromm 1970a, S. 231).

2. Mit dieser Annahme stossen wir zwangsläufig auf die Frage nach der conditio humana, also auf die Frage nach den besonderen Bedingungen des Menschen. Wir fragen sonach nach den „spezifischen Faktoren, die die Grundlage der menschlichen Existenz“ (Fromm 1966a, S. 40) ausmachen.

2.1 Die Bedingungen menschlicher Existenz: Instinktarmut und Selbst-Bewusstsein

Frankl und Fromm sind sich einig, dass das, was die besondere Situation des Menschen aus-macht und ihn wesentlich vom Tier unterscheidet, in biologischer Hinsicht etwas Negatives ist, eine biologische Schwäche, nämlich seine Instinktarmut: „Der Mensch tritt an der Stelle im Evolutionsprozess auf, an der das instinktive Anpassungsvermögen sein Minimum erreich-te“ (Fromm 1947, S. 30). Der Mensch ist also ein Tier, das nicht genügend mit Instinkten aus-gerüstet ist, welche ihn bei seinem Handeln leiten. Gleichzeitig ist er mit neuen Eigenschaften ausgestattet: Er ist sich seiner selbst bewusst[5], und dies hat „jene ‚Harmonie’ zerrissen, die für das tierische Dasein charakteristisch ist“ (ebd., S. 30). Mit dem Bewusstsein seiner selbst, mit der Vernunftbegabung[6] und dem Vorstellungsvermögen verlor der Mensch „das Paradies – die Einheit mit der Natur“ (ebd., S. 31), d.h. er gehört der Natur an, ist der Natur und all ihren Gesetzen unterworfen und transzendiert sie gleichzeitig aufgrund seiner Vernunftbegabung.

Instinktarmut und Vernunftbegabung schliessen die Existenz von Trieben keineswegs aus, weshalb der Mensch die physiologisch bedingten Bedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen und Sexualtrieb) nach wie vor mit allen Tieren teilt. Frankl hat diese besondere Konstellation in seiner Dimensionalontologie (vgl. Frankl 2002a) ausführlich beschrieben. Auch er hat auf den inhärenten Widerspruch in der menschlichen Existenz hingewiesen, indem er stets betonte, dass der Mensch Triebe hat, aber nicht diese Triebe ist. Dieser Widerspruch, diese „existen-tielle Dichotomie“ (Fromm 1969b) ist ein unauslösbarer Bestandteil des Menschen als Mensch, d.h. nie wird sich der Mensch von dieser Dichotomie der eigenen Existenz freima-chen können: „Er kann sich nicht von seiner Geistigkeit befreien, auch wenn er es wollte; er kann nicht von seinem Körper frei werden, solange er lebt“ (Fromm 1947, S. 30). Der Mensch „kann nicht auf einen vormaligen Zustand der Harmonie mit der Natur regredieren; er muss vorwärtsschreitend seine Vernunft entwickeln“ (ebd., S. 31).

2.2 Die metaphysischen Bedürfnisse der menschlichen Existenz

Gemäss den im letzten Kapitel dargelegten Ausführungen ist die conditio humana oder „ die Natur oder das Wesen des Menschen nichts anderes als der Widerspruch, welcher der biolo-gischen Konstitution des Menschen innewohnt “ (Fromm 1969b, S. 32). Von dieser besonde-ren Konstellation der menschlichen Existenz lässt sich nun das metaphysische Bedürfnis der menschlichen Existenz ableiten. Der existentielle Widerspruch führt den Menschen zu einem „Erlebnis der Getrenntheit, der Abgesondertheit und der Ohnmacht. Dieses Erlebnis der Ab-gesondertheit und Ohnmacht ruft das Erlebnis der Angst hervor, [...] der Angst im Sinne der existentiellen, der dem Menschen eigentümlichen Angst“ (Fromm 1966a, S. 40). Mit dem Be-wusstsein, an einem zufälligen Ort zu einem zufälligen Zeitpunkt geboren worden zu sein und ebenso zufällig aus der Welt vertrieben zu werden muss nun der Mensch irgendwie fertig werden, denn dieses Gefühl, ein unbedeutendes Teilchen in einer unendlichen und chaoti-schen Welt zu sein, hält der Menschen nicht aus. Und so ist dieses emotional erdrückende Ge-fühl dem Menschen „zu einem Problem geworden, das er lösen muss und dem er sich nicht entfliehen kann“ (Fromm 1947, S. 31), denn die Vernunftbegabung „zwingt ihn, sich unabläs-sig mit der Lösung seiner an sich unlösbaren Dichotomie zu beschäftigen“ (ebd., S. 30).[7] Frankl hat das Problem der unlösbaren Dichotomie wie folgt beschrieben: „Ich habe noch kei-nen Fall von Neurose gesehen, bei dem sich nicht als letztes Problem und als letzter Konflikt [...] die Frage nach der Stellung des Menschen überhaupt gehandelt habe. [...] Es ist falsch, wenn man [...] in dieser ‚metaphysischen’ Problematik wiederum eine Maske anderer Fragen oder den Ausdruck bestimmter Haltungen erblicken will. Es steckt nichts mehr ‚dahinter’, weder Triebverhältnisse noch Machtwille, sondern es ist die letzte und wichtigste Frage, die diese Menschen beunruhigt und die sie sich nicht zu beantworten, ja, nicht einmal richtig zu stellen getrauen.“ (Frankl 1994, S. 224f.).

Der Mensch kann dieses Problem der menschlichen Natur nur lösen, „indem er die Lücken seines Wissens mit Antworten ausfüllt“ (Fromm 1947, S. 31), und um diese Lücken zu über-winden, „drängt es [den Menschen] – getrieben von einem Willen nach ‚Absolutheit’ – eine andere Art von Harmonie zu finden, die den Fluch von ihm nimmt, [...] von der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst getrennt“ (ebd., S. 31) zu sein. Für Fromm zielen deshalb alle Energien des Menschen – normale, neurotische oder psychotische – darauf, „die unerträgliche Widerspruchssituation in eine erträgliche zu verwandeln und je neue und – soweit möglich – bessere Lösungen für den Widerspruch zu schaffen“ (Fromm 1969b, S. 32). Mit dieser Darle-gung des existentiellen Problems verlagert Fromm den Fokus von der psychophysischen Ebe-ne auf die geistige Dimension: „Wir dürfen uns nicht scheuen, uns den geistigen Problemen unserer menschlichen Existenz zu stellen“ (Fromm 1966b, S. 27). Auch Riemann betont: „Mit den vier Grundformen der Angst, bzw. mit den vier Grundimpulsen oder Grundforderungen, ist etwas allgemein Gültiges und grundsätzliches gemeint, das nicht weiter ableitbar zu unse-rer Existenz gehört. Das scheint auch daraus hervorzugehen, dass wir prinzipiell immer vier Möglichkeiten haben, auf eine Lebenssituation zu antworten; zu jeder mitmenschlichen Be-ziehung, zu jeder Aufgabe oder Forderung können wir uns auf viererlei Weise einstellen: Wir können uns erkennend von ihr distanzieren oder uns mit ihr liebend identifizieren; wir können sie wie ein Gesetz auf uns nehmen oder sie unseren Wünschen gemäss umzuwandeln versu-chen. Jede wesentliche Aufgabe, jede Entscheidung, jede wesentliche menschliche Begeg-nung, jedes schicksalhafte Geschehen trägt potenziell alle vier Antwortmöglichkeiten in sich. Sie verfügbar zu haben und sie je nach den Gegebenheiten der Situation und unseren eigenen Anlagen anzuwenden, zumindest sie bei unseren Entscheidungen als verschiedene Möglich-keiten einzubeziehen, ist ein Zeichen von Lebendigkeit. Aber nicht nur das; oft fordert etwa eine menschliche Beziehung, dass wir praktisch gleichzeitig alle vier Impulse in lebendiger Durchdringung leben müssen“

(Riemann 2013, S. 232).

Da die Anstrengungen zur Lösung der existentiellen Dichotomie Versuche darstellen, „dem Erleben der Nichtigkeit und des Chaos zu entgehen und einen Rahmen der Orientierung und Hingabe zu finden“, dienen sie in erster Linie „dem psychischen[8], nicht dem physischen Überleben“ (Fromm 1969b, S. 32). Damit sind für Fromm die spezifisch menschlichen Lei-denschaften nicht körperlicher Art, sondern sie stellen für ihn vielmehr spirituelle Wege dar. Unter „Spiritualität“ versteht er Ideale, Entwürfe und Ideen einer Haltung, „die darauf zielen, den schmerzvollen strukturellen Widerspruch, der der menschlichen Situation innewohnt, aufzulösen“ (ebd., S. 32). Diese Ausführungen kommen dem sehr nahe, was Frankl als meta-physisches Bedürfnis beschreibt, nämlich das Bedürfnis, dem Leben einen Sinn abzugewin-nen. Diesem Bedürfnis kommt der Mensch unablässig nach: „Ob er es will oder nicht, ob er es wahrhat oder nicht – der Mensch glaubt an einen Sinn, solange er atmet. Noch der Selbst-mörder glaubt an einen Sinn, wenn auch nicht des Weiterlebens, so doch des Sterbens. Glaub-te er wirklich an keinen Sinn mehr [...] – er könnte eigentlich keinen Finger mehr rühren und schon darum nicht zum Selbstmord schreiten“ (Frankl 1972, S. 118). Die wesentliche Ener-giequelle bzw. Steuerungskraft des Menschen stellt demnach das existentielle Bedürfnis nach Sinn dar. Und tatsächlich gibt es für Fromm „keine stärkere Energiequelle im Menschen“ (Fromm 1947, S. 36) als der „Versuch, dem Leben Sinn zu geben“ (ebd., S. 35). Dieses meta-physische Bedürfnis ist aber überhaupt nur zu stillen in der Überschreitung der physischen Bedürfnisebene.

Mit dieser Sichtweise bringt Fromm das motivationstheoretische Triebkonzept von Freud zu Fall, denn „so mächtig der Sexualtrieb und alle seine Ableitungen auch sein mögen, sie sind keineswegs die mächtigsten Kräfte im Menschen“ (Fromm 1955a, S. 24). Insofern der Mensch Tier ist, müssen zwar die körperlichen Bedürfnisse – sein Hunger, sein Durst und sein sexuelles Bedürfnis – befriedigt werden, „aber insofern der Mensch ein menschliches Wesen ist, reicht die Befriedigung dieser instinkthaften Bedürfnisse nicht aus, ihn glücklich zu machen. Sie reichen nicht einmal aus, ihn gesund zu machen “ (ebd., S. 22). Fromm verweist bei dieser Feststellung auf klinische und historische Erfahrungen, die zeigen, „dass dort, wo der Mensch nur seine biologischen Bedürfnisse verfolgt und befriedigt, er unbefriedigt bleibt und eine Neigung zu ernsten Störungen entwickelt“ (Fromm 1969b, S. 34). Der Mensch lebt nun einmal nicht vom Brot allein, und darum sagt Fromm über die Quelle der menschlichen Energie: „Das spezifisch-menschliche Interesse, die verlorene Instinktbezogenheit zur Welt durch neue affektiv-intellektuelle Beziehungsformen zu ersetzen, ist [...] ebenso vital wie das vom Menschen mit allen Lebewesen geteilte Selbsterhaltungs- oder auch Sexualinteresse; daraus folgt, dass die verschiedenen Lösungen der existentiellen Widersprüche ebenso ener-giegeladen, d.h. leidenschaftlich sind, wie die Manifestationen der Ich-Triebe und der Libido. Tatsächlich sind die seelischen Bedürfnisse – wie sie als teuflische, aber auch als lebensför-dernde [...] Strebungen zum Ausdruck kommen – oft stärker als die physiologisch bedingten, selbst- und arterhaltenden Bedürfnisse; das gilt besonders dann (aber nicht nur dann), wenn ein Minimum physiologischer Bedürfnisse befriedigt ist“ (Fromm 1970a, S. 245f.). Um diese These zu unterstreichen verweist Fromm auf die Bedrohung durch einen nuklearen Krieg und wünscht sich, der Selbsterhaltungstrieb hätte tatsächlich eine stärkere Wirkung im Verhältnis zu Idealen von denen der Mensch geleitet wird. Einige Menschen spielen mit der Option eines kollektiven Selbstmordes, „weil sich seelische Bedürfnisse wie die Gier nach Macht, Eigen-tum, ‚Ehre’ usw. offensichtlich als stärker erweisen als die Bedürfnisse nach Selbsterhalt.“ (ebd., S. 246)

Aufgrund seiner Analyse der Bedingungen der menschlichen Existenz kommt Fromm zu folgendem Schluss: „Selbst die vollkommenste Befriedigung aller seiner instinktiven Bedürf-nisse löst nicht sein menschliches Problem. Seine intensivsten Leidenschaften und Bedürfnis-se sind nicht die in seinem Körper wurzelnden, sondern die, welche in der Besonderheit seiner Existenz ihre Wurzel haben“ (Fromm 1955a, S. 24) – und das ist das Bedürfnis nach der Wie-derherstellung einer neuen, nun existentiellen Harmonie mit der Natur, anstelle der alten, tie-risch-instinktiven Harmonie, die dem Menschen verwehrt bleibt. D.h. alle menschlichen Stre-bungen können als Versuche aufgefasst werden, eine „ Einheit mit der Natur, seinen Mitmen-schen und sich selbst zu finden “ (ebd., S. 22), denn der Mensch ist „sich seiner Einsamkeit und Abgesondertheit, seiner Ohnmacht und Unwissenheit und der Zufälligkeit seiner Geburt und seines Todes bewusst“ und „er könnte diesen Zustand keinen Augenblick ertragen, wenn er nicht neue Bindungen an seine Mitmenschen finden könnte, welche die alten, von Instink-ten regulierten, ersetzen. [...] Die Notwendigkeit, mit anderen lebenden Wesen eine Verbin-dung einzugehen, mit ihnen in Beziehung zu stehen, ist ein unverzichtbares Bedürfnis, von dessen Befriedigung die geistige Gesundheit des Menschen abhängt. Dieses Bedürfnis nach Bezogenheit steht hinter allen Phänomenen, welche die ganze Skala intimer menschlicher Be-ziehungen ausmachen.“ (Fromm 1959b, S. 331). Fromm sieht in diesem Bedürfnis nach Be-zogenheit „ die Quelle aller psychischen Kräfte, welche den Menschen motivieren, die Quelle aller seiner Leidenschaften, Affekte und Ängste “ (Fromm 1955a, S. 22), und so stellt dieses Bedürfnis den „Schlüssel zur humanistischen Psychoanalyse[9] “ (ebd., S. 24) dar. Fromms Be-dürfnis nach Bezogenheit und Frankls Sinnbedürfnis verbindet Böschemeyer (2005) wie folgt: „Was uns umgibt und womit wir leben, fordert uns zur Achtsamkeit heraus. Was wir beachten, weil wir es anschauen, zudem gewinnen wir eine Beziehung. Überall dort aber, wo solche Beziehungen entstehen, kommt neuer Sinn zum Vorschein“ (ebd., S. 173).

Die Grundlage für Fromms Revision der Psychoanalyse bilden sonach die besonderen Bedin-gungen der menschlichen Existenz, und so ergibt sich für die stärksten menschlichen Bedürf-nisse – das Bedürfnis nach Bezogenheit bzw. Transzendenz – kein entsprechendes physiologi-sches Substrat. Diese Ansicht teilt er mit Frankl, der nicht müde wurde zu betonen, dass „Geist keine Substanz ist, sondern Dynamis “ (Frankl 2005a, S. 147).

Fromm gelangt in seiner Revision zum Schluss, dass „der Mensch nicht nur vom Mangel (der Unlust, der Spannung) getrieben ist, wie bei Freud; er ist ebenso stark motiviert, sich in Weisen auszudrücken, die [...] über die Person und ihre Selbsterhaltung hinausgeht“ (Fromm 1970a, S. 245). Für Frankl ist der Wille zum Sinn „so sehr in die condition humaine einge-baut, dass wir einfach nicht umhin können, so lange ‚Sinn zu suchen’, bis wir ihn eben gefun-den zu haben glauben“ (Frankl 1992a, S. 70). Frankl führt dieses Bedürfnis motivationstheo-retisch auf die „Noodynamik“ (Frankl 2005b, S. 21), d.h. auf eine „Spannung zwischen Exis-tenz und Essenz“ (ebd., S. 113) zurück: Der Mensch wird weniger von Trieben getrieben, sondern vielmehr vom Sinn oder von Werten gezogen, und so bezeichnet Frankl den Sinn als „Schrittmacher des Seins“ (ebd., S. 114). Der Mensch verwirklicht einen Wert bzw. erfüllt einen konkreten Sinn, wodurch sich sein Sein erweitert und bereichert. Durch diese Synthese von Sein und Sollen wird die Harmonie mit der Natur auf existentielle Art und Weise wieder hergestellt.

Wie elementar der Wille zum Sinn für den Menschen ist, kann auch anhand des salutogeneti-schen Konzepts von Aaron Antonovsky (1997) aufgezeigt werden. Seine ganzheitlich orien-tierten Überlegungen entwickelte er vor dem Hintergrund, dass sich relativ viele ehemalige KZ-Insassen trotz vieler Qualen subjektiv wie auch objektiv in einem verhältnismässig guten Gesundheitszustand befanden. Im Unterschied zum klassischen Vorgehen der Medizin fragte er nach den Faktoren, die dafür gesorgt haben, dass Menschen trotz widriger Umstände nicht erkranken, sondern gesund bleiben. Als zentraler Schutzfaktor erweist sich dabei der sog. „Sinn für Kohärenz“. Dabei geht es v.a. darum, ein Grundgefühl des Vertrauens in die Beein-flussbarkeit und den sinnvollen Zusammenhang des eigenen Lebens zu entwickeln. Antonov-sky (1997) unterscheidet drei sich beeinflussende Komponenten:

- Verstehbarkeit: D.h. die im Verlaufe des Lebens eintretende Belastungen sind strukturiert, vorhersehbar und erklärbar.
- Bewältigbarkeit: D.h. man verfügt über die Kompetenz, die zur Verfügung stehenden Res-sourcen im Hinblick auf die sich stellenden Anforderungen zu beurteilen.
- Sinnhaftigkeit: D.h. diese Belastungen stellen Herausforderungen dar, die es wert sind, etwas zu investieren und sich zu engagieren.

Der Kohärenzsinn stellt ein positives Selbstbild der Handlungsfähigkeit und der Bewältigbar-keit von externen und internen Lebensbedingungen dar, verbunden mit dem Bestreben, dem Leben einen subjektiven Sinn zu geben. Sind diese Bedingungen erfüllt, ergibt sich ein Gefühl der Konsistenz.

2.3 Die Lösungsmöglichkeiten menschlicher Existenz

Frankl (1972) bezeichnet das metaphysische Bedürfnis des Menschen als den „Willen zum Sinn“. Für Fromm gibt es kein Wort, welches dieses Bedürfnis zum Ausdruck bringt. In Er-mangelung eines besseren Wortes spricht er vom „Bedürfnis nach einem System der Orien-tierung und Hingabe“ (Fromm 1970a, S. 35). Da es sich um ein metaphysisches Bedürfnis handelt, spricht er auch von einem „religiösen Bedürfnis“ (Fromm 1976, S. 365). Er verwendet diesen Begriff jedoch nicht nur im Zusammenhang mit dem Gottesbegriff, sondern versteht darunter jedes „ System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet “ (ebd., S. 365). In diesem weitgefassten Sinn ist weder ein Mensch noch eine Gesellschaft vorstellbar, die keine „Religion“ hat. Die Frage in diesem Verständnis nicht: „ Religion oder nicht ?, sondern vielmehr: Welche Art von Religion? Fördert sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifisch menschlicher Kräfte, oder lähmt sie das menschliche Wachstum?“ (ebd., S. 365).

2.3.1 Der Rahmen der Orientierung

Die Kombination Instinktarmut und Vernunft zwingt den Menschen, „ein strukturiertes und kohärentes Bild der Welt“ (Fromm 1976, S. 367) zu kreieren. Ohne eine Landkarte seiner na-türlichen und gesellschaftlichen Umwelt wäre „der Mensch verwirrt und unfähig, zielgerichtet und konsequent zu handeln, denn er hätte keine Orientierungsmöglichkeit und fände keinen festen Punkt, der es ihm gestattet, alle die Eindrücke zu ordnen, die auf ihn einstürmen“ (ebd., S. 367). Der Rahmen der Orientierung hat die Funktion, das Wahrgenommene zu strukturie-ren und wird von den Gestalttheoretikern als „Prägnanztendenz“ bezeichnet (vgl. Köhler 1930; Rausch 1982). Gemeint ist damit der Trend zur Komplexitätsreduktion und zur Bedeu-tungsgenerierung. Haken & Schiepek (2006) sprechen in diesem Zusammenhang von Ord-nungstendenz und verweisen darauf, dass sie mit fast naturgesetzlicher Sicherheit auftritt, wo-bei bei diesem Phänomen den sog. „Attraktoren“ (ebd.) eine herausragende Rolle zukommt.

Die Ordnungstendenz kann anhand einer seriellen Reproduktion eines komplexen Punktemus-ters demonstriert werden. In Abbildung 2-1 wird ein ursprünglich chaotisches Bild (links oben) nach dem Prinzip der „stillen Post“ reproduziert: Das Punktemuster wurde einer ersten Person 5 Sekunden lang gezeigt. Daraufhin musste sie das Bild aus dem Gedächtnis nach-zeichnen. Dieses neue Bild wurde nun einer zweiten Person gezeigt, welche nach 5-sekündi-ger Betrachtung ebenfalls das gesehene Bild nachzeichnen sollte usw. Dieser Vorgang wurde insgesamt 19 Mal wiederholt. Am Ende resultierte das Bild unten rechts.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-1: Serielle Reproduktion eines komplexen Punktemusters ( in Haken & Schiepek 2006, S. 202)

Dieses Experiment wurde mehrfach durchgeführt, und es zeigte sich, dass die Bilder in der seriellen Reproduktion so lange verändert werden, bis das Ergebnis einfach und prägnant ist, wobei selbstverständlich nicht zwingend ein „Quadrat“ als Endprodukt herauskommen muss, sondern auch andere prägnante Formen möglich sind:

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Abbildung 2-2: Resultate einer seriellen Reproduktion aus 6 verschiedenen Versuchs-durchgängen bei gleichem Ausgangsbild (Haken & Schiepek 2006, S. 32)

Die Ergebnisse der seriellen Reproduktion verdeutlichen v.a. den funktionellen Aspekt der Wahrnehmung. Informationsverarbeitungs- bzw. Denkprozesse zielen in erster Linie darauf ab, Sinn und Zweck zu generieren.

Eine weitere Demonstration der natürlichen Ordnungstendenz stellt das Prinzip der Ganzheit-lichkeit dar. Es besagt, dass unvollständige Muster vervollständigt werden. Dies kann anhand folgender Darstellung erläutert werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-3: Prinzip der Ganzheitlichkeit am Beispiel Stern und Viereck

Im linken Bild erkennt der Betrachter einen Stern und im rechten Bild ein Viereck, obwohl diese geometrischen Figuren hier gar nicht existieren. Sie werden aber – dank Attraktoren – als solche „erkannt“.

Das Prinzip des Attraktors wird von vielen Autoren aufgegriffen, wenn auch mit sehr unter-schiedlichen Bezeichnungen. Die Rede ist von „Schemata“[10], „Fühl-, Denk- und Verhaltens-mustern“[11],„neuronalen Attraktoren“[12] usw. Kriz (1999) hat in diesem Zusammenhang das zentrale Konzept des „Sinn-Attraktors“ eingeführt, weil Attraktoren neben ihrer ordnungsbil-denden Funktion auch für die Bedeutungsgenerierung verantwortlich sind. Attraktoren erfül-len damit gewissermassen auch die Funktion von Deutungsmustern. Darunter werden im Ge-dächtnis verankerte Sinn-Schemata verstanden, die den wahrgenommenen Reizen eine Be-deutung geben. Erlebnisse werden so im Rahmen vorgeformter Sinnzusammenhänge wahr-genommen. Das Konzept des Sinn-Attraktors zeigt auf, „wie der für unsere Lebenswelt be-deutsame Raum aus einer schillernden Vielfalt unfassbar polysemantischer (Er-)Lebensmo-mente sich auf eher monosemantische Sinnkerne zusammenzieht.“ (Kriz 2010b, S. 139).

Attraktoren ermöglichen „typische Strukturen“ (vgl. Kriz 2010a), die sich in Form von

- Weltbildern, Zeichensystemen, gesellschaftlichen Regeln (auf der kulturellen und gesell-schaftlichen Ebene),
- Familienregeln, Erziehungsgewohnheiten (auf der interpersonellen Ebene),
- persönlichen Erklärungsprinzipien bzw. Sinnzuschreibungen, Attributionen, Plänen, Selbst-bildern (auf der Bewusstseinsebene),
- Konstruktionen von biografischen Ereignissequenzen und -zusammenhängen (auf der Gedächtnisebene),
- Erkennen von Gegenständen, Bewegungen oder Distanzen (auf der Wahrnehmungsebene) zeigt.

All diese Strukturen tragen dazu bei, dass die verloren gegangene Harmonie mit der Natur wieder hergestellt wird. Weder eine Kultur noch ein Individuum kommen ohne diese ord-nungsbildenden Strukturen aus. Sie lassen die Welt als sinnvoll erscheinen. Fromm (1976) merkt an dieser Stelle an, dass auch ein „falsches“ Weltbild seine „psychologische Funktion“ erfüllt.

Die biologische Bedeutung bzw. Funktion eines Rahmens der Orientierung lässt sich wie folgt erklären: Da das menschliche Handeln nicht durch angeborene instinktive Verhaltens-muster bestimmt wird, wäre das Leben sehr mühsam, wenn der Mensch bei jeder Handlung von neuem eine freie Entscheidung fällen müsste. Der Mensch kann stattdessen mittels Kon-ditionierung auf halbautomatische Denk- und Handlungsgewohnheiten zurückgreifen. Diese tief verwurzelten Gewohnheiten und Meinungen, die für jeden einzelnen Menschen charakte-ristisch sind (und die sich als ziemlich resistent erweisen), bezeichnet Fromm als Charak-terstruktur: „Das Charaktersystem kann als menschlicher Ersatz für den Instinktapparat des Tieres angesehen werden. Ist die Energie einmal in einer bestimmten Weise ‚kanalisiert’, dann vollzieht sich das Handeln ‚getreu dem Charakter’. Dieser oder jener Charakter mag vom moralischen Standpunkt aus unerwünscht sein, seinem Träger jedoch ermöglicht er ein folgerichtiges Handeln und befreit ihn von der Bürde, jedes Mal eine neue und durchdachte Entscheidung treffen zu müssen“ (Fromm 1947, S. 42). Fromm weist im Weiteren darauf hin, dass der Rahmen der Orientierung bzw. der Charakter eine „selektive Funktion in bezug auf die Ideen und Werte eines Menschen“ (ebd., S. 42) hat. Viele reden sich zwar ein, ihre Ideen seien von ihren Gefühlen und Wünschen unabhängig und das Ergebnis logischer Deduktion. Daher glauben sie, „dass ihre Weltanschauung sich in ihren Ideen und Urteilen bestätigt, wäh-rend diese in Wirklichkeit, ebenso wie ihre Handlungen, aus ihrem Charakter stammen. Fromm betont in diesem Zusammenhang, dass die Auffassung, der Charakter bestimme die Entscheidungen, keineswegs fatalistisch ist. Zwar ist der Mensch bestimmten Kräften unter-worfen, die ihn bestimmen. Er ist aber als vernunftbegabtes Geschöpf[13] das einzige Wesen, das jene Kräfte begreift, denen es unterworfen ist, und das dank seines Verstehens aktiven Anteil an seinem eigenen Geschick nehmen kann. Der Mensch ist daher kein hilfloses Opfer seiner Umstände, sondern tatsächlich imstande, Kräfte in sich und ausserhalb von sich zu lenken. Aber während er zwar Vernunft und Gewissen hat, die ihn befähigen, aktiv an seinem Leben mitzuarbeiten, sind Vernunft und Gewissen selbst doch unlösbar mit seinem Charakter verbunden. Beherrschen destruktive Kräfte und irrationale Leidenschaften den menschlichen Charakter, so werden die Vernunft und das Gewissen davon betroffen und können ihre Funk-tion nicht mehr richtig ausüben. Vernunft und Gewissen sind tatsächlich die kostbarsten Fä-higkeiten des Menschen, und „wir haben die Aufgabe, sie zu entwickeln und zu gebrauchen; aber sie sind nicht frei und undeterminiert und existieren nicht unabhängig von uns. Es sind Kräfte innerhalb der Struktur unserer Gesamtpersönlichkeit; sie werden – wie jeder Teil einer Struktur – von der Struktur als ganzer bestimmt und bestimmen diese zugleich ihrerseits“ (ebd., S. 147).

Als soziales Wesen stellt der Mensch seinen Rahmen der Orientierung im sozialen Kontext her. Die Mitmenschen dienen sozusagen als Kontrollinstanz: „Der Konsens mit unseren Mit-menschen gibt uns die Gewissheit, dass unsere Ideen richtig sind“ (Fromm 1976, S. 367). Einen eindrücklichen Beleg dieser These liefert das Experiment von Solomon Asch (1951), das wie folgt angeordnet ist: Auf einem Bildschirm wird in einer Gruppensitzung den Ver-suchspersonen eine Referenzlinie dargeboten. Daneben sind drei weitere Linien mit unter-schiedlicher Länge eingeblendet. Die Versuchspersonen müssen nun nacheinander entschei-den, welche der Linien a, b oder c gleich lang ist wie die Referenzlinie.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-4: Asch-Experiment: Beispiel sozialer Einflüsse

In der Experimentalgruppe sind alle Teilnehmer bis auf eine Versuchsperson in das Experi-ment eingeweiht. Die eingeweihten Teilnehmer geben vor der Versuchsperson ihr Urteil ab, wobei sich die Mehrheit (zufällig gemischt) geschlossen für eine falsche Linie entscheidet. In der Kontrollgruppe äussern alle Teilnehmer ihre wahre Einschätzung. Hier liegt die Fehler-quote bei 0,7%. Bei der Versuchsgruppe schliessen sich – aufgrund der Gruppendynamik – 37% der Versuchspersonen der Mehrheit an und entschliessen sich trotz der offensichtlichen Fehleinschätzung für eine falsche Linie. Der Unterschied zwischen der Kontroll- und der Experimentalgruppe zeigt auf, wie stark beim Drang nach der Wiederherstellung der natürli-chen Harmonie „das Bedürfnis, auf die Welt ausserhalb seiner selbst bezogen zu sein, und das Bedürfnis, Einsamkeit zu vermeiden“ (Fromm 1941, S. 228) ineinander greifen. Die absolute Isolation ist für Fromm (1947) genauso unerträglich und unvereinbar mit der seelischen Ge-sundheit wie fehlende Orientierungspunkte. Aufgrund dieser Konstellation vermengen sich das Verlangen nach einem Rahmen der Orientierung und sozialer Vereinigung zu dem Be-dürfnis, sich anzupassen. Dieses existentielle Bedürfnis nach Verbundenheit lässt verstehen, weshalb die Therapiebeziehung zu den wichtigsten Wirkfaktoren im Therapieprozess[14] gehört.

2.3.2 Objekt(e) der Hingabe

Ich will nicht wie die meisten anderen Menschen für nichts gelebt haben.“ (Anne Frank)

Ein strukturgebender Rahmen der Orientierung, der im sozialen Kontext aufgebaut wird und als Richtschnur des Handelns dient, reicht für die Wiederherstellung der Harmonie mit der Natur nicht aus. Der Mensch benötigt darüber hinaus auch ein Ziel, an dem er sich orientieren kann: „Da uns die Determinierung durch den Instinkt fehlt und wir andererseits ein Gehirn ha-ben, das es uns gestattet, uns viele Richtungen vorzustellen, in die wir gehen können, brauchen wir ein Objekt totaler Hingabe, einen Brennpunkt für all unser Streben und zugleich eine Grundlage für unsere tatsächlichen [...] Werte. Wir brauchen ein solches Objekt der Hingabe, um unsere Energien in eine Richtung zu lenken, um unsere isolierte Existenz mit all ihren Zweifeln und Unsicherheiten zu transzendieren und unserem Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben, erfüllen zu können“ (Fromm 1976, S. 368). Transzendenz bedeutet „das Hin-ausgehen über das nur mit sich selbst beschäftigte Ich, die Befreiung unserer selbst aus dem Gefängnis unseres Egoismus, indem wir mit der Wirklichkeit in Beziehung treten. Verstehen wir Transzendenz in diesem Sinne, dann kann man sagen, dass unser Leben dann einen Sinn hat, wenn wir zur Transzendenz gelangen, wenn der Mensch sich also nicht auf eine selbst-süchtige und destruktive Weise narzisstisch bespiegelt. Sich ganz zu geben, ist der einzige Weg, selbst zu sein. Dieser paradoxe Satz ist nur scheinbar paradox“ (ebd., S. 387).

Frankl sieht parallel dazu die therapeutische Aufgabe der Existenzanalyse darin, „den Men-schen an seine Lebensaufgabe heranzubringen; denn er wird dann um so eher und leichter von der Neurose frei werden“ (Frankl 2005b, S. 217). Daher hat die „Freiheit zu“, d.h. die „Ent-scheidung für“ eine Lebensaufgabe womöglich der „Freiheit von“ (der Neurose) voranzuge-hen. Seine Ansicht stützt Frankl auf eine Aussage des amerikanischen Psychologen Gordon W. Allport, der „den Mut hatte zu erklären: ‚Wirkliche Neurosen, wir wissen, werden am bes-ten definiert als sture Selbst-Zentriertheit. Kein Therapeut kann eine Phobie, Zwangsneurose, Vorurteil oder Feindseligkeit dadurch heilen, dass er etwas wegnimmt. Was er tun kann, ist, dem Patienten zu einer Wert- und Weltanschauung verhelfen, die den Störfaktor zudeckt und aufsaugt’“ (ebd., S. 217f.). Wenn ein Klient nun dem Therapeuten vorhält, er wisse nicht um den Sinn seines Lebens, dann kann jener „nur erwidern, dass seine erste, nächstliegende Aufgabe darin besteht, zu der eigentlichen Aufgabe hinzufinden und zum Sinn des Lebens [...] vorzustossen“ (ebd., S. 103). Nach Frankl kommt es sonach darauf an, „den Menschen seine Verantwortlichkeit für die Erfüllung je seiner Aufgaben erleben zu lassen; je mehr er den Aufgabencharakter des Lebens erfasst, um so sinnvoller wird ihm sein Leben erscheinen“ (ebd., S. 105). Das Sein des Lebens wird in der Existenzanalyse also hingestellt als Verant-wortlichsein – und zwar „ein Verantwortlichsein für die Verwirklichung von Werten“ (ebd., S. 105). Dabei kommt es zu einer kopernikanischen Wendung, d.h. nicht der Mensch stellt die Fragen, sondern „er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu verantworten hat “ (ebd., S. 107). In dieser Verantwortung des Daseins erfolgt die Beantwortung der Lebensfragen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das polare Spannungs-feld zwischen Sein und Sollen. Der Mensch steht im Angesicht von Sinn und Werten. Dabei ist der Sinn der „Schrittmacher des Seins“ (Frankl 2005b, S. 114), und Werte wiederum sind die Bausteine zum Sinn. Die Noodynamik umfasst die intentionale Spannung des Seins hin auf einen Wert, der verwirklicht oder einen Sinn, der erfüllt werden soll. Mit anderen Worten, der Mensch verwirklicht einen Wert bzw. erfüllt einen konkreten Sinn, wodurch sich sein Sein erweitert und bereichert. Somit haben Werte und Ziele psychohygienisch eine wichtige Funktion, die beim Neurotiker nicht (mehr) gegeben ist. Es ist nämlich ein Kennzeichen neu-rotischen Daseins, der Konfrontation mit Sinn und Werten auszuweichen.

2.4 Das systemische Prinzip der Noodynamik

Die Logotherapie begreift das Menschsein „als in einem ‚Spannungsbogen zwischen Sein und Soll’ stehend. [...] Das Soll entstammt [...] der Erkenntnis eines sinnvollen Zieles, das zu verwirklichen jemandem erstrebenswert dünkt“ (Lukas 1986, S. 54f.). Beim Menschen steht damit „hinter dem Wollen kein unbewusstes Müssen, sondern es steht vor dem Wollen ein be-wusstgewordenes Sollen“ (Lukas 1989, S. 230). Da die Verwirklichung von Werten „die Frei-heit voraus[setzt], ein Wertangebot anzunehmen oder abzulehnen, eine Wertmöglichkeit zu verwirklichen oder zu verwirken“ (Frankl 2002a, S. 64), bedeutet aus logotherapeutischer Sicht an den Willen zum Sinn appellieren „den Sinn selbst aufleuchten lassen – und es dem Willen überlassen, ihn zu wollen“ (Frankl 2005b, S. 112). Frankl spricht in diesem Zusam-menhang von der bedingten Unbedingtheit des Menschseins: „’Der unbedingte Mensch’ ist zunächst der Mensch, der unter allen Bedingungen Mensch ist und auch noch unter den un-günstigsten und unwürdigsten Bedingungen Mensch bleibt. [...] Im Sinne dieser Begriffsfas-sung ist der Mensch insofern ein unbedingter, als er in seiner Bedingtheit ‚nicht aufgeht’; in-sofern, als keine Bedingtheit imstande ist, den Menschen vollends ‚auszumachen’; insofern, als sie ihn zwar konditioniert, aber nicht konstituiert“ (Frankl 2005a, S. 66). D.h. der unbe-dingte Mensch ist in der Lage, jederzeit zu den vorzufindenden Gegebenheiten Stellung zu nehmen. Unter den Bedingungen des Menschseins stehend, trotzt der Mensch den Bedingun-gen, denen er ausgesetzt ist. Im ontologischen Sinne „ist der Mensch jedoch nur bedingt ein un-bedingter: er kann un-bedingt sein, aber er muss es nicht sein. Demgegenüber würde die analoge ethische Formulierung lauten: Er muss es zwar nicht sein, aber er soll es sein. [...] Der faktischen Bedingtheit des Menschen steht seine fakultative Unbedingtheit gegenüber“ (ebd., S. 66f.).

Fromm hat gegenüber dem Freiheitsbegriff eine weniger radikale Ansicht. Er ist der Überzeu-gung, „dass ein Grossteil der Prägung in den ersten fünf Lebensjahren stattfindet und dass diese Jahre deshalb für die Entwicklung eines Menschen besonders wichtig sind“, doch ist er „auch davon überzeugt, dass viele andere Dinge, die sich später ereignen, ebenso wichtig sind und den Menschen verändern können. [...] Es lässt sich immer zeigen, dass es für die Ent-wicklung eines Menschen bereits bestimmte Element in seiner Kindheit gibt, die den Grund für später legen; andererseits aber verstärken oder schwächen spätere Ereignisse diese Ele-mente“ (Fromm 1974a, S. 269). Damit bestreitet Fromm nicht, dass spätere Ereignisse nicht ihren Beitrag leisten. Gleichzeitig aber grenzt er sich klar von Freud ab, indem er dessen The-orie des Wiederholungszwangs ablehnt, „derzufolge sich die wichtigsten Dinge in den ersten fünf Lebensjahren ereignen und alles, was danach passiert, reine Wiederholung des Früheren ist“ (ebd., S. 269). Dieser Standpunkt ist Fromm zu mechanistisch, denn „alles, was sich er-eignet, führt dazu, dass sich etwas ändert“ (ebd., S. 269), wenngleich er einschränkend die Wirkung des konstitutionellen Faktors unterstreicht, denn die Freiheit der Wahl ist für Fromm „keine formale, abstrakte Fähigkeit, die man entweder ‚hat’ oder ‚nicht hat’; es handelt sich dabei vielmehr um eine Funktion der Charakterstruktur. Gewisse Menschen besitzen nicht die Freiheit, sich für das Gute zu entscheiden, weil ihre Charakterstruktur die Fähigkeit verloren hat, dem Guten entsprechend zu handeln.[15] Manche haben auch die Fähigkeit verloren, sich für das Böse zu entscheiden, weil ihre Charakterstruktur das Verlangen nach dem Bösen ver-loren hat. In diesen beiden extremen Fällen kann man sagen, dass beide in ihrem Handeln de-terminiert sind, weil ihnen das Gleichgewicht der Kräfte in ihrem Charakter keine Wahl lässt. Bei den meisten Menschen jedoch haben wir es mit einander widersprechenden Neigungen zu tun, die so ausgewogen sind, dass sie wählen können. Wie sie handeln, hängt dann von der je-weiligen Stärke der widerstreitenden Neigungen ihres Charakters ab“ (Fromm 1964a, S. 253). Fromm vertritt „prinzipiell die Auffassung, dass frühere Ereignisse einen Menschen zwar nicht determinieren, aber ihn geneigt sein lassen: Nichts von dem, was früher passierte, hat meiner Meinung nach eine notwendig determinierende Kraft, aber es richtet ihn in eine be-stimmte Richtung aus, und je länger jemand in diese Richtung geht, desto mehr ist er geneigt, eben dieser Richtung zu folgen, so dass es schliesslich nur noch durch ein Wunder zu einer Änderung seiner Richtung kommen könnte“ (Fromm 1974a, S. 269). Was Fromm damit sa-gen will, ist folgendes: Unsere Entscheidungsfähigkeit steht immer in Verbindung mit unserer Lebenspraxis. „Je länger wir bereits falsche Entscheidungen getroffen haben, um so mehr ‚verhärtet’ sich unser Herz; je öfter wir die richtige Entscheidung treffen, um so ‚weicher’ wird unser Herz oder besser gesagt, um so lebendiger wird es“ (Fromm 1964a, S. 255f.).

Es ist das Charakteristikum der geistig bedingten Motivation (Noodynamik), dass es sich um eine freie und keine getriebene Entscheidung handelt. Die Sinnverwirklichung im logothera-peutischen Verständnis ist also wesentlich fakultativer Natur: „Selbstverständlich kann nicht die Rede davon sein, dass die Logotherapie dem Leben des Patienten einen Sinn gibt. Den muss der Patient selbst und selbständig finden. Es kann nicht einmal davon die Rede sein, dass die Logotherapie dem Patienten einen Willen zum Sinn einflösst. Der muss keimen, und er keimt, sobald sich ihm ein Sinn anbietet. Man kann niemandem befehlen, [...] einen Willen zum Sinn zu haben. Der Wille zum Sinn ist vielmehr ein intentionaler Akt, der sich nicht sel-ber und seinerseits intendieren lässt. Soll er zustande kommen, dann muss ein Objekt gegeben sein“ (Frankl 1972, S. 183). Selbst Freud wusste um den fakultativen Aspekt des Mensch-seins, erklärte ihn aber zum normativen Prinzip: „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud 1933, S. 86). Der Mensch soll also versuchen, Es (die irrationalen Leidenschaften und Illusionen) durch Ich (Vernunft und Liebe) „zu ersetzen, soweit er dazu imstande ist. Denn je erfolg-reicher er in diesem Bemühen ist, desto eher vermeidet er neurotisches und [...] existentiell unnötiges Leiden“ (Fromm 1970c, S. 66). Fromm hält in bezug auf den fakultativen Charakter des menschlichen Daseins fest: „Das Hauptprinzip der Selbstbestimmung besteht darin, dass Autorität durch Freiheit ersetzt wird; das Kind lernt, [...] indem an seine Neugier und seine spontanen Bedürfnisse appelliert und auf diese Weise sein Interesse an der Umwelt geweckt wird“ (Fromm 1960a, S. 409). Als einzige Autorität anerkennt er „des Menschen eigene Stim-me, der Wächter unserer Integrität“ (Fromm 1950, S. 276).

Die Logotherapie weiss, dass Freiheit ohne Verantwortung nicht zu haben ist. Diese zwei Werte stehen leider allzu oft nicht in einem gesunden Mass zueinander, wie auch Lukas fest-gestellt hat: Besonders bedrängend wurde die Sinnsuche in unserem 20. Jahrhundert, weil sich die zivilisierte Menschheit „in einem plötzlichen Freiraum ungeahnten Ausmasses wiederfin-det, dem sie von ihrer Reifestruktur her noch nicht gewachsen ist“ (Lukas 1995, S. 13). Der „Begriff ‚Freiheit’ ist letzen Endes ein Wertbegriff, und Werte setzen nun einmal voraus, dass sie als solche von einem Individuum wahrgenommen und verstanden werden können. Ohne diese Voraussetzung schwindet ihre praktische Bedeutung. [...] Geistige Freiheit, ist um so mehr ein sinnvoller Wert für Menschen, je reifer das Denken dieser Menschen ist“ (ebd., S. 16). Frankl warnt deshalb davor, „dass wir doch bedingungslos für die Freiheit der Meinung und ihrer Äusserung in Wort und Schrift einzutreten und uns einzusetzen haben. Ich bin gegen das ‚bedingungslos’. Denn Freiheit ist nicht das letzte Wort. Sondern Freiheit droht in Willkür auszuarten, wofern sie nicht in Verantwortlichkeit gelebt wird“ (Frankl 2003, S. 114).

Fromm ist zum gleichen Befund gekommen: Der „moderne Mensch, der frei ist von Bindun-gen an das Mittelalter, war noch nicht frei genug zum Aufbau eines sinnvollen Lebens, das sich auf Vernunft und Liebe gründet“ (Fromm 1955a, S. 5). Damit stellt sich die ethisch äus-serst schwierige Frage, was man bei einem ungesunden Ungleichgewicht tun soll, wenn z.B. der Mensch nicht aus freien Stücken Verantwortung für sich selbst und die Mitwelt zu tragen bereit ist. Die Lösung kann allein nur darin liegen, dass der Mensch seine Wahl freiwillig einer Überprüfung nach dem Sinn unterwirft. Dann nämlich „findet die Beliebigkeit abrupt ein Ende, denn der Sinn ist kein willkürlich setzbarer. Wahrer Lebenssinn ist produktiv, le-bensbejahend“ (Lukas 1999, S. 147f.). Dies stellt eine Annäherung an Fromms normativen Standpunkt dar.

Die Entwicklungspsychologie weiss, „dass ‚Sinnentnahme’ auf einer höheren Entwicklungs-stufe steht als ‚Sinngebung’“ (Frankl 2005b, S. 107), weshalb die Logotherapie den Men-schen in der Fähigkeit der selbständigen Sinnfindung mittels kopernikanischer Wende be-stärkt: „Wir sind nicht die Fragenden – wir sind die vom Leben her Befragten. Wir sind die-jenigen, die dem Leben zu antworten haben – auf unsere beste Weise. [...] Was auch kommen mag, ob es uns gefällt oder nicht, sind wir aufgerufen zur ‚Sinnentnahme’. Eine sinnvolle und verantwortbare Antwort auf die Fakten des Lebens zu geben, ist höchste Lebenskunst“ (Frankl & Lukas 2005, S. 18). Man könnte sagen: Die reife Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er die kopernikanische Wende vollzogen hat.

Demgegenüber spricht Fromm von Sinn gebung: „Der Mensch muss die Verantwortung für sich selbst akzeptieren und sich damit abfinden, dass er seinem Leben nur durch die Entfal-tung seiner eigenen Kräfte Sinn geben kann. [...] Sieht er der Wahrheit furchtlos ins Auge, dann erfasst er, dass sein Leben nur den Sinn hat, den er selbst ihm gibt, indem er seine Kräfte entfaltet“ (Fromm 1947, S. 33). Damit scheint sich eine grosse Differenz zwischen Frankl und Fromm aufzutun. Zwei Dinge sprechen jedoch gegen eine solche Kluft. Einerseits vollzieht Fromm dadurch, dass er die Sinngebung vorgibt – die Verwirklichung der Eigenkräfte (Ver-nunft und Liebe) eines Organismus – ebenfalls eine kopernikanische Wende. Und andererseits muss Fromms Wortbestimmung im humanistischen Kontext interpretiert und verstanden wer-den. Für den Humanisten Fromm ist der Mensch „das Mass aller Dinge“ (Fromm 1962b, S. 130), und als solcher kann ihm keine Autorität irgendeinen Sinn aufzwingen: „Kein Gott, weder im theologischen noch im philosophischen noch auch im historischen Gewand, errettet oder verdammt den Menschen. Nur der Mensch allein kann für sein Leben ein Ziel und die Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels finden“ (Fromm 1962b, S. 152). In diesem Zusam-menhang muss auf eine wichtige Unterscheidung zwischen Frankl und Fromm hingewiesen werden. Für Fromm ist der Mensch wesentlich Selbstzweck. Darunter versteht er nichts weni-ger als die Tendenz eines lebendigen Organismus, seine Eigenkräfte zur Entfaltung zu brin-gen (beim Menschen sind dies: Liebes- und Vernunftfähigkeit). Darin sieht er den Sinn des Lebens. Dies ist mit Blick auf die politisch bzw. ökonomisch bedingte Ausbeutung des Men-schen von grosser Wichtigkeit. Besonders der Kapitalismus befeuert die Entfremdung des Menschen, indem sie diesen zum Mittel zum Zweck degradiert. Fromms Selbstzweck kann mit diesem Hintergrund abgegrenzt werden von einem Selbstzweck im Sinne des Egoismus oder Narzissmus. Frankl dagegen lehnt den Selbstzweck als Sinn des Lebens ab, wobei er den Selbstzweck mit Egoismus und Narzissmus assoziiert. Sein Menschenbild ist deshalb so kon-zipiert, dass der Sinn des Lebens über den Selbstzweck hinausgeht: „Was wäre mein Leben, wenn es Selbstzweck wäre? Sinnlos. Ich behaupte ja nicht, dass ich frei von weiss Gott wel-chen unbewussten Motiven bin. Ich behaupte nur, dass ich erst dann und nur dort als reifer Mensch handle, wo solche Motive nicht zum Zug kommen. Wollte ich etwas um des blossen Vergnügens willen tun, dann würde ich sogar Schiffbruch erleiden.“ (Frankl 1972, S. 210). Der Sinn liegt für Frankl ausserhalb des Selbst, ihn gilt es in der Welt da draussen zu entdek-ken. Fromm dagegen sieht die Aufgabe des Menschen sehr wohl als Selbstzweck, nämlich in der Entfaltung der Eigenkräfte (Vernunft- und Liebesfähigkeit). Frankl hat aus der Perspek-tive Fromms nicht erkannt, dass der Sinn des Lebens im Menschen selbst angelegt ist. Der Punkt ist folgender: Mit der Selbsttranszendenzfähigkeit überwindet Frankl den Egoismus und Narzissmus. Um aber nicht irgendwelchen autoritären Tendenzen zu verfallen – was eines der Hauptanliegen Fromms war –, greift Frankl wiederum auf das Selbst, auf die Stim-me des Gewissens, zurück.

Nach all dem, was bisher gesagt wurde, muss man eingestehen, dass die geistigen Kräfte und Fähigkeiten nicht jederzeit verfügbar sind. Sie werden erst aktiviert bei der (reifebedingten) Wahrnehmung von Sinn. Der Wille allein genügt nicht, er kann nämlich auch widersinnig sein. Stattdessen gilt: „Man kann, wenn man weiss, warum man (im eigenen Auftrag) soll. Das heisst, wenn hinter dem Willen ein [sinnvolles] Wozu steht, [...] das einem persönlich so wichtig und wertvoll dünkt, dass man es im eigenen Auftrag unbedingt erreichen möchte, dann sprudelt die Energiequelle der geistigen Potentialität“ (Lukas 1999, S. 104f.). Dies be-dingt ein Gespür für das Notwendige, für die Aufgaben, die darauf warten, aufgegriffen zu werden. Freilich, dieses „Gespür für das Notwendige setzt eines voraus: wir müssen den Blick von uns selber lösen. [...] Wir erfüllen den Sinn des Augenblicks nie lediglich zu unserer eige-nen Selbstverwirklichung, sondern um eine menschenwürdige Zukunft für alle zu verwirk-lichen. [...] Wir sind nicht nur für uns selbst verantwortlich, sondern wir sind Teil der Welt und tragen damit Weltverantwortung“ (Lukas 1990, S. 106ff.). Frankl anerkennt diese Welt-verantwortung: „Sofern es kollektive Verantwortung gibt, kann sie nur eine planetarische sein“ (Frankl 1972, S. 100).

[...]


[1] Die weibliche Form ist implizit immer mitgemeint. Aus stilistischen Gründen wird jedoch jeweils nur die männliche Form verwendet.

[2] Der Mensch als Selbstzweck anstelle eines Mittels zum Zweck.

[3] Siehe dazu mehr in Kapitel 2

[4] Man kann aufgrund der hochgradigen Binnenverdrahtung Wahrnehmung, Kognitionen, Emotionen und Verhalten nicht mehr trennen. Von dieser Überlegung geht auch Luc Ciompi (1982, 1997) mit seinem Konzept der „Affektlogik“ aus. Der Terminus „Affektlogik“ besagt, „dass die ‚Logik’ und die ‚Affekte’ eng miteinander verbunden sind und [...] voneinander los-gelöst gar nicht vorkommen.“ (Ciompi 1982, S. 47).

[5] Dies entspricht der logotherapeutischen Selbstdistanzierungs-Fähigkeit.

[6] Unter „Vernunft“ versteht Fromm „die Fähigkeit, die Dinge so zu erkennen, wie sie sind, ohne Rücksicht darauf, wie wertvoll oder wie gefährlich sie für uns sind. Vernunft zielt auf die Erkenntnis von Dingen und Menschen in ihrem So-sein ab, ohne dass sie von unserem subjektiven Interesse entstellt werden“ (Fromm 1979, S. 298f.). Diese „innere Befreiung, die Freiheit von den Fesseln von Gier und Illusionen, [ist] untrennbar verbunden mit der optima-len Entwicklung der Vernunft“ (Fromm 1989, S. 399).

Fromm führt diese Begabung auf das Wachstum des Gehirns zurück. Der Homo sapiens ist „mit einer grösseren und komplexeren Hirnstruktur, insbesondere mit einem Neocortex, der dreimal so gross ist wie der unserer Primaten-Vorfahren, und einer immensen Zahl interneu-ronaler Verbindungen“ (Fromm 1976, S. 366f.) ausgestattet. Vgl. hierzu auch Kapitel 1.3.1 Exkurs Wahrnehmungspsychologie.

[7] Sehr ähnlich ist in diesem Zusammenhang das Konzept von Riemann (2013). Seiner Dar-stellung nach ist der Mensch „vier grundlegenden Forderungen ausgesetzt, die wir als einan-der widersprechende und doch zugleich sich ergänzende Strebungen in uns wieder finden“ (ebd., S. 13f.). Die vier Forderungen sind: Der Mensch soll 1. ein einmaliges Individuum wer-den, 2. sich der Welt und den Mitmenschen vertrauend öffnen, 3. die Dauer anstreben und 4. bereit sein, sich jederzeit zu wandeln. Sowohl aus den Forderungen 1 und 2 als auch aus den Forderungen 3 und 4 ergeben sich zwei paradoxe Zumutungen. Die erste Antinomie (ausge-löst durch die Forderungen 1 und 2), die uns das Leben auferlegt, lautet: „Wir sollen sowohl die Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung leben als auch die Selbsthingabe und Selbst-vergessenheit, sollen zugleich die Angst vor der Ich-Aufgabe wie die Angst vor der Ich-Wer-dung überwinden“ (ebd., S. 15). Die zweite Antinomie (ausgelöst durch die Forderungen 3 und 4), vor welche das Leben uns stellt, besteht darin „dass wir zugleich nach Dauer und nach Wandlung streben sollen, dass wir dabei sowohl die Angst vor der nicht aufzuhaltenden Vergänglichkeit wie die Angst vor der unausweichlichen Notwendigkeit überwinden müssen“ (ebd., S. 17). Diese vier Forderungen bzw. Grundimpulse gehören unauflöslich zum mensch-lichen Leben, und sie ergänzen bzw. widersprechen sich paarweise: „Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung“ (ebd., S. 17). Es handelt sich dabei „letztlich um die vier verschiedenen Arten des In-der-Welt-Seins“ (ebd., S. 20). Die zwei paradoxen Zumutungen entsprechen ziemlich genau der existentiellen Dichotomie von Fromm.

[8] Frankl würde sagen: dem psychisch-geistigen.

[9] Fromm (1989) revidierte später den Begriff und nannte seine Psychotherapieform Transthe-rapeutische Psychoanalyse.

[10] vgl. Neisser (1979), Anderson (2007), Haken & Schiepek (2006)

[11] vgl. Ciompi (1997)

[12] vgl. Grawe & Caspar (2012)

[13] Mit „Vernunft“ meint Fromm „das Denken, das die Welt erkennen will, wie sie ist, im Ge-gensatz zur instrumentellen Vernunft, mit der wir Bedürfnisse befriedigen. Der Zusammen-hang zwischen Freisein von Gier und Primat der Vernunft ist ein wesensnotwendiger. Wir können nur vernünftigt sein, wenn wir nicht von Gier überflutet werden. Wer Gefangener sei-ner irrationalen Leidenschaften ist, verliert die Fähigkeit zu Objektivität und ist gezwungener-massen seinen Leidenschaften ausgeliefert“ (Fromm 1989, S. 399).

[14] vgl. hierzu Hubble et al. (2001)

[15] vgl. Schopenhauer: „Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen was er will.“

Ende der Leseprobe aus 169 Seiten

Details

Titel
Logotherapie und Psychoanalyse im Dialog. Auf dem Weg zum Verständnis des menschlichen Verhaltens und Erlebens
Untertitel
Erkenntnistheoretische Ansätze nach Erich Fromm und Viktor Frankl
Veranstaltung
Psychotherapieausbildung
Note
6.0
Autor
Jahr
2017
Seiten
169
Katalognummer
V383638
ISBN (eBook)
9783668589858
ISBN (Buch)
9783668589865
Dateigröße
1437 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
logotherapie, psychoanalyse, dialog, verständnis, verhaltens, erlebens, erkenntnistheoretische, ansätze, erich, fromm, viktor, frankl
Arbeit zitieren
Patrick Lenherr (Autor:in), 2017, Logotherapie und Psychoanalyse im Dialog. Auf dem Weg zum Verständnis des menschlichen Verhaltens und Erlebens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383638

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