Erkenntnis, Wahrnehmung und Identität in der mittelalterlichen Erzähldichtung im Ritterepos "Paris" und "Vienna"


Seminararbeit, 2014

13 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Intention und Ziel der Arbeit

2. Paris und Vienna

3. Wahrnehmung, Erkenntnis und Identität

4. Fazit

5. Literatur
5.1. Primärliteratur
5.2. Sekundärliteratur

1. Intention der Arbeit

Paris und Vienna gehört zu den großen vergessenen Werken in der Geschichte mittelniederdeutscher Literatur. Während Reineke Fuchs und Till Eulenspiegel, zwei Musterbeispiele aus mittelniederdeutschen Zeiten, noch heute bekannt sind, fristet die 1488 erfolgte Übersetzung des in Frankreich entstandenen Paris und Vienna-Stoffs ein Schattendasein innerhalb der Literaturgeschichte. Paris und Vienna wurde nie in Hochdeutsche übersetzt.[1]

Dieses Ritterepos verzichtet trotz der für das 15. Jahrhundert typischen Diktion auf märchenhafte, phantastische und surreale Elemente. Gabriele Diekmann-Dröge sieht in eben dieser „mangelnde[n] Wundersamkeit der Geschichte“ ein Motiv für fehlendes Interesse im Laufe der Jahrhunderte.[2]

Hans-Jürgen Scheuer begreift mittelalterliche Texte als „Prozesse zur Erzeugung von Intensität“.[3] Die ungeheure Bedeutung, die das Sehen für mittelalterliche Menschen hatte, fand nicht nur in der Malerei, sondern auch in Dramatik und Epik Ausdruck. Paris und Vienna, eine mittelalterliche Ritterdichtung, deren mittelniederdeutsche Übersetzung[4] die Primärquelle dieser Arbeit bildet, weist analog zu der eben gemachten Feststellung mannigfaltige fundamentale Handlungselemente auf, die aus dem Erkennen oder gerade dem Nichterkennen der Protagonisten erwachsen.

Neben der Einordnung des Epos Paris und Vienna in die mittelalterliche Literatur und der Klärung des Stellenwerts des Werks soll das Hauptaugenmerk dieser Arbeit insbesondere auf der Beschreibung und Klärung der Phänomene Wahrnehmung, Erkenntnis und Identität liegen. Es ist auffällig, dass in Paris und Vienna (genau wie in anderen, noch zu erwähnenden mittelalterlichen Werken) viele Protagonisten einander nicht erkennen und die Zusammenhänge nicht verstehen. Sind diese Merkmale dem dramaturgischen Bestreben des Autors / der Autoren geschuldet oder geben sie Auskunft über die Fähigkeit mittelalterlicher Menschen, sich und andere zu verstehen?

Es werden prägnante, das angestrebte Themenspektrum dieser Arbeit abdeckende Textpassagen aus der mittelniederdeutschen Übersetzung von Paris und Vienna herangezogen. Mittels ihrer Interpretation im Kontext des Gesamttextes und unter Berücksichtigung der Meinungen germanistischer Forscher, die sich mit Paris und Vienna und dem Identitätsbegriff im Mittelalter insgesamt auseinandersetzten, soll versucht werden, die angeklungenen und noch zu nennende Fragen zu beantworten.

2. Paris und Vienna

Paris und Vienna erschien in der mittelniederdeutschen Übersetzung als Inkunabeldruck[5] in der Antwerpener Werkstatt Gheraert Leeus[6] im Jahr 1488. Variationen und Übersetzungen des Stoffs sind in vielen europäischen Nationalliteraturen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit vertreten.

Den Mittelpunkt des im 13. Jahrhundert angesiedelten Epos bildet die Liebesgeschichte zwischen den Titelhelden Paris und Vienna, die ihre Gefühle gegen die Einflüsse von Familie und Gesellschaft verteidigen. Paris, ein adliger, tugendhafter Ritter, verliebt sich in die Königstochter Vienna und wirbt mittels eines nächtlichen Ständchens vor dem Fenster ihrer Gemächer um sie. In einem Turnier besiegt er - verkleidet und auch für seine Angebetete nicht erkennbar - alle anderen teilnehmenden Ritter nieder, um Viennas Ruf als schönste Jungfrau der Welt zu proklamieren. Vienna kommt hinter die Identität des Siegers, als sie Paris‘ erkrankten Vater besucht und im Zimmer des Sohnes die Siegtrophäen des Turniers findet. Paris, der sich zum Verdruss seines Vaters neuerdings meistens im Gefolge des Bischofs Sankt Laurentius befindet, trifft mit Vienna zusammen und beide gestehen sich ihre Liebe. Anschließend hält Paris‘ Vater Jacob im Namen seines Sohnes bei König Dolphin um die Hand Viennas an, aber der Versuch schlägt fehl. Paris und Vienna flüchten, weil sie keine andere Möglichkeit für ihr Glück sehen. Sie werden bald von den im Auftrag des Königs handelnden Verfolgern eingeholt. Paris flüchtet, während Vienna zu ihrem Vater zurückgebracht wird, den sie mit Unterstützung eines Geistlichen von ihrer gewahrten Unschuld zu überzeugen vermag. Dennoch wird sie gemeinsam mit ihrer Ziehschwester Isabelle im Kerker eingeschlossen. König Dolphin will sie unter Berücksichtigung seiner persönlichen und machttaktischen Interessen verheiraten. Eduard, der beste Freund Paris‘, übermittelt Vienna einen Brief, der sie wissen lässt, dass ihr Geliebter noch lebt. Das veranlasst sie dazu, potentielle Heiratskandidaten wie den Herzog von Burgund abzuschrecken; sie schmiert sich mit dem Gestank verfaulter Hühnchen ein. Paris lebt unterdessen in Italien, von wo aus für Jahre in den Nahen Osten geht, wo er als Vogelkundiger die Gunst eines Sultans erwirbt. Eines Tages wird König Dolphin in Alexandria als „Spion“ festgenommen. Er hält sich infolge des Beschlusses des Papstes, einen Kreuzzug zu beginnen, in der Region auf. Paris, der von der Gefangennahme erfährt, kann aufgrund seiner Beziehungen zum Herrscherhaus zu Dolphin reisen und ihn nicht zuletzt dank seiner Sprachkenntnisse befreien. Er wünscht sich als Belohnung die Hand von Vienna, was ihm Dolphin verspricht. Dieser erkennt Paris nicht wieder, weil er sich in der langen Zeit verändert hat. Als Paris nach vielen Jahren zu Vienna zurückkehrt und vorgibt, ein vom Vater gesandter Heiratsinteressent zu sein, stellt sie ihre Treue und Unschuld unter Beweis, indem sie den vermeintlichen Fremden mit ihrem Hühnertrick vergraulen möchte. Als Paris sich ihr offenbart, fallen sich beide in die Arme und lieben sich glücklich bis an ihr Lebensende.

Das beliebte mittelalterliche Motiv zweier sich von Kindheit oder Jugend an Liebender findet sich in Paris und Vienna wieder, ja dieses Motiv bildet überhaupt die Basis der gesamten Geschichte. Ein anderer Schwerpunkt von Paris und Vienna bildet letzthin auch die Motivation für diese Hausarbeit, nämlich die bereits in der Inhaltsdarlegung erkennbare Vielzahl von Momente des Verwechselns, Nichterkennens und Nichtdurchschauens. Gabriele Diekmann-Dröge stellt in ihrem Nachwort zur erstmaligen neuhochdeutschen Übersetzung von Paris und Vienna fest, dass der Handlungsverlauf voller Liebe, Gefahr bedeutender Trennung, Bewährung und Bewahrung der Unschuld strikt den „typische[n] Erzählmuster[n] des Spätmittelalters“ verpflichtet ist.[7] Man kann also schon jetzt die These vertreten, bei den eben erwähnten Handlungsmomenten von dramaturgischem Vorsatz und nicht von einer Abbildung realer Mängel ausgehen zu müssen. Im nächsten Kapitel dieser Arbeit wird diese These konkreter beurteilt werden.

Gabriele Diekmann-Dröge stellt außerdem fest, was jedem modernen Konsumenten ins Auge fällt, nämlich das hohe Maß an „Kitsch und Trivialität“.[8] Dennoch ist festzustellen, dass Paris und Vienna im Vergleich zu zeitgenössischen Arbeiten ohne mysteriöse, phantastische Akzente auskommt und nüchtern und realitätsnah wirkt – die Vorkommnisse sind durchaus als dramatisch überspritzt zu erkennen, aber fallen dennoch zumindest in den Bereich des Möglichen. Die Intention dieses Epos, eine gewisse Echtheit zu statuieren, lässt sich in den vielfachen Aufzählungen verschiedener Herrscher, die zum Beispiel Turniere besuchen oder als Heiratskandidaten für Vienna gelten, erkennen. Auf die Bedeutung der vielfach genannten, real nicht existierenden Herrscher wird ebenfalls noch zu kommen sein. Gabriele Diekmann-Dröge jedenfalls sieht in der „völlig fiktive[n] Datierung und womöglich auch fiktive[n] Personenkonstellation, die als Einleitung dien[en]“, ein besonderes Stilmerkmal historisierender Romane.[9]

3. Wahrnehmung, Erkenntnis und Identität

Nach den im vorangegangen Kapitel berücksichtigten allgemeinen inhaltlichen und einordnenden Feststellungen soll das Hauptaugenmerk auf dem Spektrum Wahrnehmung, Erkenntnis und Identität liegen. Die modernen Züge, die eine solche Herangehensweise bei der Analyse zu tragen scheint, haben auch bei mittelalterlichen Werken durchaus ihre Berechtigung.

Schon das Mittelalter war eine „Epoche der Visualität“.[10] Wie Horst Wenzel feststellt, bilden hoch- und spätmittelalterliche Epen nicht die erste, wohl aber eine unübersehbare Blüte „visuelle[r] Erfahrung[en]“. Das Auge, das sprichwörtliche Fenster der Seele und Perspektive sowohl des Erzählers als auch der Protagonisten, bleibt in mittelalterlichen Dichtungen auf das räumlich und zeitlich Nahe, also auf die Gegenwart fixiert und versucht laut Christel Meier, einzig und allein die „Macht der Gegenwart“ zu erfassen.[11] Barbara Stollberg-Rillinger hebt eine in Paris und Vienna vorliegende gewisse Gespaltenheit in der Wahrnehmung anhand der ambivalenten Visualisierung von Rang und Ansehen hervor.[12] So agiert Ritter Paris im Turnier als Maskierter. „Alle andere bannerheren unde riddere worden bekant by eren wapenen, uthgenamen dese twe riddere, in witten thogemahet.“[13] Paris ist ein Unbekannter, aber spätestens mit seinem Sieg (mit dem er sich rein äußerlich nicht verändert) und dem Empfang der Trophäen, sprich: dem Empfang der Insignien der Macht, erscheint er nicht mehr nur stark und herrschaftlich, sondern wird von Vienna als möglicher Anbeter identifiziert. Hier liegt eine besondere Ebene der Identifizierung vor: Vienna kann sich in der Rolle desjenigen, der ihr durch Minnesang seine Liebe gesteht, keinen anderen als einen besonders mutigen, besonders ehrenvollen Ritter vorstellen. Sie hat verinnerlicht, was ihr die Hofgesellschaft vorspielt: dass es besonders auf den (An-)Schein ankommt. Bei der höfischen Gesellschaft, in die die Geschichte um Paris und Vienna eingebettet ist, handelt es sich um eine Gesellschaft, die besonders auf kraftvolle Beweise von Macht und Reichtum fixiert ist. Laut Christel Meier war die Hofkultur des Mittelalters eine „Kultur des Zeigens“, in der ein „hoher Bedarf an Symbolisierung“ herrschte.[14]

Was Paris und Vienna mit zeitgenössischen Gattungsgeschwistern verbindet, ist besonders der dramaturgische Effekt der Übertreibung. Bereits das rudimentäre Gerüst der Handlung weist das aus: Paris wird als übermäßig stark, Vienna als unvorstellbar schön und ihre Liebe als ewig und unzerstörbar dargestellt. Die Intensität dieser Beurteilungen steht in seltsamem Kontrast zur Oberflächlichkeit der physiognomischen Beschreibung der Protagonisten. Die Identifizierung eines Menschen (auch für den Leser) läuft vielmehr ausschließlich über seine Taten und die sich daraus ergebenden Statussymbole und Besitztümer. So ist Ritter Paris zunächst ein einfacher Ritter, der kein Wappen trägt und den Wunsch des Hofvolks nach visueller Erfüllung nicht befriedigt. „Unde se ghat em dar den schilt van crystallen unde den rosenkrans myt eren henden.“[15] Erst der Empfang seiner Preise bildet die gesellschaftliche Ausstattung des unbekannten Ritters und macht ihn zu einem wahrnehmbaren, zuzuordnenden Mitglied.

[...]


[1] Die neuhochdeutsche Übersetzung erfolgte erst im Jahr 2001 auf Basis der von Axel Mante getätigten Veröffentlichung des mittelniederdeutschen Originals aus dem Jahr 1488. Wahle, Gerhard (2001): Paris und Vienna. Aus dem Niederdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Gerhard Wahle auf der Grundlage der von Axel Mate 1965 in Lund herausgegebenen niederdeutschen Fassung aus dem Jahre 1488. 1. Aufl. Stuttgart.

[2] Diekmann-Dröge, Gabriele (2001): Nachwort zur neuhochdeutschen Übersetzung von Paris und Vienna. In: Wahle, Gerhard: Paris und Vienna. Aus dem Niederdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Gerhard Wahle auf der Grundlage der von Axel Mate 1965 in Lund herausgegebenen niederdeutschen Fassung aus dem Jahre 1488. 1. Aufl. Stuttgart. S. 117-122. Hier S.117. Nachfolgend genannt: Dröge, Nachwort.

[3] Bleumer, Hartmut und Patzold, Steffen (Hrsg.) (2010): Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. 1. Aufl. Köln, Weimar, Wien. Hier S. 155.

[4] Mante, Axel (Hrsg.) (1965): Paris und Vienna. Eine niederdeutsche Fassung aus dem Jahr 1488 aus der Universitätsbibliothek Uppsala. Teil der Lunder Germanistischen Forschungen. 1. Aufl. Lund, Kopenhagen. Nachfolgend genannt: Mante, PuV.

[5] Auch Wiegendruck genannt.

[6] Auch bekannt als Gerard Leeu (1445 oder 1450-1492).

[7] Siehe Dröge, Nachwort, S.118.

[8] Siehe Dröge, Nachwort, S.118.

[9] Siehe Dröge, Nachwort, S.118.

[10] Definition verwendet in Wenzel, Horst (2009): Spiegelungen. Zur Visualität im Mittelalter. 1. Aufl. Berlin.

[11] Meier, Christel (1990): Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorien und Bildstrukturen im Mittelalter. In: Harms, Wolfgang (Hrsg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposium 1988. Stuttgart. S.35-65. Hier: S.55. - Weiteres dazu: Lechtermann, Christine und Morsch, Carsten (Hrsg.) (2004): Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. In: Publikation zur Zeitschrift Germanistik 8. Bern. S.91-101.

[12] Stollberg-Rilinger, Barbara (2004): Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe - Thesen - Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31. S. 489-516. Hier S.513.

[13] Mante, PuV, Kap. V, S.18.

[14] Meier, Malerei, S. 64.

[15] Mante, PuV, Kap. VI, S.21.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Erkenntnis, Wahrnehmung und Identität in der mittelalterlichen Erzähldichtung im Ritterepos "Paris" und "Vienna"
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
13
Katalognummer
V383379
ISBN (eBook)
9783668611634
ISBN (Buch)
9783668611641
Dateigröße
503 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erkenntnis, wahrnehmung, identität, erzähldichtung, ritterepos, paris, vienna
Arbeit zitieren
Niels Menzel (Autor:in), 2014, Erkenntnis, Wahrnehmung und Identität in der mittelalterlichen Erzähldichtung im Ritterepos "Paris" und "Vienna", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383379

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