Rotkäppchen. Ein Vergleich der deutschen Fassung der Gebrüder Grimm und der französischen von Charles Perraults


Hausarbeit, 2015

51 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zum Begriff Märchen

3 Über das Erzählen – Eigenschaften des Handlungsmusters

4 Charakteristika des Märchens Rotkäppchen
4.1 Französisch
4.1.1 Hintergrund
4.1.2 Charaktere
4.1.3 Inhalt
4.1.4 sprachliche Mittel
4.2 Deutsch
4.2.1 Hintergrund
4.2.2 Charaktere
4.2.3 Inhalt
4.2.4 sprachliche Mittel

5 Erzähltypologie
5.1 Vorausgegangener Diskurs
5.2 Involvierung in das vergangene Geschehen
5.3 Erfahrungsstruktur
5.4 Erzählstruktur
5.4.1 Eingliederung der französischen Version
5.4.2 Eingliederung der deutschen Version

6 Analyse der Protagonistin Rotkäppchen

7 Fazit

Anhang
a. Charles Perrault: Le Petit Chaperon Rouge
b. Jacob und Wilhelm Grimm: Rotkäppchen
c. Numerische Gegenüberstellung Französisch – Deutsch

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der sprachvergleichenden Textanalyse des Märchens „Rotkäppchen“: zum einen werden strukturellen und sprachlichen Eigenschaften der Erzählung besonderes Gewicht zugetan. Zum anderen steht die Darstellung der Protagonistin Rotkäppchen im gleichnamigen Märchen im Mittelpunkt. Hierfür wird das französische Original « Le Petit Chaperon Rouge » von Charles Perrault (1628-1703) in « Histories ou Contes du temps passé. Avec des Moralitez » aus dem Jahre 1697 der deutschen Fassung von Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm aus ihrem Band „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 gegenübergestellt.

Die Fragestellung thematisiert die Deckungsgleichheit der Märchen. Das Ziel dieser Arbeit ist, herauszufinden, ob es sich um ein und dieselbe Geschichte handelt. Kurzum, der Hypothese nachgehend, dass die über hundert Jahre später erschienene deutsche Version der Gebrüder Grimm keine Übersetzung ist, sondern eine Form von Bearbeitung repräsentiert.

Zunächst soll jedoch ein Einblick in das Genre Märchen (Kapitel 2), welches den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellt, gegeben werden. Daraufhin wird kurz auf das Handlungsmuster Erzählen eingegangen, welches den Anfang jedes Märchens bildet (Kapitel 3). Nach den Begriffsdefinitionen werden französischer sowie deutscher Hintergrund der Geschichten geklärt und die Aktanten instruiert (Kapitel 4). Ferner werden die in 2. und 3. kennzeichnenden Mittel in den beiden Märchen überprüft (4.1.4 und 4.2.4). Für die Gegenüberstellung der beiden Märchen sind diese Vorbearbeitungen von enormer Relevanz.

Es folgt die erste Analyse (Kapitel 5), die Typisierung beider Erzählungen, welche mit globalem Rahmen erste Erkenntnisse über die Kongruenz der zwei Fassungen geben soll. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der Untersuchung der Erzählstruktur (5.4). Dieser Art von Makroanalyse nachkommend, ist eine zweite Analyse, die sich speziell mit der Protagonistin Rotkäppchen (Kapitel 6) befasst, vorgesehen. Nebst kontrastiver Textanalyse, in dem Sinne, wie das Mädchen in den jeweiligen Sprachen dargestellt wird, zählt hierzu ebenfalls eine vergleichende Diskursanalyse, also auf Ebene der direkten Rede Rotkäppchens. Mithilfe dieser Mikroanalyse kann auf tiefster Ebene über eine Analogie der Märchen geurteilt werden.

Final soll für die in den Untersuchungen erzielten Ergebnissen, die Hypothese wieder aufnehmend, beurteilt und nachgewiesen werden, ob es sich bei der deutschen Version der Gebrüder Grimm um eine Übersetzung oder aber eine Adaption der französischen Quelle handelt.

Der Anhang ist so konstituiert, dass zunächst die jeweiligen Märchen aufgeführt werden (a und b), wobei erstere, das Französische (a), mit einer Übersetzung versehen wurde. Schließlich werden beide numerisch in tabellarischer Form gegenübergestellt, dergestalt, dass sie in ihrer Beschaffenheit zueinander passen. Zusätzlich ist in diesem Fall der französischen Version eine wortgetreue, also der Syntax missachtende, Übersetzung hinzugefügt. Während erstere beide (a und b) hier der Vollständigkeit halber angehängt werden, dient letztere, die Gegenübergestellung (c), dem besseren Verständnis sowie der Nachvollziehbarkeit der Analysen innerhalb dieser Arbeit und dem Ausgleich des Volumens insgesamt.

2 Zum Begriff Märchen

Als Einführung in die Thematik soll die literarische Gattung des Märchens kurz dargestellt werden. Aufgrund der Vielzahl an Literatur liegen divergierende Ansätze vor. Für die Begriffsdefinition im Speziellen wird sich hauptsächlich auf Max Lüthi konzentriert, der in seinem Band „Märchen“ von 1990 Gleichnamiges unter Berücksichtigung mehrerer Definitionen beleuchtet.

Märchen, synonym zu Märlein, bilden die Diminutiva von Mär, welches wiederum für Kunde, Bericht, Erzählung oder Gerücht verwendet wird. Aufgrund der Verkleinerungssuffixe „-chen“ und „-lein“ war der Begriff vorerst mit einem negativen Status behaftet, der seine Eigenschaften in unwahren und erfundenen Geschichten sieht. Unter französischem Einfluss im 18. sowie der Erscheinung deutscher Werke im 19. Jahrhundert, wandelte sich die Position in eine Positive um (Vgl. Lüthi 1990: 1). Als eine kurze Erzählung charakterisiert, lässt sich heutzutage zwischen Volks- und Kunstmärchen unterscheiden. Während erstere „längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist“, gehören letztere zur sogenannten Individualliteratur (Lüthi 1990: 5). Da es sich bei Rotkäppchen um ein Volksmärchen handelt (Vgl. 4), wird hier nicht weiter auf den Terminus Kunstmärchen eingegangen.

worden sind (Vgl. Lüthi 1990: 18). Dieses Typensystem, das erstmal 1910 erschien, ist unter folgenden Kodierungen bekannt: AaTh, ATh, AT, Mt (für Märchentypus) oder T (Vgl. Lüthi 1990: 18). Die beiden Märchenforscher klassifizieren nach folgendem Schema:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das hier untersuchte Märchen gehört zu der zweiten Gruppe (eigentliche Volksmärchen) mit der Untergliederung eines Zaubermärchens (tales of magic) sowie nochmals subkategorisiert in den Typus der sogenannten “Supernatural Adversaries” (übernatürliche Gegner) und trägt den Index 333 (Uther 2008: 63). Diese Art von Zaubermärchen zeichnen sich in ihren Figuren aus der „Über- oder Unterwelt“ aus, welche sich wiederum durch Merkmale, wie „Gut und Böse“, „schön und häßlich“, gegeneinander abgrenzen (Lüthi 1990: 31).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Forschung der Volksmärchen werden bedeutungsgleich Bezeichnungen, wie „Märchen im eigentlichen Sinn“ und „eigentliche Zaubermärchen“ verwendet. Diese
« contes proprement dits » oder “ordinary folktales” verkörpern den Typ der „Zauber- oder Wundermärchen“ (tales of magic, contes merveilleux), wie sie nach Antti Aarne standardisiert (Vgl. Lüthi 1990: 2-3) und von Stith Thompson bearbeitet sowie erweitert Für den finnischen Märchenforscher Aarne standen bei dieser Klassifizierung das Wunderbare und insbesondere das Übernatürliche im Vordergrund (Vgl. Lüthi 1990: 19).

Die Basis des Märchens im Allgemeinen bildet eine „knappe Benennung der Figuren und Requisiten“; ein schneller Verlauf der Handlung ist typisch (Lüthi 1990: 32). Ferner wird der „Umwelt der Figuren (Familie, Dorfgenossen, Landschaft) […]“ keinerlei Aufmerksamkeit zugetan („[…] soweit sie nicht handlungswichtig sind.“) (Lüthi 1990: 34). Dementsprechend ist es nicht ungewöhnlich, wenn die Akteure namenlos bleiben und ihre Bezeichnung durch ihre „Funktion“ erhalten (Vgl. Lüthi 1990: 31). Bei Rotkäppchen wären es beispielsweise die Mutter und die Großmutter; die Holzfäller « Bûcherons » in der französischen und der Jäger in der deutschen Fassung.

Vladimir Propp hält in seinem Werk „Morphologie des Märchens“, folgende Struktur fest:

Morphologisch gesehen kann als Zaubermärchen jede Erzählung bezeichnet werden, die sich aus einer Schädigung oder einem Fehlelement über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit oder anderen konfliktlösenden Funktionen entwickelt. Den Abschluß bilden manchmal auch Funktionen wie: Belohnung, Erbeutung des gesuchten Objekts oder Liquidierung des Unglücks allgemein, Rettung vor den Verfolgern usw. (Propp 1928;[1972]: 91).

Durch seine einzigartigen Strukturmerkmale, hebt sich das Zaubermärchen von anderen ab: Einerseits gibt es das Funktionspaar „ Gegenspieler – Sieg über ihn “ und anderseits zeigt sich ein „ Aufgabe – Lösung “ Schema (Propp 1928;[1972]: 99-100).

Neben diesen, gehören beispielsweise auch „Verbote“ und „Strafen“ zu den Grundzügen von Märchen (Lüthi 1990: 32-33). Sie erhalten ihre Form durch sogenannte „Formeln“, wie die bekannten Einführungs- und Abschlussklauseln: „Es war einmal – Die lebten nun glücklich, wir aber hier noch glücklicher“ (Lüthi 1990: 33) beziehungsweise „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“. Aber auch die Wiederholung direkter Rede sowie diese selbst in abgewandelter Form, verbunden mit der „Formel der Dreizahl“ oder dem „Gesetz der Steigerung“ charakterisieren das Märchen (Lüthi 1990: 33).

Bettelheim (1977) bringt zwei Prinzipien hervor: das Lust- und Realitätsprinzip, wonach die Handlungen der Protagonisten beeinflusst und gelenkt werden (Bettelheim 1977: 44-47). In seiner Publikation „Kinder brauchen Märchen“ erklärt der Autor die „Möglichkeiten des Fortschreitens“, also der Entwicklung von der Lusthingabe zum realistischen Agieren (Bettelheim 1977: 45). Mittelpunkt bildet neben der vorherrschenden Gerechtigkeit, die zum Schluss siegt, ebenfalls die Identifizierung des Lesers beziehungsweise Hörers mit dem Protagonisten beziehungsweise der Protagonistin, um zum Nachdenken anzuregen und „Intelligenz“ zu entwickeln (Bettelheim 1977: 46-47). Festzuhalten ist, dass Bettelheim sich auf Hörer-, wie auch auf Ebene der Märchenfiguren auf Kinder bezieht (Vgl. Bettelheim 1977: 44).

3 Über das Erzählen – Eigenschaften des Handlungsmusters

Nachdem nun die Typologie des Märchens näher beleuchtet wurde, soll in diesem Kapitel das Konzept des Erzählens kurz eingeführt werden.

Die mündliche Übermittlung von Erzählungen wird in erzählter und in realer Geschichte unterschieden. Während erstere das eigentliche Erzählen der Geschichte betrifft, spiegelt letztere die Geschichte, die erfahren wird, wider (Vgl. Rehbein 1980: 66). Die Voraussetzung für Erzählungen sind folglich vorausgegangene Handlungen (Vgl. Propp 1928;[1972]: 75, 98). Für Quasthoff wird eine Geschichte „erzählenswert“, sobald sie etwas Ungewöhnliches aufweist. Diese Art von „merkwürdiger Begebenheit“ (Fienemann 2005, Abb. 10: 259) bezeichnet Quasthoff als sogenannten „Planbruch“ (Quasthoff 1980). Hierauf wird in Kapitel 5.3 genauer eingegangen.

Entscheidend ist, dass das vergangene Ereignis szenisch wiedergegeben wird (Vgl. Rehbein 1989). Die Szenen entstehen durch vielfältige Gegenüberstellungen der Aktanten (Vgl. Stempel 1980). Somit ist das Erzählen durch eine „reproduzierte Realität“ gekennzeichnet und vor allem durch die „unmittelbare Rede“ geprägt (Rehbein 1984: 110). Die „vergangenen Handlungen werden Gegenwart“, sodass das kommunikative Ziel eines homeileïschen Diskurses[1] erfüllt wird (Rehbein 1984: 110). Der Erzähler weist demnach ein sogenanntes „partikuläres Erlebniswissen“ auf (Rehbein 1980: 69).

Die genannte Szenerie erhält ihren Charakter durch den Wechsel von sprachlichen Handlungen auf Tempusebene: Das „Geschehen erhält szenische Qualität“ durch das Verwenden von Präsens. Der Gebrauch von Vergangenheitsformen initiiert den “turn” einer sprachlichen Handlung, beispielsweise das Kommentieren des Erzählers (Rehbein 1984: 113). Diese daraus resultierende Aneinanderreihung von „sprachlichen Handlungen desselben Typs“ werden Assertionen genannt, welche demnach die Funktion der Wiedergabe und zusätzlich noch die Etablierung und die bewertende Wiedergabe übernehmen (Rehbein 1980: 76).

Zudem kennzeichnen sprachliche Mittel, wie die „schnelle Wechselrede“, das Handlungsmuster. Mittels verba dicendi, wie zum Beispiel „sagen“, werden „mündliche Äußerungen indiziert“ (Rehbein 1984: 112).

Mit den Funktionen des Erzählens beschäftigt sich intensiv Gliederungspunkt 5, nachdem über die inhaltliche, historische sowie sprachliche Beschaffenheit der hier untersuchten Märchenversionen aufgeklärt wurde.

4 Charakteristika des Märchens Rotkäppchen

4.1 Französisch

Mit seinem Oeuvre « Le Petit Chaperon Rouge » verfasste Charles Perrault 1697 ein Märchen, das von unseren heutigen Idealvorstellungen mit den Worten „Und wenn Sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ mehr als antonym zu sein scheint. In 38 Sätzen kreiert der französische Schriftsteller mittels 783 Wörtern eine Geschichte, die von Brutalität geprägt ist. Das unethische Handeln der Protagonistin unterstreicht Perrault mit einer Moral, bestehend aus zwei Sätzen, die sich reimend über 15 Zeilen erstrecken.

4.1.1 Hintergrund

Die Geschichte vom kleinen Mädchen, das durch den Wald zu seiner schwachen Großmutter geschickt wird und dabei dem bösen Wolf in die „Finger gerät“ ist ein allseits bekanntes und beliebtes Märchen. Es handelt sich hierbei um ein sogenanntes Volksmärchen (Vgl. 2) und ist dementsprechend nicht mit einem bestimmten „Erscheinungsjahr“ verknüpfbar. Jedoch wird als Ursprung die französische Variante von Charles Perrault aus seiner Märchensammlung « Histories ou Contes du temps passé. Avec des Moralitez » von 1697 angesehen (Vgl. Bettelheim 1977: 159; Uther 2008: 64). Bettelheim betont nichtsdestotrotz das Vorhandensein von inhaltlichen Parallelen, die im Mythos von Kronos oder aber in der lateinischen Geschichte – Fecunda ratis – von Egbart von Lüttich aus dem Jahre 1023 auftauchten:

So finden wir hier – sechshundert Jahre vor Perraults Geschichte – einige Grundelemente von Rotkäppchen: ein kleines Mädchen mit rotem Käppchen, die Gesellschaft von Wölfen, ein Kind, das lebendig verschlungen wird […] (Bettelheim 1977: 159).

Der konkrete Hintergrund ist auf Ereignisse und Schuldsprechungen von Männern im 16. und 17. Jahrhundert zurückzuführen. Diese sind, ähnlich wie bei der Hexenverbrennung, als Werwolf deklariert und darauf hin zum Tode verurteilt worden (Vgl. Zipes 1985: 20). Das Motiv für Perraults Werk liegt höchstwahrscheinlich dem Fall von Jacques Raollet aus dem Jahre 1598 zu Grunde, dem man die Ermordung von Kindern anprangerte (Vgl. Zipes 1985: 17).

Im Drehpunkt dieses Märchens steht der Konflikt zwischen dem Lust- und Realitätsprinzip (Vgl. Bettelheim 1977, 44-47; diese Arbeit 2). Die Zwietracht der Warnung vor dem Verführen und die Lust verführt zu werden stellen eine Tradition in dem „literarischen Diskurs“ Perraults dar (Richter 1987: 210). Ferner sind Termini, wie Sexualität oder Verführung, von bedeutender Relevanz: Sie galten als geistreich und doppelsinnig, was dem „überwiegend weiblichen Publikum“ gefiel und zum Schmunzeln anregte (Richter 1987: 205). Ohnehin repräsentieren die Hauptdarsteller zumeist weibliche Figuren – in der Geschichte selbst, wie auch in der Moral (Vgl. Richter 1987: 209). Der stetige Wechsel zwischen „Wunder und Aufklärung“ gilt ebenfalls als Erkennungsmerkmal für Perraultsche Märchen (Richter 1987: 211).

4.1.2 Charaktere

Zu den Protagonisten gehören neben dem « Petit Chaperon rouge » (kleines Rotkäppchen) auch der « loup » (der Wolf; Vgl. erstmals in Satz 6). Rotkäppchens Mutter taucht in der Einleitung kurz auf (« la mère »; Satz 1 sowie mit direkter Rede in Satz 3 und 4; Indirekt in 7, 14 und 21 (immer in einem Nebensatz eingebettet: „welches meine Mutter Euch schickt“)). Die kranke Großmutter (« la mère-grand »; Vgl. erstmals in Satz 1) soll von Rotkäppchen besucht werden. Während des ersten, allseits bekannten Dialogs, also dem Aufeinandertreffen von Rotkäppchen und dem Wolf, befinden sich noch Holzfäller im Wald (« quelques Bûcherons »; Vgl. Satz 6).

4.1.3 Inhalt

Ein rotes Käppchen, gemacht von der Großmutter, verlieh Rotkäppchen ihren Namen. Das kleine Mädchen bekommt eines Tages den Auftrag von ihrer Mutter der kranken Großmutter etwas zur Stärkung vorbei zu bringen. Im Wald trifft sie auf den Wolf, der sie gerne fressen würde, es aufgrund von Holzfällern in der Umgebung aber nicht wagt. Er fragt das Kind über ihr Vorhaben und den genauen Wohnort der Großmutter aus. Nachdem der Wolf zwei getrennte Pfade in Verbindung mit einem Wettrennen vorschlägt, rennt er so schnell er kann, während Rotkäppchen sich von der Natur ablenken lässt. Bei der Großmutter angekommen, imitiert er das kleine Mädchen und die Großmutter bittet „ihn“ herein. Daraufhin stürzt sich der Wolf auf die Alte und verschlingt sie in einem Zug. Er schließt die Tür, legt sich in das Bett der Großmutter und wartet auf das arme Kind. Kurz darauf spielt sich die gleiche Szene vor der Haustür ab. Rotkäppchen ist zunächst etwas verunsichert, tritt jedoch herein. Die Stimme ein wenig dämmend, fordert er das Mädchen auf, sich auszuziehen und sich zu ihm ins Bett schlafen zu legen. Dieser Anweisung nachgehend, wundert sich das kleine Mädchen über die Nacktheit ihrer Großmutter. Es folgt der berühmte Dialog über die großen Arme, großen Beine, großen Ohren, großen Augen und großen Zähne. Auf die letzte Frage antwortet der Wolf, um sie besser fressen zu können und verschlingt das Mädchen augenblicklich.

Dem Ende der Geschichte folgt ein Epilog in Form einer Moral: Insbesondere junge und schöne Mädchen hören schlecht auf andere und somit ist es kein Wunder, wenn sie dem Wolf zum Opfer fallen. Gar von den Wölfen gibt es Unterschiedliche und speziell die offenen, netten und zärtlichen, die keine Boshaftigkeit versprühen – das sind die gefährlichsten Wölfe.

4.1.4 sprachliche Mittel

Die in Gliederungspunkt 2 und 3 angeschnittenen sprachlichen Mittel und märchenhaften Formeln werden nun im Märchen selbst untersucht und gegebenenfalls belegt.

Das Motiv beziehungsweise der Plan ist die Aufgabe Rotkäppchens, der schwachen Großmutter etwas zur Stärkung zu bringen. Der Einstiegssatz des Märchens ist der herkömmliche « Il était une fois… » (Es war einmal…), wohingegen ein Abschlusssatz im bekannten Sinne ausbleibt. Es gibt eine wiederholende direkte Rede, nämlich in dem Moment, wo der Wolf respektive Rotkäppchen bei der Großmutter vor der Haustür steht und klopft. Die magische Ziffer „3“ könnte mit den Figuren der Großmutter, Mutter und Rotkäppchen selbst bestätigt werden, indem die drei eine Einheit bilden (familiärer Hierarchie oder allgemein den Stammbaum). Auch taucht die Zahl drei auf, als es um die Begierde des Wolfes ging und es heißt, er habe drei Tage nichts gegessen, um das Ausmaß des Hungers zu verdeutlichen (Vgl. Satz 17). Das Steigerungsgesetz zeigt sich bei dem Frage-Antwort Muster, bei dem Rotkäppchen nach den Körperteilen der „Großmutter“ fragt und der Wolf jedes Mal mit den Anfängen: „Damit ich dich besser …“ (« mieux »; Vgl. ab Satz 26) antwortet. Der Wechsel zwischen Präsens und Vergangenheit ist gegeben: Präsens wird bei der direkten Rede gebraucht und die Vergangenheit unter anderem für das Kommentieren des Erzählers (Vgl. z.B. Satz 7). Auch das schnelle Umschalten der Redenden ist zu bestätigen. Wie angekündigt, werden diese mithilfe von verba dicendi, vor allem durch « dire » (sagen) aber auch durch « crier » (schreien) verbalisiert.

4.2 Deutsch

Das von Jacob und Wilhelm Grimm 1812 herausgegebene Märchensammelband „Kinder- und Hausmärchen“ (1. Band) enthielt die heutzutage wohl bekannteste Ausführung von Rotkäppchen (im deutschsprachigen Raum) mit der Kennziffer KHM 26. Mit insgesamt 1259 Wörtern, eingebettet in 61 Sätzen, schufen die Brüder ein lehrreiches Werk für Kinder, das trotz seiner dramatischen Entwicklung zu einem positiven Ende führt.

4.2.1 Hintergrund

Jacob und Wilhelm Grimm verfassten die deutsche Version des Rotkäppchens auf Basis von Erzählungen der Schwestern Hassenpflug, die hugenottischen Ursprungs waren und somit Französisch geprägtes Wissen vermittelten (Vgl. Rölleke 1998).

Eine erste deutsche Übersetzung gab es bereits 22 Jahre vor der Grimmschen Version (Vgl. Zipes 1985: 34). Die Brüder wandelten das Perraultsche Märchen allerdings in dem Sinne um, dass es zeitgemäßen Veränderungen, hinsichtlich der Brutalität des französischen Originals, unterlag. Sie brachten den Helden in Form eines Jägers in Spiel, der schon in Ludwig Tiecks Werk „Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie“ für eine „ausgeglichene Gerechtigkeit“ sorgte (Uther 2008: 65). Hier erschießt der Jäger allerdings den Wolf:

Da liegt der Wolf und ist auch tot,/So muß für alles Strafe sein,/Er schwimmt in seinem Blute rot./Es kann einer wohl ein Verbrechen begehn,/Doch kann er nie der Strafe entgehn (Tieck/Frank 1985).

Die Grimmsche Fassung weist ein milderes Ende auf: Der Jäger rettet Rotkäppchen samt der Großmutter und der Wolf, als Gegner, stirbt folgerichtig. Die Art und Weise, wie der Wolf zu Tode kommt, weißt Parallelen zum KHM 5 „Der Wolf und die sieben Geißlein“ auf (Vgl. Uther 2008: 66). Ihr Hauptaugenmerk war auf erzieherische Werte abgezielt, sodass der Leser unmittelbar über Gehorsamkeit „gegenüber der Mutter“, „Verhalten gegenüber Fremden“ sowie „Nächstenliebe“ aufgeklärt wird (Uther 2008: 66). Wohingegen Erotik und Sexualität in der deutschen Romantik als „märchenfremd“ deklariert wurden (Richter 1987: 205). Darüber hinaus „beklagt“ Richter die „Eindimensionalität“ der Grimmschen Märchen, wenn es um das Zusammentreffen von „Wunder und Aufklärung“ geht (Richter 1987: 211).

4.2.2 Charaktere

Neben der Titelrolle des Rotkäppchens, stellt der Wolf ebenso wie in dem Original eine Zentralfigur dar. Die umsorgte Mutter schickt ihre Tochter mit einer Handvoll Verhaltensregeln (Vgl. Satz 3, 4, 5) zur kranken Großmutter. Vor dem Nachtrag, also mit dem Ende dieses Spektakels, werden die Vorschriften der Mutter noch einmal zum Vorschein gebracht (Vgl. Satz 51). Die Großmutter wird analog zum französischen Pendant in den ersten Sätzen vorgestellt (Vgl. erstmals in Satz 1). Es gibt hier zwar keine Rolle, die von Holzfällern besetzt werden, jedoch wird eine Heldenfigur eingeführt, die durch einen Jäger verkörpert ist (Vgl. ab Satz 44).

4.2.3 Inhalt

Die kleine süße Dirne erhält auch in der deutschen Fassung ihren Namen durch ein Geschenk der Großmutter. Einst macht sich Rotkäppchen auf dem Weg zu ihr, da ihre Mutter der kranken und schwachen Frau eine Kleinigkeit zu Essen zukommen lassen will. Sie gibt ihrem Kind Anweisungen mit auf dem Weg und Rotkäppchen verspricht sich tugendhaft zu verhalten. Im Wald trifft sie auf den Wolf und lässt sich, ohne Kleinmut und ohne zu wissen, wie bösartig dieser ist, auf ihn ein. Höflich informiert er sich über die Unternehmung Rotkäppchens und der Residenz der Großmutter. Sein Plan ist es, beide zu fressen, doch dies will er bedachtsam angehen. So macht der Wolf das Mädchen auf die Natur aufmerksam und überzeugt sie, sodass sie der alten Frau einen Blumenstrauß pflücken will. Drum kommt sie vom Wege ab, während der Wolf direkt zur Großmutter geht und diese „ihn“, nach einem kurzen Dialog, in dem er sich als Rotkäppchen ausgibt, herein bittet. Im nächsten Moment verschlingt er die arme Alte. Darauf zieht er ihre Kleider an sowie die Vorhänge zu und legt sich in das Bett. Rotkäppchen bricht zur Großmutter auf, als sie keine weitere Blume mehr halten kann. Am Ziel angekommen, ist sie über die offenstehende Tür überrascht und fürchtet sich ein wenig. Die „Großmutter“ lässt die Begrüßung unbeantwortet und so zieht das Mädchen die Vorhänge zurück und wundert sich über den Anblick der Greisin. Es folgt ebenfalls ein Dialog über die großen Ohren, großen Augen, großen Hände und das große Maul. Auch hier antwortet der Wolf, um sie besser fressen zu können und schluckt Rotkäppchen ungesäumt mit einem Bissen hinunter. Gesättigt und müde schläft der Wolf ein und wird zufällig vom vorbeigehenden Jäger gehört. Anstatt den Wolf zu erschießen, schneidet er ihm den Bauch auf und rettet somit Rotkäppchen und die Großmutter. Zusammen füllen sie den Bauch mit schweren Steinen und als der Wolf aufwacht und sich bewegen will, fällt er zu Tode. Rotkäppchen aber zieht für sich eine Lehre daraus und will fortan die Vorschriften ihrer Mutter befolgen.

Dem Ende der Geschichte folgt ein Epilog in Form einer wiederholten Begegnung mit einem Wolf. Das Mädchen jedoch lässt sich kein zweites Mal auf das böse Tier ein und verschanzt sich direkt bei der Großmutter. Gleichwohl lauert der flinke Wolf auf dem Dach, was der alten Frau vorschwebt. So lässt sie Rotkäppchen einen Trog vor dem Haus mit Würstchenwasser randvoll füllen. Der listige Wolf, angezogen vom leckeren Duft, stürzt in den Trog und ertrinkt. Am Ende geht Rotkäppchen unbeschadet nach Hause.

4.2.4 sprachliche Mittel

Auch hier soll auf linguistische Besonderheiten geachtet werden. So ist es ebenso die Aufgabe des „deutschen“ Mädchens, der kranken Großmutter Leckereien zu bringen. Wie im französischen Pendant beginnt das Märchen mit den gewohnten Worten „Es war einmal…“. Das Ende jedoch ist auch nicht typisch, aber märchenhaft verbalisiert: „Rotkäppchen aber ging fröhlich nach Haus, und tat ihm niemand etwas zuleid.“ (Vgl. Satz 61).

Darüber hinaus formulierten die Brüder im Anschluss ein wiederholtes Ereignis, um den Leser die Belehrung Rotkäppchens nahezulegen (Vgl. ab Satz 52: „Es wird auch erzählt, daß einmal […]“). Die Formel der Dreizahl taucht in verschiedenen Variationen auf: Abgesehen von derselben Konstellation, wie im Französischen (Großmutter, Mutter und Rotkäppchen), gibt es die Gruppierung Großmutter, Rotkäppchen und Jäger, die zusammen siegen. Weiter wird von den drei großen Eichbäumen gesprochen, wenn es um das zu Hause der Großmutter geht (Vgl. Satz 17). Das Gesetz der Steigerung ist entsprechend dem französischen Ursprung (Frage-Antwort Muster; Vgl. ab Satz 34). Der schnelle Wechsel der Sprecher innerhalb der direkten Rede ist ebenfalls durch Kommunikationsverben, wie „sprechen“, „sagen“ oder „rufen“, vorhanden. Des Weiteren kommt ein sogenanntes verba sentiend i vor: „denken“. Während in dieser kommunikativen Form gleicherweise das Präsens verwendet wird, ist der restliche Teil in der Vergangenheit formuliert.

5 Erzähltypologie

Die hier untersuchten Märchen weisen sprachliche Strukturen auf, die mit einem jeweiligen Erzähltyp korrespondieren. Im deutschen Märchen gibt es, im Gegensatz zum französischen Ursprung, eine Wende. Diese Erzähltechniken geben vorausschauende Einblicke in den Verlauf, dem Ausgang sowie über die Akteure der Geschichte. Um die Fragestellung dieser Arbeit nachzugehen, werden zunächst drei wichtige Einteilungskriterien: vorausgegangener Diskurs, Involvierung in das vergangene Geschehen sowie die Erfahrungsstruktur – wie sie Jutta Fienemann (2005) hierarchisch exemplifiziert und beleuchtet (Vgl. Fienemann, 2005: 259), behandelt. Die zwei nachfolgenden Analysen (5.4 und 6) bearbeiten jeweils eine Ebene tiefer, die Erzählstruktur, beziehungsweise untersuchen die Darstellung der Protagonistin.

Zunächst muss festgehalten werden, dass der Erzähler in beiden Versionen keine Figur verkörpert. Vielmehr nimmt er die Funktion des Allwissenden, den sogenannten auktorialen Erzähler, ein.

5.1 Vorausgegangener Diskurs

Als erstes wird der vorausgegangene Diskurs in problemorientiert und unterhaltungsorientiert unterteilt, welche dem homileïschen Diskurs angehören. Erstere muss nicht notwendig einen Disput beinhalten, kann aber das Beklagen unter zwei Gesprächspartnern über dritte bedeuten und weist oft „therapeutischen Charakter“ auf. Der unterhaltungsorientierte Ansatz hingegen spiegelt „harmlose“ Themen wider, die sich meist in größeren Gruppen abspielen (Fienemann 2005: 258).

Für die Einordnung der hier untersuchten Märchen muss eingangs erwähnt werden, dass als vorausgegangener Diskurs das Einstiegsgespräch von Rotkäppchen und seiner Mutter verstanden wird. Während die deutsche Fassung deutlich dem problemorientierten Zweig zuzuordnen ist (aufgrund der Warnungen der Mutter am Anfang (Vgl. Satz 4)), kann das französische Gegenstück nicht so einfach zugewiesen werden. Da das „französische“ Mädchen allerdings keine Verhaltensvorschriften mit auf dem Weg bekommt und dieses Vorgespräch mit der Mutter eher arglos ausfällt, wird in diesem Fall von dem unterhaltungsorientierten „Zweig“ ausgegangen.

5.2 Involvierung in das vergangene Geschehen

Die zweite Ebene beschäftigt sich mit der Involvierung des Sprechers in das Erzählen. Unterschieden wird zum einen in Aktant und zum anderen in Beobachter (Fienemann 2005: 258-260). Wie zuvor herausgestellt, tritt der Erzähler in keiner der beiden Geschichten als Aktant auf. Allerdings kann er durch Bewerten den Hörer lenken, je nachdem um welche Erzählstruktur (Vgl. 5.4) es sich handelt (Vgl. Rehbein 1980). So wird kategorisch mehr in Leidensgeschichten, als in Siegesgeschichten geurteilt (Vgl. Rehbein 1984). Projiziert man diese Gegebenheit auf die hier untersuchten Geschichten, kann vorläufig bestätigt werden, dass dem französischen Rotkäppchen Leid zugefügt wird und dem deutschen Rotkäppchen gewissermaßen ein Sieg über das Böse gelingt. Die Einschätzungen Rehbeins (1980; 1984) werden folgerichtig durch die verehrende Moral am Ende des französischen Märchens bestätigt: Der Erzähler bewertet das Verhalten der Protagonistin und legitimiert damit gleichzeitig ihren Tod (Vgl. Satz 37 und 38 (Moral)). Diese Tatsache wird nachträglich wieder aufgegriffen.

[...]


[1] Für genauere Angaben vgl. Ehlich und Rehbein (1980).

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
Rotkäppchen. Ein Vergleich der deutschen Fassung der Gebrüder Grimm und der französischen von Charles Perraults
Hochschule
Universität Hamburg  (Germanistik)
Veranstaltung
Semantik und Pragmatik
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
51
Katalognummer
V382985
ISBN (eBook)
9783668583689
ISBN (Buch)
9783668583696
Dateigröße
659 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Im Anhang befinden sich neben der französischen Version (inkusive der deutschen Übersetzung) ebenso die deutsche Version des Märchens sowie eine paarweise Gegenüberstellung beider Versionen.
Schlagworte
Sprachvergleich, Märchen, Erzähltypologie, Erfahrungsstruktur, Erzählstruktur, Charles Perrault, Jacob und Wilhelm Grimm, Gebrüder Grimm, sprachvergleichende Textanalyse, Kinder- und Hausmärchen, Französisch, Le Petit Chaperon Rouge, Rotkäppchen, deutsch-französisch, französisch-deutsch
Arbeit zitieren
Jaqueline Exner (Autor:in), 2015, Rotkäppchen. Ein Vergleich der deutschen Fassung der Gebrüder Grimm und der französischen von Charles Perraults, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/382985

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