Reflexive Identitäten - Facetten der Moderne


Diplomarbeit, 2002

99 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

I. Vergleich einfache und späte Moderne
1. Moderne/ Modernisierung
2. Soziale Differenzierung und Individualisierung
2.1 Definition soziale Differenzierung
2.2 Definition Individualisierung
3. Grundüberlegungen Simmels
3.1 Individualisierung
3.2 Kreuzung sozialer Kreise
3.3 Koordination Individuum – Gesellschaft
4. Spätmoderne
5. Zusammenfassung

II. Identität
1. Essentialist theories
1.1 Psychoanalytische Theorie
2. Non-essentialist theories
2.1 Role-learning theory
2.2 Social-construction theory
3. Identität in der Spät-Moderne
3.1 Identität als Projekt
3.2 Facetten des Identitätsprojektes
Exkurs: Lebensstile
3.2.1 Bastelbiographien
3.3 Vergemeinschaftungen
3.3.1 Pure relationship
3.3.1.1 Kontraste und Anschlüsse
3.3.2 Erlebnisgesellschaft
4. Bourdieus Feldtheorie
4.1 Vergleich
Exkurs: Altruistischer Individualismus
5. Anschluß an Ideen der Post-Moderne
6. Zusammenfassung

III. Einschränkungen und Perspektiven
1. Soziale Ungleichheit
1.1 Individuelles Schicksal und neue Armut
1.2 Wissen und postfordisitische Produktionsweise
2. Neue Formen der Arbeitsgesellschaft
2.1 Unter dem Blickwinkel der Spätmoderne
3. Globalisierung
4. Life politics
5. Zusammenfassung

IV. Schlußbemerkung

V. Litereaturverzeichnis

„Erkenne Dich selbst“

(Wahlspruch des Orakels von Delphi)

„Je est un autre – Ich ist ein anderer“

(Arthur Rimbaud in: Briefe des Sehenden, 1871)

„Anything goes“

(Schlagwort der Postmoderne)

Einleitung

In der aktuellen soziologischen Debatte wird oft die Frage gestellt, in welcher Zeit und Gesellschaft wir eigentlich leben. Man hört Schlagworte wie „Postmoderne“ , „Hochmoderne“, „Erlebnisgesellschaft“, „Konsumgesellschaft“ , an anderer Stelle wird das Ende der „Spaßgesellschaft“ verkündet. Alle diese Begriffe versuchen die prinzipielle soziologische Frage zu beantworten, ob es in der Gesellschaft einen dominierenden Faktor gibt, der Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft und daraus resultierende Identitäten beschreiben kann. Diese hohe Anzahl der Ansätze wirkt einerseits verwirrend, andererseits scheint eine solche Vielzahl von Ansätzen an sich notwendig, um eine komplexe, differenzierte Gesellschaft gut zu beschreiben.

Mit dem Begriff Identität wird ein weiterer Terminus eingeführt, der ebenso vielfältig zu interpretieren und kommentieren ist, wie derjenige der Gesellschaft.

Um nicht Gefahr zu laufen, sich in einer Vielzahl von Literatur und (populär-) wissenschaftlichen Überlegungen zu verlieren, möchte ich die Ziele, Motivationen und Untersuchungsfelder dieser Diplomarbeit „Reflexive Identitäten – Facetten der Moderne“ zunächst festlegen:

Mich interessiert in erster Linie, welche Aussagen zur Zeit aktuelle Denkrichtungen zum Thema Gesellschaft und besonders Identität treffen, welche Übereinstimmungen und Differenzen es gibt. Ich möchte darstellen, was der Begriff der Moderne und dessen neuere Variationen vor allem in Form von Spät-, aber auch Postmoderne unter dem Gesichtspunkt der Identitätsformung,- bildung, und -zuschreibung bedeuten und welche möglichen Weiterentwicklungen möglich sind.

Kapitel I wird sich daher zunächst ausführlich der Beschreibung der einfachen und späten Moderne widmen und quasi historisch nachzeichnen, welche Phänomene (z.B. soziale Differenzierung und Individualisierung) als wichtige Denk- und Beurteilungsmuster entstanden, die im Zusammenhang mit dem Begriff Identität relevant sind. Zudem sollen relevante Punkte zwischen einfacher und später Modernen erläutert werden, insbesondere wieder, welche Punkte bzw. Annahmen (z.B. Wegfall/ Veränderung des Klassenbegriffs) im Hinblick auf Identität wichtig sind.

Kapitel II erörtert in ähnlicher methodischer Vorgehensweise wie das vorige Kapitel zunächst im Überblick historische theoretische Grundlagen zum Thema Identität. Die Erörterung gleichsam klassischer Theorien strukturalistischer oder handlungstheoretischer Natur dient als Basis zum Verständnis des aktuellen Denkmusters der reflexiven Identität(en).

Begriff und Konzept der reflexiven Identität soll durch die Darstellung relevanter Texte aus dem Umfeld der Spätmoderne konkretisiert werden, insbesondere sollen Punkte wie Individualisierung und Identität als selbst bestimmtes Projekt untersucht werden. In einem zweiten Schritt möchte ich untersuchen, wie Individualität in Gemeinschaft aufgeht und wie durch die Teilhabe an Gruppen persönliche Identität durch teilnehmende Identität ausgebildet wird. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise der aktuelle Ansatz der Erlebnisgesellschaft interessant, indem er die Bedeutung von Erlebnis – und somit Konsum und Populärkultur - für Identität erörtert. Mich interessiert hierbei, wie Stil und Differenz in selbst gewählten, „gebastelten“ Milieus entstehen, denn Identität bestätigt und manifestiert sich auch immer in der Differenz. Dies ist gleichsam auch als Antithese zur These zunehmender Individualisierung im Sinne völliger Bindungslosigkeit zu verstehen.

Abschließend werden auch interessante Ideen aus der Denkrichtung der Postmoderne aufgegriffen, auch wenn oft versucht wird, einen Gegensatz zwischen Spät- und Postmoderne zu konstatieren. Brauchbare Ansätze sind hier die Idee der Wahlfreiheit oder die Idee des ästhetischen Wertes von Gütern, die als differenzierendes Zeichen – und somit Identität signalisierendes Zeichen – fungieren. Besonders die Idee der Wahlfreiheit im Zusammenhang mit Identitätsbildung ist ein grundlegendes Konzept reflexiver Identität.

Die ersten beiden Kapitel – so kann man sagen - zeigen die zeitliche Achse, also wie sich aus einfacher Gesellschaftsordnung unsere (post-/spät-) moderne Gesellschaft entwickelt hat und wie Identität ein Indikator dieses Prozesses wurde.

Beim Studium maßgeblicher Schriften zum Thema reflexiver Identitäten kann leicht der Eindruck entstehen, daß diese positiv besetzt ist, was sich in Begriffen wie Wahlfreiheit und Überwinden gesellschaftlicher Grenzen manifestiert.

In Kapitel III möchte ich deshalb Einschränkungen und Perspektiven selbst gewählter Identität und Individualisierung aufzeigen, was bereits durch den davor geleisteten erklärenden Vergleich mit Bourdieus Feldtheorie vorbereitet werden soll. Einschränkungen bzw. Grenzen sind in meinen Augen zunehmende soziale Ungleichheit und negative Entwicklungstendenzen im Rahmen der Globalisierung. Dies wird natürlich auch von den Autoren der Spätmoderne so gesehen – nicht ohne Zufall heißt eines der maßgeblichen Werke dieses Genres „Risikogesellschaft“.

Da gerade ökonomische Aspekte immer stärker gesellschaftliche und identitätsbezogene Relevanz entfalten, sollen im letzten Punkt dann abschließend noch Überlegungen untersucht werden, die mit dem Schlagwort der „Politik der Lebensführung“ benannt werden. Perspektiven und Stichworte dazu wären Nachknappheitsökonomie, humanisierte Natur und dialogische Demokratie. Diese Überlegungen, Visionen, zeigen nochmals, wie Nebenfolgen der Moderne gleichsam reflexiv relevant werden und wie Individuen reflexiv im Sinne von bewußt handelnd diesen Herausforderungen begegnen.

Insgesamt – so ließe sich zusammenfassen – werden relevante Identitätstheorien in einem größeren zeitlichen Kontext dargestellt (Was war? Was ist? Was kann werden?), wobei Konstanten, Veränderungen und Entwicklungen der zugrundeliegenden Modernisierungstheorie erörtert werden.

Es wird das Wechselspiel zu zeigen sein, wie Gesellschaft Identität bedingt, wie bedingend Identität auf Gesellschaft wirkt und welche Position dabei das Konzept der reflexiven Identität einnimmt.

I. Vergleich einfache und späte Moderne

1. Moderne/ Modernisierung

Führt man den Begriff der Moderne ein, so eröffnet man ein großes Begriffsfeld ähnlicher Bezeichnungen wie die der Modernisierung, der Neuzeit, des Modernismus. Diese Bezeichnungen stehen zwar generell für die Beschreibung eines neues Phänomens oder einer Entwicklung doch zielen sie auf verschiedene Felder (Kunst, Literatur, Geschichte) oder verschiedene historische Zeitabschnitte, welche freilich untereinander in Beziehung stehen können. So bezeichnet der Begriff des Modernismus im soziologisch/ politologischen Sinne die Selbstkritik der Moderne, im künstlerischen Sinne aber Avantgarde-Bewegungen wie Dadaismus oder Surrealismus (vgl. Zima 1997, 8ff.), die zudem noch unterschiedlichen geschichtlichen Daten zuzuordnen sind.

Um einerseits nicht verschiedene Disziplinen zu vermischen und andererseits eine geeignete Basis für die Zwecke dieser Diplomarbeit zu schaffen, soll zunächst die Terminologie geklärt werden.

Zum Begriff der Modernisierung bietet sich folgende Definition an:

„Modernisierung verweist auf einen Komplex miteinander zusammenhängender struktureller, kultureller, psychischer und physischer Veränderungen, der sich in den vergangenen Jahrhunderten herauskristallisiert und damit die Welt, in der wir augenblicklich leben, geformt hat und noch immer in eine bestimmte Richtung lenkt.“

(van der Loo/van Reijen 1997, 11).

Diese allumfassenden Veränderungen begannen im Spätmittelalter und wirken mit zunehmender Geschwindigkeit bis heute weiter, das bedeutet das einfache Moderne zunächst im Kontext und im Vergleich mit Tradition, traditioneller Gesellschaft zu verstehen ist. Die gesellschaftlichen Veränderungen lassen sich an einer Vielzahl von Merkmalen festmachen:

Die Schichtungsstruktur gemäß Ständen wurde aufgelöst, politische Ideologien werden entwickelt, demokratische Prozesse entstehen. Kapitalistisch orientierte Märkte entstehen im Laufe von Industrialisierung, Urbanisierung und Rationalisierung. Wissenschaft und Technik verdrängen den Stellenwert der Religion. Soziale Differenzierung und Individualisierung sind als Phänomene zu beobachten. (van der Loo/van Reijen 1997, 12). Die genannten Prozesse machen deutlich, daß Tradition immer stärker an Bedeutung verliert und so verläßliche Sinnstrukturen – manifestiert meist in religiösen Glauben und Vorstellungen – verschwinden. Eine Vielzahl von Autoren und Wissenschaftlern haben sich mit der Modernisierung beschäftigt und untersucht, welche Prozesse in welcher Art die Tradition ablösen und welche neuen Erfahrungen und Ordnungsmuster an Stelle der Tradition treten. Da es naheliegt, daß Auflösen von Tradition Kontingenz und Krisen schafft, ist es nicht verwunderlich, daß die Soziologie als Wissenschaft im Zusammenhang mit den Veränderungsprozessen der Modernisierung entstand, die besonders ab dem 19. Jahrhundert sichtbar wurden (vgl. Zima 1997, 29), auch wenn es schon früher – beispielsweise zur Zeiten der Aufklärung – wichtige Überlegungen zur Gesellschaft gab (vgl. Fulcher/Scott 1999, 24ff.).

Beispielhaft seien folgende Wissenschaftler und Themengebiete kurz genannt (van der Loo/van Reijen 1997, 14ff.):

Ferdinand Tönnies (1855-1936) beschrieb die Unterschiedlichkeit von „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Emile Durkheim (1858-1917) untersuchte ebenfalls Zusammenhänge zwischen Individuum und Gemeinschaft .Er unterschied zwischen „mechanischer und organischer Solidarität“. Max Weber (1864-1920) befaßte sich mit dem Prozeß der Rationalisierung und der dadurch bewirkten „Entzauberung der Welt“. Karl Marx (1818-1883) untersuchte die Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des sich herausbildenden „Klassenantagonismus“. Georg Simmel (1858-1918) beschäftigte sich mit sozialer Differenzierung und Individualisierung. Darauf wird noch einzugehen sein.

Zum Begriff der einfachen Moderne können wir also folgende wichtige Merkmale festhalten: (Beck 1996, 40ff.)

1) Lebenslagen und Lebensverläufe sind in Klassen sozial organisiert und soziologisch abbildbar. Anstelle der in der traditionellen Gesellschaft herrschenden Stände (deren Hierarchie oft religiös begründet wurde, z.B. König als Stellvertreter Gottes auf Erden) organisieren und schichten sich nun die Gesellschaften im Verhältnis zu ihrer Stellung im industriellen Produktionsprozeß. Unabhängig, ob man Marx` Begriff der Klasse oder Webers Begriff des Standes heranzieht, so beschreiben beide die Tatsache, daß sich Menschen gemäß Ihres Einkommens, ihrer Lage auf dem Arbeitsmarkt organisieren und typische Wert- und Verhaltensmuster bilden. Ein Mitglied einer bestimmten Klasse ist mit bestimmten Erwartungshaltungen versehen, typische Einstellungen sind vorzufinden.

2) Das Auflösen der traditionellen Ordnung ist ein revolutionärer Prozeß, d.h. die alte Ordnung wird obsolet, neue Entwicklungen finden statt. Die neuen Phänomene wie Industrialisierung, Rationalisierung sind an sich also durch das Moment der Entwicklung zu beschreiben, bieten also noch nicht eine klare umfassende Ordnung an wie die traditionelle Gesellschaft. Da die Entwicklungen mannigfaltig sind, wird die neue Gesellschaft als funktionale Differenzierung von Subsystemen beschrieben. Es gibt verschiedene gesellschaftliche Untersysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft), welche den neuen Herausforderungen der Moderne effizient begegnen.

3) Die Teilsysteme entwickeln eine Eigengesetzlichkeit. Jedes Teilsystem verfolgt ein bestimmtes Ziel (z.B. Wirtschaft – Profitmaximierung). Um dieses zu erreichen, sind gewisse, systemspezifische Regeln zu beachten, welche einerseits immer weiter verfeinert werden- das System überprüft/reflektiert sich also gleichsam selbst – andererseits aber im Gegensatz zu den Regeln andrer Systeme stehen können.

Differenzierung und Bildung von Teilsystemen lassen sich auch so beschreiben (vgl. Giddens 1991, 14ff.): Es kommt zur Trennung von Raum und Zeit. Handlungen sind nicht mehr an bestimmte Orte und Zeiten gebunden. Moderne Kommunikation und Systeme zur Zeitmessung eröffnen globalen Handlungsspielraum. Gesellschaftliche Institutionen, welche die einzelnen Subsysteme repräsentieren, sind aus dem gesellschaftlichen Kontext entbettet. D.h. sie stehen nicht mehr im Zusammenhang mit einer umfassenden traditionellen Ordnung sondern handeln eigenständig. Die Subsysteme folgen eignen wissenschaftlichen Regeln, schafften Expertentum. Expertentum wird anstelle Tradition oder Religion die vorherrschende Legitimation, die sich durch abstrakte Systeme, z.B. Geld, auszeichnet. Geld und Expertentum schaffen neue Handlungsmöglichkeiten, erfordern aber auch Vertrauen in diese. Um das Vertrauen stets zu gewährleisten, müssen sich Systeme stets selbst überprüfen, also wie bereits dargestellt eine interne Reflexion verfolgen.

Die hier erwähnten Punkte des Vertrauens, des Expertentums, der Subsysteme werden die Ausgangsbasis für unsere Diskussion über Spätmoderene und reflexive Identitäten bilden.

Wie zu erkennen ist, umfaßt Modernisierung und Moderne praktisch alle Bereiche des Lebens und der Gesellschaft.

Im folgenden wollen wir nun untersuchen, welche Entwicklungen im Hinblick auf das Thema Identität wichtig sind:

2. Soziale Differenzierung und Individualisierung

2.1 Definition soziale Differenzierung:

„Soziale Differenzierung ist der Prozeß gesellschaftlichen Teilung und daraus resultierenden Entwicklung von komplexen Strukturen wie z.B. von spezifischen sozialen Rollen und Verhaltenserwartungen , in denen Arbeitsteilung und Spezialisierung wirksam und als Verhaltenserwartungen institutionalisiert werden.“ (Reinhold 1992, 108)

Soziale Differenzierung beschreibt also die Aufgliederung eines einheitlichen Ganzen, sprich der Gesellschaft, in Einzelteile, die dann das Ganze konstituieren. Im Laufe dieser Ausfächerung bilden sich Machtpositionen, Asymmetrien, wechselsetige Abhängigkeiten und Normierungen heraus, die Einfluß auf die Sozialisation des Einzelnen haben. Die Differenzierung bewirkt, daß die Menschen nicht mehr zu (mehr oder weniger) uniformen Identitäten gelangen, so wie es noch im Ständestaat mit seinen festen Hierarchien war. Dort bestand die Diffenzierung grob gesprochen lediglich zwischen Adel und Untertanen. Innerhalb dieser Hauptgruppen gab es natürlich zwar auch Unterschiede, z.B. beruflicher Natur, doch läßt sich kaum soziale Mobilität konstatieren, wie der Begriff der sozialen Differenzierung impliziert. Im Gegenteil, es läßt sich eher von einer sozialen Prädetermination sprechen, die dem Einzelnen die Möglichkeit verwehrte, aus seinem sozialen Rollengefüge auszubrechen.

Die im Laufe der Modernisierung zunehmende Differenzierung bewirkte allerdings auch Unsicherheit bei der Identitätsfindung, denn es gibt zunehmend weniger Fixpunkte, an denen man sich orientieren kann. Stattdessen ist man nun auf individuelle Selbstfindung angewiesen. Dies beschreibt die Individualisierung:

2.2 Definition Individualisierung

„Indivdualisierung bezeichnet den Prozeß, in dem ein Individuum autonom, eigenverantwortlich, persönlich gefärbt und bewußt handelt, eventuell auch gegen die soziale Norm.“ (Reinhold 1992, 256)

Individualisierung ist also ein Teil der Sozialisation, der sich vor allem dadurch auszeichnet, daß der Mensch gesellschaftliche Normen erkennt, verarbeitet und selbständig für sich Prinzipien aufstellt. Individualisierung ist somit das Gegenteil einer Kollektivisierung, d.h. einer Sozialisation, in der die Menschen sich in Ihren Identitäten gleichen oder nur in Nuancen abweichen. Sie betont die Einzigartigkeit der Identität.

Theoretische Hintergründe zur sozialen Differenzierung und Individualisierung sollen nun anhand Georg Simmels Schriften gezeigt werden.

3. Grundüberlegungen Simmels

Simmels Werke beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Entstehen von Individualisierung und sozialer Differenzierung, der Beschreibung des

durch Individualisierung entstandenen Menschentyps und dem Bezug bzw. der Koordination zwischen Gesellschaft und Individuum. Als Grundthese kann gelten: „Zunehmende Vergesellschaftung schafft einerseits Individualität, um sie in einem zweiten Schritt wieder aufzuheben.“ (Simmel 1992, 18)

3.1 Individualisierung

Das Entstehen von Individualität erklärt Simmel mit Hilfe eines Modells, welches auch als Übergang von traditioneller zu moderner Gesellschaft gelesen werden kann (Simmel 1992, 53ff.):

Er geht davon aus, daß es zwei soziale Gruppen gibt, die in sich homogen sind, aber gegeneinander gerichtet sind. Mit der Zeit steigt der kulturelle Fortschritt innerhalb jeder Gruppe, Differenzierungsprozesse beginnen und somit auch Konkurrenz unter den Menschen. Ein erstes Differenzierungsergebnis ist die Bildung von Hierarchien, welche nicht mehr die ursprünglich engen und solidarischen Zusammenhänge vertreten. Da dieser Prozeß in jeder der beiden Gruppen stattfindet, werden Verbindungen zu gleichgesinnten bzw. gleichgestellten Mitgliedern innerhalb der anderen Gruppe gesucht. Als Beispiel nennt Simmel die Verbindungen zwischen den Adelshäusern oder zunehmende wirtschaftliche Verflechtungen.(Simmel 1992, 53ff.). Es läßt sich festhalten:

„Individualisierung lockert das Band mit dem Nächsten , um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfrenteren zu spinnen.“ (Simmel 1992, 55)

In ursprünglichen Kulturen gilt also „das Vererbungsprinzip, das auf Zusammenhang und Gleichheit der Individuen geht“ (Simmel 1999, 139), mit seinen wenigen Bindungen (Familie, Arbeit). Steigende Kultur bedingt die Neigung des Menschen des Sich-Heraushebens, zur Individualität.(Simmel 1992, 269) Durch Differenzierung nimmt die Zahl der Bindungen zu, wobei der Zusammenhalt an das Ganze geschwächt wird.

Wie der neue durch Individualisierung entstandene Menschentyp zu charakterisieren ist, beschreibt Simmel wie folgt:

3.2 Kreuzung sozialer Kreise

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Modernisierung war ja wie oben beschrieben das Ende des Ständestaates mit seinen klar vorgegebenen Positionen, in denen sich der Mensch einzufügen hatte. Mit der Modernisierung entstanden neue Aktionskreise, mit denen man sich nun konfrontiert sah.

Simmel beschreibt diese Entwicklung. Im Ständestaat ist – neben dem Stand als solchen – als hauptsächlich die Identität beeinflußender Faktor die Familie anzusehen. Dort sieht „der Einzelne[...] sich zunächst in einer Umgebung, die, gegen seine Individualität relativ gleichgültig, ihn an ihr Schicksal fesselt und ihm ein enges Zusammensein mit denjeigen auferlegt, neben die der Zufall der Geburt ihn gestellt hat.“ (Simmel 1989, 237)

Mit steigender Kultur rücken aber Sachbeziehungen in den Vordergrund:

„Mit fortschreitender Entwicklung aber spinnt jeder Einzelne derselben ein Band zu Persönlichkeiten, welche außerhalb dieses ursprünglichen Associationskreises liegen und statt dessen durch sachliche Gleichheit [...] eine Beziehung zu ihm besitzen[...]. Es stellen sich neue Berührungskreise her, welche die früheren, relativ mehr naturgegebenen, mehr durch sinnlichere Beziehungen zusammengehaltenen, in den mannichfaltigsten Winkeln durchsetzen.“ (Simmel 1989, 238).

Der Mensch ist nun Teil verschiedener Kreise, z.B. Familie, Beruf, Hierarchien, Staatsbürgertum, sozialer Stand, Vereine. Die Zahl der Kreise, „in denen der Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur.“ (Simmel 1989, 239f.).

Aus der Teilhaberschaft an so vielen sozialen Kreisen könnten natürlich Rollenkonflikte entstehen. Simmel sieht dies auch. Er sagt, daß sich die Persönlichkeit zunächst tatsächlich an den sozialen Kreis hingibt und sich in ihm verliert. Sie besinnt sich dann aber auf die eigene Autonomie, „um dann durch die individuelle Kreuzung der socialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen.“ (Simmel 1989, 241).

Außerdem führt Simmel aus, daß die Bestimmtheit der Persönlichkeit um so größer ist, „wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende als konzentrische sind.“ (Simmel 1989, 241). Das bedeutet: Falls der Mensch mehr Kreisen angehört als den gewöhnlichen wie z.B. Nation, Familie, Beruf, so bestimmter wird seine Individualität.

Bis jetzt wurde ein Teil der oben genannten Grundthese beschrieben:

Zunehmende Vergesellschaftung schafft Individualität. Doch wie wird diese Individualität nun aufgehoben? Dies beantwortet Simmel durch die Frage, wie die Koordination zur Gesellschaft funktioniert. Denn es ergibt sich ja fast automatisch die Frage, wie eine Gesellschaft weiterhin bestehen kann, wenn sie nun nur aus individuell handelnden, selbstbestimmten Menschen besteht.

3.3 Koordination Individuum - Gesellschaft

Zunächst ist festzuhalten, daß Simmel Individualität nicht als etwas völlig gegensätzliches, antagonistisches, zur Vergesellschaftung sieht. Er sieht sie vielmehr als Form, in welcher der Mensch sein doppeltes Streben nach Absonderung von Gesellschaft mit seinem Wunsch nach Einfügen in ein Ganzes in Einklang bringt: „[Der Mensch] ist immer Glied und Körper, Partei und Ganzes, Vollkommenes und Ergänzungsbedürftiges.“ (Simmel 1992, 268)

Individualität ist sowohl innere Zentriertheit als auch das „sich angleichende oder sich abhebende Verhältnis zu einem Ganzen.“ (Simmel 1992, 268)

Simmel würde also nicht ein absolut egozentrisches Menschenbild bejahen, sondern würde der Ansicht zustimmen, daß sich der Mensch an gesellschaftlichen Maßstäben orientiert. Vor allem da ja jedes Sich-Abheben, sprich Individualität, der „Vergleichung“ bedarf und so durch sich selbst wieder etwas „Allgemeines, Normgebendes“ setzt. (Simmel 1992, 270)

Ebenso sieht Simmel Differenzierungsprozesse in erster Linie nicht als gesellschaftsgefährdend an. Er sieht natürlich die Gefahr, „daß eine ursprünglich einheitliche Körperschaft mannigfach entgegengesetzte Parteien in sich ausbildet.“ (Simmel 1992, 64), allerdings bewirkt Differenzierung das Prinzip der Kraftersparnis. (Simmel 1992, 61ff.). Kurz gefaßt:

Ein feingliedriges wirtschaftliches, arbeitsteiliges und soziales System ist dem Menschen an sich zum Vorteil, da das Leben organisierter, effektiver wird. Die Menschen haben durch die entstandenen Parteien besser Zugangschancen, können Kraft sparen, sich weiter entwickeln.

Zudem verbindet Differenzierung mehr als Monismus. Im Monismus läßt sich zwar alles durch ein Prinzip erklären, was zwar kraftsparend wirkt, es aber nicht ist. Da der Monismus der steten Rechtfertigung des einen Grundes bedarf.(Simmel 1992, 63f.). Im politischen Bereich hieße das beispielsweise:

„Es kommt hinzu, daß die undifferenzierte Herrschaft einer socialen Macht über den Menschen, wie ausgedehnt und streng sie auch sei, doch immer noch um eine Reihe von Lebensbeziehungen sich nicht kümmert und nicht kümmern kann.“ (Simmel 1989, 246).

In diesen vom „kollektivistischen Zwang“ nicht erfaßten Lebensbeziehungen herrsche dann „individualistische Willkür.“ (Simmel 1989, 246). Man kann folgern, daß Differnzierung Nützlichkeit hervorbringt und Willkür beschränkt.

Darüber hinaus lassen sich in Simmels Aufsätzen weitere Erklärungen finden, welche das Weiterbestehen einer Gesellschaftsordnung erklären:

Individualität läßt sich Simmels Meinung nach ja über die Teilhaberschaft an vielen sozialen Kreisen erreichen. Da die Kreise aber Teil eines Ganzen sind, wird der Mensch nicht als Einzigartiges sondern als „Typus“ oder „Fragment“ gesehen. Der Mensch kann nie völlig individuell sein. Er ist stets auch Rollenträger, funktional Handelnder und so die Gesellschaft Mitkonstituierender. (Simmel 1992, 280ff.)

Die Teilhaberschaft an vielen sozialen Kreisen hat eine weitere Folge:

„Daher kommt es, daß eine starke Ausbildung der Individualität und eine starke Wertschätzung derselben sich mit kosmopolitischer Gesinnung paart; daß umgekehrt die Hingabe an eine eng begrenzte soziale Gruppe beides verhindert.“ (Simmel 1992, 56).

Ist man nämlich nur an eine Gruppe eng gebunden, so bleibt das eigene Weltbild notwendigerweise begrenzt, Kosmopoliten können sich aufgrund Ihrer differenzierten Erfahrungen in andere Personen hineinversetzen.

(Simmel 1989, 250). Man erkennt, daß das Gegenüber mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat, daher ergibt sich bei aller angestrebten Individualisierung die Notwendigkeit des Zummenschlusses, denn „die Analogisierung des eigenen Schicksals mit dem des Nachbars ist einer der mächtigsten Hebel der Vergesellschaftung überhaupt“ und diene er nur dem Schutz vor äußeren Feinden. (Simmel 1989, 148)

Ein weiteres wichtiges Argument, mit dem Simmel das Funktionieren von Gesellschaft erklärt, ist seine Annahme, daß eine differenzierte Gesellschaft Sittlichkeit hervorbringt:

„Je größer der sociale Kreis ist, je entwickelter namentlich die wirtschaftlichen Beziehungen, desto häufiger muß ich den Interessen anderer dienen, wenn ich will, daß sie den meinen dienen sollen. Dies bringt eine Versittlichung der gesamten Lebensatmosphäre mit sich, die nur deshalb im Unterbewußten zu bleiben pflegt, weil die Endzwecke, um derentwillen sie entsteht, egoistische sind.“ (Simmel 1989, 165).

Um seine ureigenen Ziele zu erreichen muß man sozial vorgeschriebene Formen von Kollektivsittlichkeit und Altruismus anwenden. Dabei bedient man sich objektiver Einrichtungen „des Rechts, der Sitte, der Verkehrsformen jeder Art“. Indem man diese Institutionen, die die Sittlichkeit verkörpern, benutzt, entrichtet man der „Sittlichkeit ihre Steuer.“ (Simmel 1989, 166). So wirkt die Sitte also im wirtschaftlichen und rechtlichen Bereich. Sie wirkt aber auch im sozialen Bereich. In privaten Vereinen findet der Mensch „eine Ausgleichung jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zustände hervorgeht.“ (Simmel 1989, 245)

In den Vereinen ist eine „kollektivpersönliche Ehre“, z.B. Offiziersehre, kaufmännische Ehre wirksam, die als sozialethischer Fortschritt zu sehen sei, da oben genannte individualistische Willkür entfällt. Ein einheitliches soziales Bewußtsein entsteht.

Die Ehre fördere das soziale Leben allgemein, das politische im Besonderen.

Denn wenn die Gruppen sich selbst beschränken ist kein Zwangsstaat notwendig, der alles reguliert. Daher haben Ländern mit großer politischer Freiheit ein stark ausgebildetes Vereinsleben. (Simmel 1989, 245ff.)

Trotz dieser optimistischen Prognosen und Beschreibungen verkennt Simmel nicht Nachteile der sozialen Differenzierung. Zwar gewinnt das Individuum ein Plus an Freiheit und die Gesellschaft als ganzes mag effektiver werden, doch läßt Simmel nicht unerwähnt, daß „durch die Mehrheit der sozialen Zugehörigkeiten Konflikte äußerer und innerer Art entstehen, die das Individuum mit seelischem Dualismus, ja Zerreissung bedrohen.” (Simmel 1989, 246). Simmel hebet hier also die Gefahr interner Rollenkonflikte (der Mensch hat Probleme, seine an seine Rollen geknüpften unterschiedlichn Erwartungen und Verpflichtungen zu erfüllen) und mögliche Entfremdung, Orientierungslosigkeit (oder mit Durkheim gesprochen: Anomie) hervor.

Es gibt noch eine weitere Gefahr. Wie erwähnt, ersetzt Expertentum und abstrakte Systeme die Legitimation durch Religion. Gerade das abstrakte System Geld zeigt den „ambivalenten Charakter der modernen Problematik”:

„Indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen Ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner alle Werte aufwirft, wird es der fürchterliche Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus” (Simmel 1984, 196, zit. in: Zima 1997, 33).

Geld schafft also Gleichheit, ein freier Markt ermöglicht individuelle Freiheit auf der einen Seite. Auf der andern Seite bewirkt es eine indifferente, wertlose Gleichmacherei.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Mit steigender Kultur wird der Individualitätswunsch des Menschen geweckt. In differenzierter Gesellschaft definiert er sich über die Summe seiner sozialen Kreise und die darüber hinaus gehende Einzigartigkeit. Da er aber nie aus dem Rollengefüge hinaus kann, besteht Gesellschaft weiter. Indem man in bestimmten Gruppen, Kreisen eingebunden ist, wird die eigenen Identität geformt. Der Mensch braucht auch die Gesellschaft, da er seine egoistischen Ziele nur über sie erreichen kann. Die Ziele erreicht er aber nur über altruistische Maßnahmen, die eine Versittlichung des Lebens bewirken. Die Kollektivsittlichkeit und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind in differenzierten Gesellschaften sogar höher als in undifferenzierten, da Institutionen und Vereine die Sitte verbreiten.

„Mit einem Wort, Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmäßiger, wenn die Socialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persönlichkeit in einen einheitlichen Kreis zu zwingen, vielmehr die Möglichkeit gewährt, daß das Homogene aus heterogenen Kreisen sich zusammenschließt.“ (Simmel 1989, 247)

Nachteilige Entwicklungen der sozialen Differenzierung können Vereinsamung, innere Konflikte oder Bedrohung durch abstrakte Systeme sein.

4. Spätmoderne

Nachdem nun einfache Moderne und soziale Differenzierung beschrieben worden sind, ist nun zu untersuchen, wie sich die einfache Moderne zur späten Moderne weiterentwickelt hat und durch welche Merkmale sie sich auszeichnet:

Die theoretischen Überlegungen zu Modernisierung und Moderne sind insoweit nützlich, da sie versuchen einen komplexen Entwicklungsprozeß zu beschreiben, der verschiedene gesellschaftliche Felder berührt. In den letzten Jahrzehnten allerdings gibt es nun neue soziale Phänomene, die sich nicht mehr ausschließlich mit den Mustern der einfachen Moderne erklären lassen.

Statt dessen bieten sich zwei neuere Theorien an, die zu ihrem Ausgangspunkt die Moderne machen, nämlich Postmoderne und Spät (bzw. Reflexive) Moderne. Die zweit genannte soll vor allem Gegenstand der Untersuchung sein. Postmoderne Theorien umfassen eine große Anzahl von Ansätzen und Überlegungen – auch in verschiedenen Disziplinen wie der Architektur oder Soziologie. Einige der soziologischen Gesichtspunkte werden in nachfolgenden Kapiteln aufgenommen und diskutiert. Den postmodernen Theorien gemein ist, daß sie einen Bruch, das Ende mit der Moderne annehmen. Aufgrund negativer Entwicklungen in Gesellschaft und Politik gehen sie davon aus, daß die Moderne ihre Legitimation verloren hat. Große Erzählungen wie Mythen des Liberalismus und der Wahrheit sind nicht mehr aufrechtzuerhalten. Dagegen sprechen Erfahrungen wie totalitäre Regime, Massenvernichtungswaffen etc. (vgl. Marshall 1998, 512). Zunehmende Durchdringung des Kapitalismus in gesellschaftliche Bereiche und fortschreitende Differenzierung bewirken Orientierungslosigkeit des Einzelnen, Gemeinschaft ergibt sich wahlweise und kurzfristig. Der einzelne sucht sich seine Fixpunkte selbst[1].

Die Theorie der späten, reflexiven Moderne läßt sich von der Postmoderne durch folgenden Gegensatz abgrenzen: „Die Postmoderene widerruft, was die Theorie reflexiver Modernisierung in Erinnerung ruft: den Anspruch der Aufklärung, gerade auch wenn dieser gegen sich selbst gerichtet ist.“ (Beck 1996, 24). Zwar geht die reflexive Moderne ebenso wie die Postmoderne davon aus, daß man nicht mehr nur mit den Erklärungsmustern der einfachen Moderne operieren kann, lehnt die Moderne aber nicht als überholt oder ungültig ab. Auch wenn kritische Gedanken der Postmoderne (Gefahr des Totalitarismus etc.) aufgenommen werden, ist die aktuelle Gesellschaft als höchste Phase der Moderne zu sehen, in der die erste (einfache) Moderne durch eine zweite (reflexive) auf- und abgelöst wird:

„Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Modernisierung die ständisch vereknöcherte Agrargesellschaft aufgelöst und das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgeschält hat, löst Modernisierung heute die Konturen der Industriegesellschaft auf, und in der Kontinuität der Moderene eine andere gesellschaftliche Gestalt.“ (Beck 1986, 14).

Sprechen wir von reflexiver Moderne, so ist reflexiv im doppelten Sinne zu verstehen: Einerseits kann man den Begriff reflexiv durchaus wörtlich nehmen, nämlich als Wiederkommen bzw. Zurückschleudern der durch Menschen produzierten Risiken und Folgen. Industrialisierung, Rationalisierung, Urbanisierung produzierten Risiken in Formen von Umweltverschmutzung etc. die nun den Menschen bedrohen. Natürlich war der Mensch immer Risiken ausgesetzt, aber heute stehen wir gewaltigen, globalen Risiken gegenüber, z.B. atomaren Katastrophen. Das Wort „global“ ist ebenfalls im Zusammenhang mit dem Konzept der Spätmoderne wichtig. Global[2] sind nicht nur die Risiken, sondern auch die Einflüsse auf das Individuum. Ausdruck findet Globalisierung in der Ökonomie, Medien aber auch neuen sozialen Bewegungen. Wie der Mensch diese neuen Einflüsse verarbeitet, führt uns zur zweiten Bedeutung des Reflexivitäts-Begriffes. Reflektierend, nachdenkend, selbständig gestaltend formt der Mensch seine Identität. Mit den neuen Risiken fallen auch Sicherheiten weg, z.B. Vertrauen in Wissenschaft – eine Parallele zur Post-Moderne.

Mag der Mensch zwar reflektierend, bewußt Risiken verarbeiten, so ist zu beachten, daß die Transformation „eher un reflektiert, un gewollt, eben mit der Kraft verdeckter (verdeckt gehaltener) »Nebenfolgen«“ erfolgt. (Beck 1996, 27). Es geht also um die internen Nebenfolgen der Nebenfolgen, nicht um deren externe Nebenfolgen. Beck nennt als Beispiel z.B. wie Rinderwahnsinn (= moderne Folge der Agrarindustrie ) nicht nur als gefährliche Krankheit angesehen wird (externe Folgen), sondern wie Märkte und Verantwortliche damit umgehen (interne Folgen). (vgl. Beck 1996, 27).[3]

Die Folgen sind dreifach: „ Erstens Unsicherheit, zweitens Politisierung, drittens ein Ringen um (neue) Grenzen“. (Beck 1996, 27)

Diese Folgen auf globaler, allgemeiner Basis ergeben schematisch zusammengefaßt folgenden Vergleich erste – zweite Moderne (vgl. Beck 1996, 45ff. und 65ff.):

1) Reflexive Modernisierung löst die kulturellen Voraussetzungen sozialer Klassen auf und ab durch Formen der Individualisierung[4] sozialer Ungleichheit. Die erste Moderen hatte die Ständegesellschaft aufgelöst. Neue Gemeinsamkeiten fanden die Menschen in Klassen und Schichten, die sich durch einen ähnlichen Stil in Beruf, Bildung etc. auszeichneten (z.B. Proletariat – Bourgeoisie). Diese Großgruppen verschwinden allmählich, Ungleichheit wird individuell. Dennoch ruhen politische Institutionen (Parteien, Gewerkschaften) weiterhin auf diesem Fundament.

2) Funktionale Differenzierung erzeugt fundamentale Folgeprobleme, die ihrerseits nicht durch funktionale Differenzierung (auf)gelöst werden können[5]. In der einfachen Moderne bildeten sich Subsysteme mit eigener Logik heraus. Entstand z.B. im Teilbereich der Wirtschaft ein Problem z.B. Armut so differenzierte sich Wirtschaft in Teilbereiche aus wie Wohlfahrt, Gesundheitswesen etc. Nun können die Teilsysteme nicht mehr weiter differenziert werden. Es entsteht die Fragen, wie diese Teilsysteme untereinander koordiniert werden können, wie sie weiter kombiniert werden können. Eine wichtige Aufgabe ergibt sich hierbei für die Experten.

Um beim Begriff der Wirtschaft zu bleiben: Die einfache Moderne zeichnet sich durch Wirtschaft oder präziser gesagt durch ihren Ruf als Industriegesellschaft aus. Die zweite Moderne erkennt, daß es in der Gesellschaft moderne und nicht-moderene Tendenzen (z.B. unveränderte Institutionen, Ausschluß von unteren Schichten am gesellschaftlichen Reichtum) gibt. Es kommt zu einem Zusammenspiel und gegeneinander von reflexiver Moderniserung und Gegenmoderniserung.

3) Der Begriff der linearen Rationalitätssteigerung meint Doppeltes: ein deskriptives und ein normatives Modell. Die einfache Moderne geht davon aus, daß sich die gesellschaftlichen Institutionen immer weiter, positiv entwickeln, anpassungs- und leistungsfähiger werden. Differenzierung erfolgt aus Leistungsgesichtspunkten und ist somit als Rationalisierung zu verstehen. Nun schafft zunehmende Differenzierung – wie gerade erwähnt - keine weiteren Lösungsmöglichkeiten. Auf die Frage, wie man mit neuen Problemen umzugehen hat, muß man alternativlos auf die bisherigen Institutionen zurückgreifen. An Stelle der Linearitätsmodelle treten außerdem vielfältige Argumentationsfiguren der Selbstveränderung,

gefärdung, -auflösung. Fortschritt ist nicht mehr gesichert, statt dessen kehrt Ungewißheit über die künftige Entwicklung zurück.

5. Zusammenfassung

Die Entwicklung von der traditionellen zur modernen und zur spätmodernen Gesellschaft ist ein Prozeß , der alte Denk- und Gesellschaftsmuster durch neue auflöst und ersetzt. Die tradierte Ordnung der Ständegesellschaft, die ihre Legitimation durch Religion erfuhr, wurde durch die Ordnung der Industriegesellschaft ersetzt, die auf Rattionalitätsaspekten basiert. Auf der einen Seite bewirkte dieser verändernde Übergang einen Zugewinn an Freiheit und Aufklärung, auf der anderen Seite kam es zum Wegfall von Orientierungshilfen und neuen Ungleichheiten. Die fortschreitende gesellschaftliche Differenzierung ist nicht nur unter wirtschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Aspekten interessant (z.B. im Bezug auf enorme Produktivitätsfortschritte oder dem grundlegenden Wandel im Denken aufgrund wissenschaftlicher Parameter und nicht mehr religiöser), sondern auch – und für unsere Zwecke im Besonderen – aus soziologischer Sicht. Indem der Mensch nun an immer mehr sozialen Kreisen teilnahm, veränderte sich auch der Identitätsbegriff. Da die Kombination der sozialen Kreise unterschiedlich ist, ergibt sich Identität als Folge von Differenz[6]. Zwar gab es im Ständestaat schon differente Positionen und somit Identitäten (Fronherren – Vasallen etc.) doch besteht der Unterschied nun darin, daß der Mensch nun mehr Zugang zu unterschiedlichen Positionen hat. Dies ist Voraussetzung für die Bildung von Individualität. Andererseits wurde Individualität und grenzenlose Differenzierung durch die der Industriegesellschaft immanente Zwänge begrenzt, so daß der Mensch statt in feudalen Ständen nun in Klassen organisiert wurde, die seinem Individualitätswillen Grenzen setzten[7].

Der Übergang zur Spätmoderne greift die Grundüberlegungen der Moderne, die für Identitätsfragen wichtig sind, auf, stellt sie aber unter kritische Beobachtung. Zunächst erweitert die Spätmoderne den Untersuchungsbereich, indem sie den Blick für Globalisierung schärft. Globale Einflüsse – im positiven Sinne Kosmopolitismus; im negativen Sinne globale Risiken durch Fundamentalismus – sind ein zusätzlicher Faktor. Der Punkt Globalisierung illustriert beispielhaft das ambivalente Reflexivitätspostulat der Spätmoderne, nämlich das Wirksamwerden der Nebenfolgen und Risiken einerseits und den Selbstbestimmungsprozess andererseits.

Begreifen wir das Wirken der Nebenfolgen als strukturellen Einfluß, dem das reflexive Handeln gegenübersteht, so sollte dies dem folgenden Kapitel über Identität als Diskussionsleitfaden dienen. Es sind die Fragen nach Individualisierung und Vergemeinschaftung, nach Ausblicken und Grenzen moderner Identitäten, nach Überwindung von Unsicherheiten und Schaffen neuer Fixpunkte, die uns begleiten werden.

II. Identität

In diesem Kapitel wird nun ein Aspekt bzw. eine Konsequenz der Moderne untersucht, nämlich wie sich Identität im Übergang von einfacher zu später Moderne entwickelt und darstellt.

Doch da Identität mindestens ein genau so populärer wie facettenreicher Begriff wie Moderne ist, ist es zunächst sinnvoll, sich einen Überblick über wichtige Theorien zu verschaffen. Eine einfache Definition für Identität sollte nicht genügen, denn selbst das renommierte Oxford Dictionary of Sociolgy schreibt:

„Although the term identity has a long history – deriving from the Latin term idem implying sameness and continuity – it was not until the twentieth century that the term came into popular usage. [...]. There is [...] no clear concept of identity in modern sociology. It is used widely and loosely in reference to one’s sense of self, and one’s feelings and ideas about oneself“ (Marshall 1998, 293ff.).

Diese eher offene Definition und relative Unbestimmtheit eröffnet verschiedene Ansatzpunkte der Begriffsbestimmung, nicht nur von rein wissenschaftlicher (soziologischer, psychologischer) Seite aus.

So nahmen verschiedene soziale Bewegungen, z.B. Frauenbewegungen oder Bürgerrechtsbewegungen den Begriff der Identität für sich in Anspruch, um ihre politischen und sozialen Ziele zu propagieren und ihrer Bewegung einerseits Dynamik und Charakter zu verschaffen, andererseits aber auch den Unterschied zu den gesellschaftlich (noch) dominierenden Werten zu betonen.

Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich verschiedene Diskussionswege im Bezug auf das Thema Identität konstatieren. Konträr stehen sich essentialist und non-essentialist theories gegenüber.

Essentialist theories gehen von einer „wahren“, biologischen, unverfälschten – und unverfälschbaren – Identität aus, die Angehörigen einer Gruppe oder einer Person selbst stets zugeschrieben werden kann.

Non-essentialist theories verneinen den Anspruch eines „real me“ ganz oder teilweise. Sie betonen die Konstruktion der Identität aufgrund sozialer oder psychologischer Einflüsse. Ihr Blick richtet sich also mehr auf Fragen der Sozialisation, der Kultur, des Lernens, der Institutionen statt der Biologie oder Geschichte.

Wenn im Anschluß an diese gleichsam klassischen Theorien das Thema der reflexiven Identität erörtert wird, sind also bestimmte Aspekte zu beachten, nämlich inwiefern Identität aktiv gestaltet wird und inwiefern Identität strukturellen Bedingungen unterliegt – vor allem, welche strukturellen Bedingungen dies genau sind.

1. Essentialist theories

Allen Variationen der Essenz-Theorien ist gemein, daß sie voraussetzen, es gebe eine psychologische oder biologische Essenz – einen Kernbereich – menschlichen Handelns, der wissenschaftlich nicht nachweisbar ist. Die Identität ist also im gewissen Maße bereits (prä)determiniert.

Der Unterschied der Theorien liegt in der Bestimmung des Kerns (vgl. Fulcher/Scott 1999, 139ff.):

Der psychodynamische Ansatz – von Freud begründet – besagt, der Mensch besitzt Triebe, Instinktreste , z.B. Hunger, Sexualtrieb, welche die Identität formen.

Sozio-biologische Ansätze machen die Unterschiedlichkeit der Menschen bzw. Einzigartigkeit eines Menschen/einer Gruppe an Gentheorien fest. Eine extreme Form zeigt sich in sogenannten Rassenlehren.

Der sogenannte kulturelle Ansatz stammt aus der Feminismus-Debatte. In einer extremen Variante betonen Frauenrechtlerinnen die Unterschiedlichkeit zwischen den Geschlechtern und deren Unvereinbarkeit.

Die Relevanz all dieser Ansätze liegt zweifellos im Bereich der „Identity politics“, also im pluralen Meinungskampf auf der öffentlichen und politischen Bühne. Unterdrückte Gruppen oder Minderheiten berufen sich auf ihre „ureigene“ Identität, schaffen somit ein Gemeinschaftsgefühl und können so als soziale Bewegung oder politische pressure group Einfluß nehmen und ihre Ziele propagieren. Gerade Bewegungen wie Feminismus oder Bewegungen ethnischer Minderheiten (Diaspora) haben auf gesellschaftliche Ungleichheit bzw. Unterdrückung aufmerksam gemacht[8].

Doch die politische Relevanz sollte nicht über soziologische Unzulänglichkeiten im Bezug auf den Gehalt der dahinter liegenden Identitätstheorie hinwegtäuschen. Es mag sogar soweit kommen, daß die politische Relevanz, welche noch als potentiell positiv beschrieben wurde, sich als negative entpuppt:

Der gravierendste Einwand gegen Essenz-Theorien ergibt sich aus derer wissenschaftlicher Fragwürdigkeit. Insbesondere die Begründung, Identität und Differenz an Genen festzumachen, ruft Assoziationen zu rassistischen und nationalistischem Gedankengut hervor. Solche Theorien münden oft in eine Art Ethnozentrismus, welche zur Überschätzung der eigenen Gruppe führt bei Abwertung und Geringschätzung anderer Gruppen. Aus der Genforschung weiß man mittlerweile ebenfalls auch um die Falschheit dieser Annahmen: „Most importantly, individual differences in genetic differences (so-called within-group differences) are much greater than these population differences (between-group differences)“ (Fulcher/Scott 1999, 144).

[...]


[1] Die Suche nach Fixpunkten ist postmodernen und spätmodernen Theorien gemein und wird in den folgenden Kapiteln zu vergleichen sein.

[2] Eine Diskussion zur Globalisierung findet sich in Kap. III. 3.

[3] Als aktuelles Beispiel könnte man eventuell auch die terroristischen Anschläge nehmen. Moderne Flugzeuge werden zum Risiko statt zum technischen Fortschritt. Globaler Kapitalismus produziert Ungleichheit, der sich in Terror umschlägt. Anschläge kosten nicht nur Menschenleben (exterene Reaktion), sondern führen einerseits zu Solidarität, aber auch erhöhten Sicherheitsbestimmungen (interne Reaktion).

[4] Individualität wird näher behandelt in Kap. II.3. über reflexive Identitäten.

[5] In Kap. III.4 wird das Konzept der Politik der Lebensführung als Revisionsinstanz dargestellt.

[6] dazu mehr in Kap. II.3 und II.4

[7] Die Diskussion Struktur vs. Handeln wird eines der Hauptmotive dieser Diplomarbeit sein.

[8] Genauere Diskussion zu essentieller Identität und sozialen Bewegungen dazu im Kap. II. 5 und III. 3.

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Reflexive Identitäten - Facetten der Moderne
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Soziologie)
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
99
Katalognummer
V38159
ISBN (eBook)
9783638373142
Dateigröße
825 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit gibt einen breiten (historischen) Überblick über gängige Identitätstheorien. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der kritischen Diskussion der Theorie der reflexiven (späten) Moderne (A. Giddens, U. Beck) und dem Konzept der reflexiven Identität.
Schlagworte
Reflexive, Identitäten, Facetten, Moderne
Arbeit zitieren
Tomas Jerkovic (Autor:in), 2002, Reflexive Identitäten - Facetten der Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38159

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