Die Ästhetik der Vernunft im (Anti-) Bildungsroman. Eine Analyse der Romane "Der Gehülfe" von Robert Walser und "Der Trafikant "von Robert Seethaler im Vergleich


Masterarbeit, 2017

59 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

1 Einleitung

2 Definitionen

2.1 Bildungsroman

2.2 Antibildungsroman

2.3 (auto)biographisches Schreiben

2.4 Vernunft

3 Isolierte Darstellung der Romane

3.1 Der Gehülfe

3.1.1 Die Vernunft im Roman

3.1.2 sprachliche Vorführung des Protagonisten

3.2 Der Trafikant

3.2.1 Die Vernunft im Roman

3.2.2 sprachliche Vorführung des Protagonisten

5 Das Verhältnis der Romane

5.1 Das Gattungsverhältnis

5.2 Das Verhältnis der Vernunft, Selbst- und Fremdliebe

6 Schluss

Literaturverzeichnis


1 Einleitung

 

Zwischen dem Erscheinen der beiden Romane Der Gehülfe von Robert Walser, erschienen 1908, und Der Trafikant von Robert Seethaler, erschienen 2012, liegen etwa 100 Jahre Zeitgeschichte. In diesem Zeitraum hat sich die Beziehung zwischen Vernunft und Gesellschaft durch gesellschaftliche Veränderungen im Allgemeinen und das dritte Reich im Besonderen deutlich verändert. Neben sprachlichen Besonderheiten und Besonderheiten der Beziehung zwischen Fiktion, historischer Realität und biographischer Realität, soll in dieser Arbeit vor diesem Hintergrund vor allem die Bedeutung und Darstellung der Vernunft in den beiden Romanen vergleichend untersucht werden. Hierbei gilt es zu untersuchen, ob die Helden in den beiden Romanen es verstehen, um mit dem angeführten Zitat von Sloterdijk zu sprechen, zu denken.

 

Dem Verfasser drang sich, angeregt durch die zeitliche Nähe seiner Lektüre der untersuchten Romane, der Verdacht auf, dass sie sowohl inhaltlich, als auch in der Erfüllung bestimmter Gattungsmerkmale Parallelen aufzuweisen scheinen. Die Unklarheiten, die bezüglich der Gattungseinordnung Walsers Roman in der Forschungsliteratur vorliegen[2], bestätigten zunächst den Eindruck, dass er sich den Schemen bestehenden Gattungen entzieht. Der Erkenntnisgewinn, der eine Einordnung der beiden Romane mit sich bringt, könne möglicherweise, so die Überlegung des Verfassers, Gemeinsamkeiten aufdecken und Klarheit über die bislang weniger diskutierte Gattung Antibildungsroman und ihr Verhältnis zu den Romanen schaffen. Nicht nur die beide Romantitel verbindende Bezeichnung einer Berufstätigkeit, sondern vielmehr der Modus des Denkens der beiden Protagonisten[3] verdichtete diesen Verdacht und führte zu der entschlossenen Entscheidung des Verfasser, diesem Phänomen auf die Spur zu gehen.

 

Als ein erster method(olog)ischer Schritt werden zunächst Definitionen der grundlegenden Begriffe vorgestellt. Diese Begriffe Bildungsroman und Antibildungsroman voneinander und zu verwandten Gattungen abgrenzend, autobiographisches Schreiben zwischen dem Autobiographischen Pakt und der Autobiographie als Maskenspiel einordnend und Vernunft in seiner philosophischen Bedeutung und seiner literarischen Darstellung präsentierend stellen hierbei die, wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu sehen sein wird, grundlegenden Begriffe dar. In der Archäologie des Wissens beschreibt Foucault 1969 das Verhältnis zwischen Geschichte und Subjekt. Das Subjekt kann auch als Unterworfenes[4] bezeichnet werden, so Foucault, da es an die historischen Bedingungen seiner Möglichkeiten gebunden ist[5]. Da das Subjekt sich aufgrund der Umstände, denen es unterworfen ist nicht selbst reflektieren kann, ist eine Reflexion nur rückblickend möglich. Eine Analyse der Ästhetik der Vernunft in den Romanen wird vor diesem Hintergrund zeitgeschichtliche Unterschiede und Bedingungen, denen die Autoren aufgrund ihrer zeitlichen Distanz unterliegen, gleichermaßen berücksichtigen.

 

Als weiterer Schritt dieser Arbeit werden die beiden Romane im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse und ihre sprachlichen Besonderheit und Besonderheiten ihrer Darstellung von Vernunft analysiert. Dieses Vorgehen ermöglicht es, anschließend das (Gattungs-)Verhältnis und die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede der Darstellung der Vernunft in den Romanen zu untersuchen. Ein Abschluss resümiert schließlich die gewonnen Erkenntnisse.

 

2 Definitionen

 

Ein chinesischer Autor antwortete auf die Frage, was er als mächtige Person tun würde, dass er die „Bedeutung der Wörter festlegen“[6] ließe. Ähnliche Absichten verfolgen die folgenden Definitionen, indem sie leitende Schlüsselbegriffe, die das Thema zu erforschen erlauben sollen, vorstellen. Hierbei werden speziell die Begriffe Bildungsroman, Antibildungsroman, autofiktionales Schreiben und Vernunft mit einem Hauptaugenmerk auf die jeweiligen Bereiche und Autoren, die für diese Arbeit erkenntnisreich und -weisend sein werden, vorgestellt.

 

2.1 Bildungsroman

 

Bevor auf den Bildungsroman im Speziellen eingegangen wird, muss zunächst der Gattungsbegriff im Allgemeinen vorgestellt werden. Gattungen haben in der Literatur die drei Funktionen: (1) zu ordnen, (2) zu stabilisieren und (3) zu entlasten: „Sie ordnen und stabilisieren die ,Welt der Literatur‘ und sie entlasten (Autoren wie Leser) dadurch, daß sie bestimmte Erwartungen und Ansprüche erfüllen“[7]. Wie Zymners Zitat zeigt, hat die Zuordnung eines Romans einen vielseitigen Nutzen. So erweist sich das Vorhaben dieser Arbeit, die beiden dieser Arbeit zu Grunde liegenden Romane auf Gattungsmerkmale zu untersuchen, als bedeutsames und erkenntnisreiches Verfahren.

 

Bei diesem Vorhaben ergibt sich ein Problem, auf welches der Verfasser bereits ausführlich in seiner Bachelorarbeit hingewiesen hat[8]. Gemeint ist der problematische Begriff Idealtypus in Gattungsdiskussionen, dessen sprachliche Etablierung einen hohen Preis zu zahlen hatte: Eine Gattung umfasst eine unerschöpfliche Vielzahl an Büchern zu dem Begriff Idealtypus, wodurch eine Gattungsdefinition den Bedeutungsumfang aller Romane einhalten müsste und auf das Einzelwerk nicht zutreffen würde. Vor diesem Hintergrund wurde unter Rekurs auf Janoska-Bendl eine Lösung auf philologischer Ebene empfohlen, indem ein Roman mit dem Adjektiv als „idealtypisch“ für eine Gattung bezeichnet wird[9]. In diesem adjektivistischen Gebrauch wird deutlich, dass die untersuchten Romane graduell (nicht kategorisch) einer Gattung zugeordnet werden und im weiteren Verlaufe Tendenzen beider behandelter Romane anzudeuten sein.

 

Da im Folgenden der Bildungsroman vorgestellt wird, ist zunächst die Unterscheidung und Etablierung dieser Gattung im Gegensatz und in Unterscheidung zum Entwicklungsroman zu erläutern. Die Kritik betrifft den Begriff Entwicklungsroman, nachdem festgestellt wurde, dass in jeder Literatur Entwicklungen vollzogen werden, wie etwa denkbar in fantastischer oder Kriminalliteratur, wodurch sich der Begriff als nicht treffend herausgestellt hat. Der Begriff Entwicklungsroman kann daher eher als Oberbegriff für Literaturgattungen dienen, in welchen eine Entwicklung begleitet wird[10]. Auch der Begriff Erziehungsroman vermag den Kern der Gattung nicht zu beschreiben, denn

 

Erziehung ist in der Pädagogik die von außen kommende Beeinflussung des Werdegangs eines jungen Menschen, während die Bildungsromane das menschliche Werden unter dem Gesichtspunkt spontaner Eigenkraft, Selbsttätigkeit und Eigengesetzlichkeiten darstellen[11].

 

Da der Begriff Entwicklungsroman nur unzureichend konkret ist und Erziehungsroman mit seinem Erziehungsbegriff auf konträre Zusammenhänge zum Handlungsablauf des Bildungsromans abzielen würde, erscheint es schlüssig, dass sich der Begriff Bildungsroman in der Literaturwissenschaft hat durchsetzen können.

 

Die Entstehungsgeschichte des Bildungsromans beginnt mit der Aufwertung des Theaters von umherziehenden Wanderbühnen zum stehenden Theater im 18. Jahrhundert. Waren die nach Bildung strebenden Bürger bis Mitte des 18. Jahrhunderts ästhetisch und von der Moraldarstellung des Theaters enttäuscht, ermöglichten es neue Theaterstücke den Bürgern, sich mit der bestehenden Moral auseinanderzusetzen. Der Bildungsroman griff diese Ästhetik auf und adaptierte die Methode des Theaters, den aufgeklärten, selbstbestimmten Bürger auf verschiedene Figuren zu verteilen, auf die Beschreibung der Entwicklung einer Hauptfigur[12].

 

Bevor der erste Bildungsroman verfasst wurde, wurde er bereits von Christian Friedrich von Blanckenburg definiert. 1774 entwarf dieser in seiner Romantheorie Versuch über den Roman erstmals die „,innre Geschichte‘ eines Helden, nicht die Darstellung äußerer Handlungsabläufe als ,das Wesentliche und Eigenthümliche eines Romans‘“[13]. Diese „innre Geschichte“ des Helden, die von Blanckenburg zum Standard deutscher Literatur erklären will, steht für Hegel im „Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse“[14]. Auch Hegel gebraucht den Begriff Bildungsroman noch nicht, sondern bezieht sich auf die neuen Helden der zeitgenössischen Literatur und ergänzt, dass die Helden in der derzeit aktueller Literatur „im heroischen Sinne keine mehr sind, sondern ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft suchende Jünglinge“[15]. Dabei sieht er den Entwicklungsprozess nicht als zunehmende Weiterentwicklung sondern als „schrittweisen Angleichungsprozess an die gegebene Ordnung“[16].

 

Von Wilhelm Dilthey wird erstmals Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) als erster Bildungsroman genannt; diese Bezeichnung konnte sich in heutiger Literatur überwiegend durchsetzen[17]. Ausgehend von Goethes Roman wurde der Bildungsroman anschließend unterschiedlich definiert. Dilthey etablierte ausgehend den Begriff Bildungsroman dabei erstmals in der literaturwissenschaftlichen Diskussion und bestimmte 1870 drei notwendige Bedingungen, denen ein konkreter Roman genügen muss, um ihn als Bildungsroman zu betrachten:

 

„1) ausschließlich und ausdrücklich Romane der Wilhelm Meister-Nachfolge;

2) Romane im Umkreis einer bestimmten Romantikergruppe […]; und

3) den Bildungsroman als Unterart des ,Künstlerromans‘“[18].

 

Den Handlungsverlauf des Bildungsromans beschreibt Dilthey bereits mit der Beschreibung eines Jünglings,

 

„wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird“[19].

 

Diese am Helden ansetzende Definition verdeutlicht, dass bei einer Einordnung der vorliegenden Romane in dieser Arbeit der jeweilige Held und seine Entwicklung in besonderem Maße ausschlaggebend für die Gattungseinordnung sein muss.

 

Die „Dynamik literarischer Evolution“[20] führte zu einer zunehmenden Modernisierung des Bildungsromans seit Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Dennoch hat sich ein dreiphasiger Normalaufbau durchsetzen können. So weisen Bildungsromane in der Regel das Muster bestehend aus Jugendjahre, Wanderjahre und Läuterung auf. In den Jugendjahren wird sich der Protagonist, begleitet von Phantasiekräften, zunehmend über sein eigenes Handeln bewusst, in den Wanderjahren widerfahren ihm Krisen und Verfehlungen und im letzten Abschnitt, der Läuterung ist der Charakter des Protagonisten ausreichend sozialisiert bzw. entwickelt[21].

 

Zusätzlich gattungstypisch ist der chronologisch voranschreitende zeitliche Aufbau mit vergleichsweise wenigen Erzählerkommentaren oder Rückblenden. In der Forschungsdiskussion hat man die Modernisierung des Bildungsromans darüber hinaus in der „Verlagerung des Bildungsfokus von der Person des Helden auf die Person des Lesers“[22] festgemacht. So ist festzustellen, dass der traditionelle Bildungsroman eine Heldenentwicklung beschreibt, die exemplarischen und empathieeinnehmenden bzw. -prägenden Charakter besitzt. In diesem Charakter besteht der Unterschied zu einer verwandten Gattung, der künstlich inszenierten Autobiographie. Beide Gattungen überblicken das Leben von einer höheren Warte aus, der Bildungsroman beschreibt dabei im Unterschied die Entwicklung allgemein-menschlich und die Begebenheit wird zum Symbol[23]. Es erscheint naheliegend, dass der Bildungsroman als die deutsche Großform des Romans betrachtet wird[24], wirkt sich doch nach Nietzsche „gerade im Werden die existentielle Eigenform des deutschen Wesens [aus]“[25].

 

2.2 Antibildungsroman

 

,Anti-Gattungen‘ wie der Antibildungsroman oder der Antidetektivroman stellen Adaptionen etablierter Gattungen dar. Diese reflektieren innerhalb festgesetzter Handlungsstrukturen zusätzlich „die Bedingungen und Verfasstheit von Wissen und Sein“[26]. Die Diskussion kann sich rein experimentellen oder parodistischen Charakter aufweisen[27]. Der Antibildungsroman thematisiert darüber hinaus Möglichkeit des Protagonisten, zu scheitern, indem die persönliche Entwicklung einen Kontrast zur Umgebung darstellt[28]. So ist der Antibildungsroman dort zu finden, wo ein Roman durch Insistenz gegen die positive, mit der Umgebung versöhnende Entwicklung des Protagonisten auffällt und die Bedingungen von Wissen und Sein diskutiert. Es deutet sich bereits an, dass der Antiheld bei der Gattungseinordnung des Antibildungsromans ins Zentrum der Überlegungen zu setzen ist, da sein Scheitern ein zentrales Merkmal sein wird.

 

2.3 (auto)biographisches Schreiben

 

Im Film Matrix von 1999 fragt Neo, nachdem er herausgefunden hat, dass er nicht in der realen, sondern in einer von anderen Lebewesen erschaffenen und gesteuerten Wirklichkeit lebt, seinen Mentor Morpheus, warum er eine Wunde als Realität wahrnimmt, nachdem er sich im gemeinsamen Sparring eine Verletzung zugezogen hat. Dieser antwortet schließlich: „your mind makes it real“[29]. Kant will entgegen dieser rein auf Täuschung basierenden Definition menschlicher Realität nicht sagen, dass die Welt, wie wir sie kennen, eine Fiktion ist, sondern dass es unsere Welt so gibt, wie sie uns durch uns erscheint. Was der Mensch als wirklich erlebt, sind Phänomene, nicht die hinter diesen stehenden, sie evozierenden Dinge an sich. Die menschliche Wirklichkeit ist nach Kant, und hierin besteht der Gegensatz zur Matrix, keine Fiktion, jedoch existiert sie nur durch und in menschlicher Wahrnehmung. Die Schrift in dieser Arbeit erscheint schwarz, weil die menschliche Wahrnehmung die tatsächlich existierende Schrift schwarz erscheinen lässt. Der naturwissenschaftlich und metaphysisch interessierte Kant bewirkt einen Paradigmenwechsel durch seine These, dass sich dem Menschen lediglich Phänomene präsentieren: eine Symmetrie zwischen Wahrnehmungsbild und wahrgenommenem Objekt besteht dabei nicht und Urbild und Abbild stehen in keiner Relation[30]. In der deutschsprachigen Literatur hat sich in der Gegenwartsliteratur ein Schreiben durchgesetzt, welches mit ebendiesen Erkenntnisbedingungen, der aktiven Sicht der Dinge, zu spielen scheint, indem Biographisches in Romanen verortet wird. Aus diesem Grund nennen Michael Grote und Beatrice Sandberg heutiges Schreiben allgemein „Schreiben an der Grenze […] zwischen Autor und Text ebenso wie an der Grenze zwischen Wirklichkeitsbezug und Fiktion“[31]. Problematisch wird es dann, wenn in den Kompositionen aus Autobiographie und fiktionalen Texten reale Personen identifiziert werden können, die eine Vorlage für literarische Figuren darstellen: In Rechtsstreiten zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht wurde bereits mehrfach zugunsten der Ankläger entschieden, die sich in ihrer Intimsphäre betroffen sahen[32]. Als „epidemisch“ bezeichnet Albert Meier jene Entwicklung der gegenwärtigen Literatur, den „wohl stärksten […] Realitätseffekt“[33] dadurch zu erzielen, sich als Autor selbst in den fiktionalen Text einzuschreiben[34]. Nachdem Roland Barthes mit seinem Aufsatz Der Tod des Autors den Leser in den Fokus und den Autor in neue Verantwortung nimmt - polemisch ausgedrückt in seinem Satz „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors“[35] – scheinen Schriftsteller motiviert, sich dieser Forderung entschieden zu wiedersetzen. Um das Verhältnis zwischen autobiographischem und fiktivem Schreiben in den Romanen zu analysieren, muss zunächst eine Einführung in die Begriffe Autobiographie und Autofiktion erfolgen.

 

Michel Foucault beschäftigte sich im Zusammenhang mit Studien zur Ästhetik der Existenz im Jahre 1983in seinem Aufsatz Über sich selbst schreiben mit Notizen in ihren historischen Erscheinungsformen. Foucault zitiert hierin Athanius, der bereits im ersten Jahrhundert nach Christus das schriftliche Fixieren von Handlungen und Regungen der Seele als Möglichkeit beschrieb, dem eigenen Handeln und Denken erneut zu begegnen und es im Nachhinein rational beurteilen zu können. Nach Foucault besitzt „das Schreiben als Element der Selbstübung eine ethopoetische Funktion […]. Es ist ein Operator, der Wahrheit in Ethos umwandelt“[36]. Das Schreiben stellt ein Werkzeug dar, das hilft, sein Handeln zu prüfen, um seine ethisch-moralische Gesinnung zu festigen[37]. In Abgrenzung zu diesen Notizformen, deren Funktion speziell für die Mönchsgemeinschaft eine Hilfe bei der asketischen Schulung war, beschreibt Foucault die hypomnemata, eine in der breiten gebildeten Schicht verbreitete Form des Notierens. Gelesenes, Gesagtes und Geschehenes wird in ihnen gesammelt, um sein Selbst zu konstituieren. Diese „Sammlung aus Gelesenem und Gehörten [bildet die] Grundlage für die Übung des Denkens“[38]. Die hypomnemata bilden die Grundlage zur Fähigkeit zu rationalem Handeln durch „Aneigung, Vereinheitlichung und Subjektivierung ausgesuchter Fragmente von bereits Gesagtem“[39]. Es ist zusätzlich bedeutsam, seine Notizen bewusst zu selektieren, um durch den Selektionsprozess und anschließendes, erneutes Lesen der eigenen Notizen zu einem rationalen Subjekt zu werden. Auf diese Weise gibt man seinem Lebenslauf mit Hilfe des Schreibens Form. Wie diese Beispiele zeigen, können Notizen je nach Lebensstil und sozialem Stand oder Religiosität unterschiedliche Funktionen zukommen. Das Schreiben über sich selbst besitzt, wie deutlich wurde, eine lange Tradition und besetzt vor dem Hintergrund gattungswissenschaftlicher Diskussionen und der Frage nach dem Verhältnis zwischen Autorbiographie und Fiktion ein wesentliches Gebiet literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Eine Unterscheidung der Begriffe Autobiographie und Autofiktion soll daher dabei helfen, die Begriffe zuverlässig anzuwenden.

 

Das von Foucault untersuchte Schreiben über sich selbst in der Antike unterscheidet sich deutlich von Autobiographien seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Entgegen bisheriger religiöser Beichten und Abenteuergeschichten begannen sich individuelle Lebensgeschichten durchzusetzen, die auf Einzigartigkeit abzielen[40]. Die Gattung ,Autobiographie‘ ist in dieser Form eine junge Form nichtfiktionalen Erzählens. Als Kompositum setzt sich ,Autobiographie‘ aus den drei Lexemen autos (selbst), bios (Leben) und graphein (schreiben) zusammen, ließe sich also als ,selbst über sein Leben schreiben‘ übersetzen[41]. Lejeune kennzeichnet die Autobiographie in seiner Arbeit Der autobiographische Pakt 1975 zunächst und vor allem als Gattung, die sich durch Identität zwischen Autor, Erzähler und Figur hervortut. Er definiert verschiedene Merkmale, die eine Autobiographie enthält, um sie von Nachbargattungen zu trennen.

 

1. Die Autobiographie ist

 

a) in Prosa geschrieben,

b) eine Erzählung.

 

2. Das Thema ist die Geschichte einer individuellen Persönlichkeit.

 

3. Es liegt eine Identität von Autor und Erzähler vor.

 

4. a) Der Erzähler und die Figur sind identisch;

 

b) es handelt sich um eine retrospektive Erzählsituation[42].

 

Der autobiographische Pakt besteht demnach in dem „Versprechen des Autors gegenüber dem Leser, faktual über sein Leben zu berichten“[43]. Wie einleitend mit Hilfe von Kant beschrieben, ist menschliche Erkenntnis gebunden an individuelle Wahrnehmung. Die unterschiedliche Wahrnehmung von Realität bzw. Wahrheit führte so zu einer Kritik an Lejeunes Modell. So sehe Lejeunes Konzept „eine Trennung der Seinsbereiche von Wirklichkeit und Fiktion, Leben und Schreiben vor, die im Rahmen eines postmodern und poststruktural gewandelten Sprach- und Wirklichkeitsverständnisses problematisch wird“[44]. Nachdem Lejeune den Spielraum der Gattung Autobiographie mit Hilfe der Merkmale und des Wortes ,Pakt‘ starr einzugrenzen versuchte, widersetzten sich Autoren und Literaturwissenschaftler der Definition von Autobiographie als Gattung. So auch Doubrovsky 1977, indem er den Begriff Autofiktion etablierte: „Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten; wenn man so will, ist Autofiktion […] Wenn man nicht interessant ist, wird es darum gehen, sich, mit Hilfe des Schreibens, interessant zu machen […]“[45]. Autofiktion bezeichnet keine Gattung, wie es mit dem Begriff Autobiographie üblicherweise geschieht, sondern die Methode reale Ereignisse und Fiktion zu kombinieren. Diese Methode nicht als Gattung, sondern als Verständnisapparat des Lesers, der in allen Texten auftritt, zu definieren, ist es, was Paul de Man 1979 in seinem Aufsatz Autobiographie als Maskenspiel explizit fordert:

 

Autobiographie ist […] keine Gattung oder Textsorte, sondern eine Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt. […] Bei unserem Thema, der Autobiographie, geht es um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration[46].

 

Neben der konstanten sprachlichen Maskierung und Demaskierung des Autors und der Figuren beschreibt de Man den doppelten Verdacht des Lesers: Der Autobiographie wird die Fiktion und der Fiktion die Autobiographie unterstellt. De Man kommt, wie Beil resümiert, in dem Zusammenhang dem Prozess der „wechselseitigen Spiegelung“[47], dem Prozess des Lesens, mit Hilfe des Begriffes Prosopopöie auf die Spur, den Beil folgendermaßen definiert:

 

„[Die],Fiktion einer abwesenden, verstorbenen oder stimmenlosen Entität‘, jenes paradoxe sprachliche Geschehen, in dem sich das (autobiographische) Ich eines Textes zeigt und verbirgt, Stimme und toter Buchstabe zugleich“[48].

 

Das Spiel der Maskierung und Demaskierung des Autors und der doppelte Verdacht des Lesers können mit dem Begriff Prosopopöie als literarisches Mittel beschrieben werden.

 

Es wird ein vergleichbar leichtes Vorhaben darstellen, zu überprüfen, ob die vorliegenden Romane die vier Merkmale der Autobiographie nach Lejeune enthalten. Der Begriff Autofiktion wird eine nützliche Hilfe darstellen, mögliche Leservermutungen der Fiktion oder Realität und Wahrheits- bzw. Fiktionsansprüche der Romane in dieser Arbeit zu beschreiben. In diesem doppelten Verdacht des Lesers, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgedeckt wurde, erweist sich eine eindrückliche Parallele zu den Anfang des Kapitels beschriebenen menschlichen Erkenntnisbedingungen: die Unmöglichkeit, anhand textueller Hinweise zwischen Realität und Fiktion des Autors zu unterscheiden. Die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis bewegt Kant dazu auszuloten, wie bzw. ob sich die Grenzen menschlicher Erkenntnis überwinden lassen. Das Spiel der Literatur bewegt sich in ihrem Sonderfall, ihrer Kategorie aus Fakt und Fiktion.

 

Zeitgenössische Autoren entdecken gegenwärtig einen zunehmenden Verdacht der Leser gegenüber Autoren, den autobiographischen Pakt zu brechen. Patrick Salmen bewertet daher die künstlerische Balance zwischen Fiktion und Realität auf seinem Blog nicht ohne Augenzwinkern:

 

Vor einigen Tagen erreichte mich die Kritik, viele Geschichten aus meinen Büchern seien nur ausgedacht, ich hätte das „doch hundertprozentig nicht exakt so erlebt“. Jetzt fühl ich mich natürlich ertappt. Skandal. Da ist wohl manchmal die Phantasie mit mir durchgegangen.

 

Jetzt stelle ich mir allerdings vor, wie es wäre, wenn Buchautoren oder Drehbuchschreiber ausschließlich realistische und absolut glaubwürdige Geschichten verfasst hätten. Was für spannende Meisterwerke hätten uns wohl erwartet?

 

GAME OF THRONES: Jahrzehntelang regiert ein und derselbe König. Alle respektieren das. Niemand stirbt.

 

BREAKING BAD: Ein erkrankter Chemielehrer engagiert sich ehrenamtlich an einer Wuppertaler Gesamtschule als Vertrauenslehrer. Eigentlich wollte er Crystal Meth herstellen, war ihm aber zu krass.

 

DIE UNENDLICHE GESCHICHTE: Ein Junge liest ein Buch. Leider hat er keine Phantasie und findet es arschlangweilig. Stattdessen nimmt er Drogen.

 

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT: Ein Mann möchte einen Apparat erfinden um in die Zukunft zu reisen. Natürlich klappt es nicht. Vor lauter Selbsthass erfindet er Selfiesticks und Fidget Spinner.

 

JURASSIC PARK: Irgendwelche normalen Leute gehen in den Zoo. Stehen dann mit Spiegelreflexkamera vorm Schimpansen-Käfig und essen Löffelbiskuits. Die Stimmung kocht[49].

 

Auch ein weiterer zeitgenössischer Autor, Marc Uwe Kling, macht interliterarisch und autoreflexiv auf die Unmöglichkeit des Autors aufmerksam, Fiktion und Wirklichkeit vollständig zu trennen: „Manche Autoren behaupten ja, ihre Geschichten seien vollkommen fiktiv und würden weder von ihnen selbst noch von ihrer Umgebung handeln. Na klar“[50]. Sich aufdrängende Fragen, denen es in dieser Arbeit auf die Spur zu kommen gilt, lauten auch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen, wie sich das Verhältnis zwischen Fiktion, geschichtlicher Wahrheit und Autorbiographie in den Romanen darstellt und welche Einblicke die Autoren außerhalb ihrer Romane liefern, diese Fragen zu beantworten.

 

2.4 Vernunft

 

Die Frage nach der Bedeutung des Begriffs Vernunft lässt sich nur in seiner historischen Entwicklung hinreichend beantworten. In der Antike setzte sich bei einigen Philosophen etwa 600 vor Christus ein Weg des Denkens durch, „der von dem, was auf der Hand liegt, wegführt zu dem, was allem zugrunde und deswegen nicht auf der Hand liegt“[51]. Die zentrale Intention ethischer Überlegungen bestand dabei etwa bei Platon oder Aristoteles in einer Unterscheidung zwischen Gut und Böse, um böses Verhalten vermeiden zu können. Der Mensch sollte eine Wirklichkeit erkennen und im Streben nach dieser seine Erfüllung finden[52]. Diese Wirklichkeiten sind nach Platon und Aristoteles transzendent und vermitteln als zentrale und übereinstimmende Tugenden „Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung“[53].

 

Während die Begriffe mythos und lògos ehemals noch dasselbe (das Gesagte) bedeuteten, wird mythos seit dem 6. Jahrhundert im zunehmend negativen Sinn gebraucht. Mythos steht seitdem für Erkenntnisse, die sich nicht alleine durch die sinnlich erfahrbare Alltagswelt erklären lassen[54] und lògos entsprechend für das Gegenteil. Die spekulative Vernunft verfolgte zeitgleich das Ziel, „im reinen Denken das wahre Wesen der Welt zu erfassen“[55]. An der Schwelle zur Neuzeit wurden praktische, theoretische, religiöse und kognitive Aporien der spekulativen Vernunft deutlich, deren Ursache sich in „internen Irrationalitätserfahrungen der spekulativen Vernunft“[56] finden lassen. Die Skepsis, die Haltung alles zu prüfen, wurde in der Folge zum Prinzip: „Wir wissen es nicht und werden es nicht wissen“[57]. Spätestens seit Immanuel Kant wurde der spekulativen Vernunft fehlende Empirie unterstellt, der Vorwurf eines transzendentalen Vernunftbegriffs kam auf. Fehlender Immanenz sollte mit einer neuen Form der Vernunft begegnet werden.

 

Kant hat sich nicht nur, wie zu Beginn des vorigen Kapitels beschrieben, mit menschlichen Erkenntnisbedingungen beschäftigt hat, sondern auch mit Moral und Vernunft. In der Kritik der reinen Vernunft aus dem Jahr 1781 hat Kant sich auf die Bedeutung der Vernunft als eine seiner drei philosophischen Hauptfragen - unter der übergeordneten Frage ,Was ist der Mensch‘ bezogen. Seine erste Frage, ,Was kann ich Wissen?‘, bezieht sich auf den oben thematisierten Zusammenhang zwischen Realität und Wahrnehmungsbedingungen. Für eine Definition der Vernunft soll insbesondere die zweite Frage, ,Was soll ich tun?‘, herangezogen werden. Die dritte Frage, ,Was darf ich hoffen?‘, zielt, um Kants drei Fragen zu vervollständigen, auf die Religionsphilosophie.

 

Indem Kant menschliche Erkenntnis als gebunden an innere menschliche Wahrnehmung versteht, erscheint es nachvollziehbar, dass er Vernunft und menschliche Bedingungen ebenfalls verbindet. Kants Ethik ist zwar deontologisch, das bedeutet aus einer Pflicht heraus gesteuert, die individuelle Vernunft jedoch, so Kant, ist keinen äußeren Pflichten unterlegen, sondern entspringt dem eigenen Willen. Die Antwort auf die Frage „Was soll ich tun“ liegt in dem kategorischen Imperativ, einer universellen ethischen Regel, dessen prominenteste Formel lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“[58]. Der Begriff „Imperativ“ kündigt bereits die Forderung an, die in dem flektierten Verb „handle“ zum Ausdruck kommt. Kants Verständnis einer kritischen Vernunft und davon ausgehend sein allgemeines Gesetz menschlichen Handelns sieht vor, dass Selbstkritik nötig ist, um vernünftig zu handeln, unkritische Vernunft ist somit unvernünftig. Seine Formel richtet sich an jeden Menschen, dies erscheint umso bemerkenswerter im Vergleich zu anderen Ethiken wie etwa der antiken „Moral des Stils“ im römischen Reich im 2. und 3. Jahrhundert. Diese richtete sich zunächst lediglich an eine Minderheit der Menschen und wurde später als optionales Angebot verstanden, nicht als universelle Verpflichtung wie in Kants Ethik[59].

 

Es zeigt sich, dass der Vernunftbegriff durch Kant einen deutlichen Sprachwandel erfahren hat. So meint Vernunft heute mehr eine bloß kognitive Leistung im Sinne der Bewusstwerdung über menschliche Erkenntnis, meint zusätzlich im ethischen Sinne vernünftigen Handelns die reflektierte Vernunft. Das Adjektiv „vernünftig“ ist heute eher das Wort, auf dem das Verständnis begründet ist (im Verhältnis zum Substantiv Vernunft), während vor Kant das Substantiv eindeutig dieses Verständnis gegeben hat: die Vernunft als Methode[60], zur Wirklichkeit zu gelangen. Das Adjektiv erlaubt es im Gegensatz zum Substantiv, Eigenschaften (gut/schlecht) auch in Teilen zuzusprechen und so Tendenzen zu beschreiben, um Kants Imperativ bzw. vernünftiges Handeln einzufordern.

 

Nietzsche ist als Perspektivist entgegen Kant der Überzeugung, dass „das Perspektivische die Grundbedingung alles Lebens“[61] ist. Er schreibt in der Götzen-Dämmerung von 1889 auf Grundlage der Annahme, „daß es gar keine moralischen Tatsachen [gibt]“[62] über die Notwendigkeit der Philosophen, gegenüber gesellschaftlicher Moral neutral gestimmt zu sein: „Alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund auf unmoralisch“[63]. Nietzsches Versuch, die Bedingungen der Aufklärung aufzuklären und ihre Grenzen offenzulegen, ist eine Antwort auf Kants Beitrag zu dem geistigen und sozialen Paradigmenwechsel durch die Aufklärung. Dieses Projekt verbindet Nietzsche mit folgenden Philosophen wie Michel Foucault.

 

Paul Veyne beschreibt Foucault als den Detektiv historischer Bedingungen und Machttechniken: Während Geschichtsschreiber lediglich die Spitze des Eisbergs der Geschichte beschreiben, also wann sich welche Dinge abgespielt haben, erklärt Foucault ihre Immanenz anhand von Relationen und so den gesamten Eisberg, oder, um mit Deleuze und Guattari zu sprechen: das Rhizom der Pflanze mit dem Namen Historie[64]. Sich der Daseinsberechtigung üblicher Methoden und Einstellungen allein aufgrund ihrer faktischen Anwesenheit zu widersetzen, ist, was Nietzsches Kritik der Moral mit Foucaults archäologisch-genealogischem Verfahren verbindet. Was Nietzsche der Moral entsagt, indem er auf bestehende Relationen verweist, entsagt Foucault, so Paul Veyne, dem Wahnsinn: „Der Wahnsinn existiert nicht: es existiert einzig seine Beziehung zur übrigen Welt“[65]. Ebenfalls zutage tritt hier der Paradigmenwechsel, den Kant eingeleitet hat, indem er eine Abhängigkeit zwischen Realität und menschlicher Wahrnehmung erklärt. Nietzsche erklärt menschliche Vernunft in Anlehnung an die evolutionsbiologische Perspektive Darwinsals Überlebensstrategie[66]. Er stellt jede gesellschaftliche Moral in Frage und nennt nicht nur jegliche traditionelle Moral „Sklavenmoral“[67], sondern greift auch Kants aufgeklärten Menschen an. Er erschafft mit seinem Übermenschen ein Menschenideal, das den aufgeklärten Menschen über seine (moralischen) Bedingungen aufklären soll[68]. Dass Nietzsche den Vorwurf einer Analogie zwischen seinem Übermenschen und dem Darwinismus kritisiert[69], erscheint nachvollziehbar, sieht Nietzsche doch einen zentralen Irrtum menschlicher Logik in dem „unreflektierten Hang zur Analogie“[70]. Der Weg über Nietzsche führt uns zu Sigmund Freud, der, wie sich zeigen wird, in Zusammenhang mit Nietzsche gebracht wurde und eine bedeutende Rolle in der Arbeit und der Darstellung der Vernunft in den Romanen spielen wird.

 

In seiner Selbstdarstellung schreibt Freud 1935: „Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaft, Medizin, Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zu Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten“[71]. Sein Bekenntnis erscheint umso eindrucksvoller, bedenkt man, dass Freud heute insbesondere[72] durch seinen Beitrag zur Psychoanalyse bekannt ist. In seinem Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur bezieht er Stellung zum Immoralismus; aufgrund auffälliger Gemeinsamkeiten zu Nietzsche[73] erscheint es nicht verwunderlich, dass Freud nicht zuletzt aufgrund seines persönlichen, philosophischen Geltungsanspruchs 1925 eine Nietzsche-Lektüre verneinte[74]. Eine fraglose Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren ist, wie im Folgenden dargestellt wird, Freuds Nähe zu Nietzsches instinktgesteuertem Verständnis menschlicher Vernunfts- und Erkenntnisbedingungen: Nach Nietzsche ist es bereits 1882 „der Instinkt der Furcht, der uns erkennen heißt“[75].

 

Das Unbehagen in der Kultur von 1930 beschreibt als kulturtheoretischer Text die zwei Triebe Eros (Lebenstrieb) und Todestrieb des Individuums, um das Schicksal der Kulturen wenig optimistisch zu analysieren. Das menschliche Gewissen ist, so Freud, zunächst „Ursache des Triebverzichts, aber später kehrt sich das Verhältnis um. Jeder Triebverzicht wird nun eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigert dessen Strenge und Intoleranz“[76]. Den Kampf zwischen den beiden primären Trieben des Menschen erklärt Freud als Ursprung seines Unbehagens in der Kultur: „Die Schicksalsfrage der Menschheit scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“[77]. Indem er seine Kulturkritik schildert, offenbart sich Freuds Verständnis von Vernunft und Moral. Ursache für (nicht nur soziales) vernünftiges Handeln des Menschen ist das schlechte Gewissen, welches aus der Angst vor der Entdeckung entstanden ist und eine daraus hervorgehende Gewissensinstanz, das Über-Ich: „Der (uns von außen auferlegte) Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert“[78]. Überträgt man diesen Satz von Freud auf Kants kategorischen Imperativ, so erfährt er eine unmittelbare Ernüchterung: Selbstreflektiertes Handeln und damit die Entwicklung eines Gewissensgeschieht alleine aus der Angst vor Strafe, des Liebesverlusts. Letztlich verbleibt als Aufgabe einer umfassenden Definition, die beiden bereits verwendeten Begriffe Moral und Ethik zu unterscheiden.

 

Nach Niklas Luhmann findet Ethik Moral vor und setzt sich mit ihr reflektierend auseinander. Sie darf sich nach ihm „nicht von Moral infizieren lassen, [und muss] diese hingegen beobachten, wodurch Ethik als Gesellschaftstheorie zum Metacode wird“[79]. Eine Abgrenzung der beiden Begriffe eröffnet neue Verständnisräume, denn die Definition von Ethik verweist auf einen bedeutenden im Vorigen beschriebenen Zusammenhang zwischen Nietzsche und Kant: Nietzsche (die Ethik) findet Kant (die Moral) vor und reflektiert diese(n).

 

3 Isolierte Darstellung der Romane

 

Im folgenden Kapitel sollen die beiden Romane einzeln vorgestellt und anschließend bezüglich der Darstellung und Bedeutung der Vernunft untersucht werden. Grundlage ist hierbei auch das handwerkliche Verfahren der Autoren, die Protagonisten und ihre Gedanken vorzustellen:

 

Hitze, den ganzen Körper köstlich durchglühende Hitze. Er lag, nur mit einer klitschnassen weiten Badehose bekleidet, die ihm nicht gehört, auf durchwärmtem feuchten Kachelboden, ausgestreckt wie ein Erschossener mit ausgebreiteten Armen, und blickte zur Decke, blinzelnd, wenn ihm der salzige Schweiß in die Augen rann. Ein Tonnengewölbe erhob sich über ihm; in Jahrhunderten und Jahrzehnten immer wieder neu verputzt, von einer blätternden Farbkruste bedeckt, die sich da und dort löste, da und dort auch heruntergefallen war – die letzte Farbschicht war weiß, darunter gab es ein erdiges Rosa, darunter ein löschpapierfarbenes Hellblau, darunter ein sattes Gelb, nur an einer Stelle hoch über ihm war der Ziegelstein freigelegt, weich vom aufsteigenden Dampf verwischt[80].

 

Mosebach beginnt seinen Roman Mogador, indem der Leser durch den personalen Erzähler aus der Perspektive des Protagonisten die Situation in einem Dampfbad miterlebt. Die Wahrnehmung des Protagonisten wird durch seine Perspektive beschrieben, wir blicken nicht auf, sondern durch ihn auf das Geschehen. Die Distanz zwischen Protagonist und Leser wirkt minimiert. Autoren haben unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, dem Leser Ihre Helden zu präsentieren und eine Verbindung herzustellen, dies hat Auswirkungen auf die Empfindungen und das Verständnis des Lesers mit den und für die Protagonisten. Das Verfahren der Autoren, ihre Protagonisten und ihre Gedanken sprechen zu lassen, soll daher – im Anschluss an die Vorstellung der Romane und der Darstellung der Vernunft in diesen – untersucht und verglichen werden.

 

3.1 Der Gehülfe

 

Der Gehülfe ist 1908 erschienen und der zweite Roman von Robert Walser, der zu Lebzeiten 15 Romane veröffentlich hat. Ein auktorialer Erzähler beschreibt mit wenigen Rückblenden früherer biographischer Ereignisse die etwa sechs Monate des 24-jährigen Protagonisten Joseph Marti beim Ingenieur und Erfinder Carl Tobler als Büroangestellten. Ein Erbe führte Herrn Tobler zu dem Erwerb der Villa zum Abendstern, in der er mit seiner Frau, seinen vier Kindern Dora, Silvi, Edi und Walter und der Magd Pauline lebt. Im Keller der Villa befinden sich die Erfindungen des Ingenieurs, wie die Reklame-Uhr, die Tiefbohrmaschine, der Schützenautomat oder der Krankenstuhl. Joseph ersetzt seinen Vorgänger Wirsich, der wegen mehrmaligen Fehlverhaltens und Trunkenheit entlassen wurde. Er wohnt während der Anstellung in einem Turmzimmer innerhalb der Villa. Die Handlung kreist um die Gegensätze zwischen der Gesellschaft, bestehend aus den Dorfbewohnern von Bärenswil bei Zürich und der aristokratisch auftretenden, wenn auch finanziell ruinierten Familie Tobler. Zwischen diesen Polen versucht Joseph im Laufe des Romans, seinen Platz zu finden. Entgegen der zunehmend dramatischer werdenden finanziellen Situation, sich häufenden Wutausbrüchen von Herrn Tobler gegen seine Frau, die Dorfbewohner und Joseph und ausbleibenden Gehaltszahlungen bleibt Joseph der Familie treu. Seiner Loyalität fühlt er sich im Laufe des Romans in dem Kontrast aus Empfindungen, der Familie Tobler nicht würdig zu sein und sich häufenden Zweifeln über die technischen und wirtschaflichten Qualitäten seines Meisters auf der anderen Seite zunehmend weniger verpflichtet. So stellt Joseph die Qualität eines Lebens bei der Familie Tobler grundsätzlich zunehmend in Frage. Nach mehreren Streitereien mit Herrn Tobler über die Erziehung der vier Kinder, die finanzielle Lage und ausbleibende Lohnzahlungen trifft Joseph seinen Vorgänger Wirsich in der Stadt, der erneut eine Arbeitsstelle aufgrund von Trunkenheit verloren hat. Beide übernachten in der Villa und begegnen nach einem langen Schlaf Herrn Tobler, worauf ein tosender, beinahe gewalttätiger Streit zwischen Herrn Tobler und Joseph entsteht. Diesen nimmt Joseph als Anlass, die Familie und Bärenswil gemeinsam mit Wirsich zu verlassen.

 

Walser verhindert gleich zu Beginn des Romans, dass es zu einem autobiographischen Pakt kommt. Bereits der erste Satz lässt keinen Zweifel daran: Die noch unbestimmte Vorstellung von Joseph als „Ein junger Mann“ wird erst im nächsten Abschnitt konkretisiert: „,Ich bin der neue Angestellte‘, sagte Joseph, denn so hieß er“[81]. Der junge Mann trägt den Namen Joseph, berichtet uns der Erzähler, nicht etwa Robert Walser. Die Kombination aus dem Spiel mit den drei unterschiedlichen Identitäten aus auktorialem Erzähler, dem Autor Robert Walser und der Figur Joseph Marti auf der einen und Walsers Schönschreibstil auf der anderen Seite treiben den experimentellen entfremdenden Effekt (Inhalt und Sprache) aufs Äußerste.

 

Walser weitet die Distanz zwischen Erzähler und Autor durch episches Präteritum, räumliche Trennung[82] und zeitliche Distanz[83] aus. Er scheint bemüht, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Spannung zwischen Erzählvorgang und erzählter Handlung zu legen und dem Streben des auktorialen Erzählers „nach souveräner Unabhängigkeit von seiner dargestellten Welt“[84] dadurch nachkommen zu wollen. Der Autor Robert Walser erzeugt in seiner Tätigkeit als Schriftsteller den Eindruck, nicht teilnehmend zu sein – ganz so, wie auch der auktoriale Erzähler sich um Unabhängigkeit vom Plot bemüht. Walsers bereits angerissene biographische Nähe zur Romanhandlung soll im Folgenden konkretisiert werden.

 

Walser veröffentlichte den Roman Der Gehülfe 1908, fünf Jahre, nachdem er einige Monate als Gehülfe beim Erfinder Carl Dubler angestellt war. Die Stadt Wädenswil am Zürichsee änderte er im Roman zu Bärenswil. Die Frau des Erfinders Carl Dubler, Frieda Dubler, lautet im Roman lediglich Frau Tobler. Der Protagonist Joseph Marti erinnert nicht bloß aufgrund seiner biographischen Nähe an Robert Walser, der Familienname Marti entspricht dem Geburtsnamen Walsers Mutter[85]. Die Schreibweise des Vornamen wechselt im Roman zwischen „Joseph“ und „Josef“[86] und weist so auf die Unzuverlässigkeit der Identität des Protagonisten zwischen Fiktion und biographischer Realität hin. Abgesehen von diesen äußerlichen Maskierungen des Autors beschreiben die Rezensionen, die unmittelbar nach Erscheinen des Romans auftauchten, überwiegend eine Übereinstimmung zwischen Autor und Protagonist, der Roman könne, so die Rezensenten, daher vielmehr als Tagebuch[87] anstatt als Roman bezeichnet werden. Walser wurde angetrieben vom Wunsch nach Entschleunigung des modernen Lebens, dabei verwandelte er in seinen Romanen ironisch-kunstvoll Zeit in Raum; seine Rezensenten attestieren Walsers Werken daher eine „Insel der poetischen Anmut und Ruhe“[88]. Scheint der Plot bei Walser auch vergleichsweise vernachlässigt zugunsten der Entschleunigung welche dem antimodernen Walser und der Kapitalismuskritik im Roman geschuldet ist und, wie in Kapitel 3.1.2 zu sehen sein wird, der Sprache, lassen sich im Roman dennoch Gattungsmerkmale entdecken. Anzeichen wie der seinen Platz in einer neuen Umgebung suchende Heranwachsende und die damit verbundene Darstellung eines individuellen Lebens lassen bereits Walsers zeitgenössische Rezensenten auf Parallelen des Romans zum Bildungsroman schließen. Herrmann Meister erkennt 1919 im Roman einen Lustspielroman, der einen Fatalismus darstellt, der „errungene […] Einsicht vom Wert eines leuchtenden Gleichmuts [ist]“[89]. Einen ethischen Wert („leuchtender Gleichmut“) mit Hilfe eines Romanhelden zu beschreiben, entspricht implizit den gängigen Definitionen des Bildungsromans. Was Herrmann Meister „Einsicht“ nennt, ist in der Konsequenz die Intention des Romans, Fatalismus mit der Eigenschaft als wertvoll zu charakterisieren. Dem Wesen des Bildungsromans, in der Auseinandersetzung mit der Umwelt eine Reifung bzw. Läuterung zu erfahren und einen Platz in der Gesellschaft zu finden, widersetzt sich Walsers Roman jedoch. Es erscheint Joseph unmöglich, sein Leben in seiner Umgebung fortzusetzen und er verlässt seinen Vorgesetzten, ohne sich mit diesem zu versöhnen. Walsers Roman würde vor diesem Hintergrund trotz autobiographischer Elemente in einer Buchhandlung in der Rubrik Antibildungsroman nicht zu Unrecht stehen. Walser Konstrukt verschiedener Gattungen ist mit dem Gehülfen keine Einzelerscheinung. Seine Komposition aus Autobiographie und Antibildungsroman erscheint weniger überraschend, beachtet man, dass Walser ein Jahr nach dem Gehülfen seinen Jakob von Gunten verfasst hat: einen Roman, der ebenfalls als experimentelle Antwort auf den Bildungsroman gilt, „wenn nicht [als] eine Parodie“[90].

 

Indem sich Ludwig Wittgenstein in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegen die damals häufig vertretene Behauptung wendet, dass nur das wirklich ist, was im gegenwärtigen Augenblick erlebt wird, änderte sich die Wahrnehmung von Zeit grundlegend. Wittgenstein unterscheidet wirkliche Zeit in die beiden Formen unmittelbarer Erlebniszeit in Gestalt von Erinnerung, gegenwärtigem Erleben und Erwartung unseres Handelns auf der einen und der Zeit der Physik mit der Zeitordnung und Früher-Später-Relation auf der anderen Seite. Hierzu entwarf er das Gleichnis eines Diaprojektors, der Laterna magica, wobei der Filmstreifen die abrufbare physikalische Zeit und die Leinwand die erlebte Gegenwart darstellt[91]. Walser verwandelt statische Zeit in dynamische, indem er erlebte Zeit auch nach seinem Tod erlebbar macht. Er ermöglicht seiner biographischen Vergangenheit durch den Leser Gegenwart zu werden. Mit Wittgensteins Bildnis gesprochen erhält Vergangenheit die Möglichkeit, auf die Leinwand gebracht werden. Dies jedoch nicht in üblicher Form der Gattung Autobiographie. Walser erlaubt es, die Gattung Antibildungsroman mit seinem – durch die auktoriale Beschreibung eines individuellen Lebensabschnitts – exemplarischen und dadurch identifizierbaren Charakter zu vertreten und gleichzeitig eigenes Erleben zu verschriftlichen.

 

3.1.1 Die Vernunft im Roman

 

Josephs Unterwürfigkeit erinnert an eine Macht, die nach Foucault im Christentum verwurzelt ist. Der bibelkundige Walser erschafft mit Joseph eine Figur, welche die Machttechniken der christlichen Institution aufgreift:

 

Das Christentum ist die einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat. Und als Kirche vertritt es eine Theorie, wonach manche Menschen aufgrund einer religiösen Qualität die Fähigkeit besitzen, anderen zu dienen, und zwar nicht als Fürsten, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher, sondern als Hirten[92].

 

Diese auf das „Seelenheil ausgerichtet[e]“[93] Pastoralmacht hat sich nach Foucault um das 18. Jahrhundert säkularisiert; in der Figur des Joseph scheint diese Machttechnik verinnerlicht und eng mit seiner Tätigkeit als Gehülfe verbunden zu sein, wobei Herr Tobler gewissermaßen seinen Hirten darstellt. Er fühlt sich mehrfach bewogen, in seinem Innersten nach einer Schwäche zu suchen und fürchtet, diese Wahrheit würde durchschaut, wie in folgendem Bewusstseinsbericht:

 

Sie spritzen mit Vorliebe den Garten, nicht wahr? Schämen sie sich! Und haben sie auch schon nur ein einziges Mal an den patentierten Krankenstuhl gedacht? Nicht? Gott im Himmel, ein solcher Angestellter. Sie verdienen, vom ,Leben vernachlässigt‘ zu werden[94].

 

Josephs Versuch, selbstkritisch zur Vernunft zu kommen, lässt bereits erahnen, in welch deutlicher Form sein Wesen von der ihn umgebenden Gesellschaft abweicht. Die Differenz zwischen Identität und gesellschaftlicher Umgebung stellt Joseph wiederholt vor Herausforderungen: „,Welch ein junger, glücklich aussehender Mensch, dieser Herr Arzt‘, dachte Joseph, indem er sich bemühte, so klug und knifflig wie möglich zu spielen“[95]. Der Hinweis „spielen“ weist darauf hin, dass Joseph abseits seines Wesens handelt. Da er Toblers Anerkennung bzw. „sein Seelenheil gefährdet sieht, versucht Joseph eine Fiktion aufrecht zu erhalten, indem er seine Wirkung nach außen reflektiert und seine Umgebung täuscht. Joseph glaubt, von den äußeren Ansprüchen abzuweichen, daher kommt ihm die reine Anwesenheit in der Villa der Familie Tobler falsch und wie „Diebstahl“[96] vor. Selbstentfremdung und Selbsterkenntnis des Protagonisten oszillieren auf diese Weise und erschweren vernünftiges, selbstgesteuertes Handeln.

 

Joseph ist jedoch nicht vollständig charakterisiert als Nutztier, das sich einem Hirten unterordnet. Eine Untersuchung der Vernunft im Roman führt daher zunächst zur Betrachtung von seinem durchaus ambivalenten Wesen. Peter Gronau unterscheidet Robert Walsers widersprüchliche Autonomie- und Unterwerfungsbemühungen in familiären und außerfamiliären Kontexten folgendermaßen:

 

„,Sie‘, die Eltern, […] ,sollen sich daran gewöhnen, keinen Sohn mehr zu haben.“ Offenbar ein sich früh einstellender Wunsch nach uneingeschränkter Unabhängigkeit, die im Paradox der uneingeschränkten Abhängigkeit eines Dieners ihre eigentliche Vollendung finden wird[97].

 

Die Ambivalenz Walsers Charakter besteht nach Gronau in dem Gegensatz durch das Unabhängigkeitsbestreben von den Eltern und dem Abhängigkeitsstreben als Diener. Der Protagonist Joseph Marti kann als Altruist beschrieben werden, dessen Verlangen zu dienen und Streben nach sozialem Abstieg in aristokratischer Unterwerfung in Robert Walsers Biographie verwurzelt ist. So besuchte Walser 1905, zwei Jahre nach Verlassen des Hauses von Carl Dubler, eine Dienerschule in Berlin, worauf eine Anstellung als Diener auf Schloss Dambrau in Oberschlesien folgte[98]. Joseph weist einerseits Walsers Abhängigkeitsstreben auf, besitzt jedoch, wie im Folgenden dargestellt wird, zudem ein hohes Maß an Selbstreflektion und Unabhängigkeit.

 

Empathie und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen sind Voraussetzungen für den kategorischen Imperativ: Es ist nicht möglich, ein allgemeines Gesetz zu entwerfen, ohne die Bedürfnisse der Mitmenschen einzuschätzen. Ungeachtet dessen, dass Josephs Wesen als demütig und somit passiv beschrieben werden kann, ist er besorgt um das Wohl seiner Mitmenschen. Dies zeigt sich in der Interjektion „O“, welche sich im Roman des Öfteren finden lässt. Die Interjektion drückt die Sorge um Andere und Josephs Empathie aus, indem es den offen stehenden und sorgenvollen Mund piktogrammatisch darstellt. Nachdem die Bitte von Wirsichs Mutter an die Familie Tobler, ihren Sohn wiedereinzustellen, abgelehnt wurde und sie die Villa zum Abendstern verlässt, denkt Joseph: „Sie möchte vielleicht jetzt laut um Hülfe schreien. Weiter geht es. O, dieses ewige Gerassel der Räder“[99]. Josephs Mitleid und seine sorgenvollen Gefühle offenbaren sich in der Interjektion. Eine weitere Stelle lässt sich in dem Augenblick finden, in dem Frau Wirsich zu weinen anfängt, da Sie ihrem Sohn nicht helfen kann, eine neue Stelle zu finden: „O Frau Wirsich, deine verweinten Augen trüben ja ganz deine paar angenommen, glänzenden Weltmanieren. […] Sieh, sieh, wie dich eine gewisse andere Dame anschaut“[100]. Hier sind es nicht Josephs Gedanken, die zitiert werden, sondern der Erzähler, dessen Imperativ „Sieh“ Frau Wirsich im Präsens anspricht und den Leser somit entgegen der vorhergehenden und nachfolgenden Erzählung im Präteritum unmittelbar ins Geschehen versetzt. Indem Joseph die jüngste Tochter im Hause Tobler bemitleidet, zeigt sich erneut das O als Piktogramm für seinen sorgenvollen Mund:

 

Gab es damals auch schon ,verschuggte‘ Kinder, Ecepecen Silvi? O ja, aber eben, man nannte sie ,Verstoßene‘, und heute nannte sie da so einer, der zwischen dem herrlichsten Grün im Moose lag, ,Verschuggte‘[101].

 

Da sowohl Erzähler als auch die Figur Joseph die Interjektion aussprechen, verschwimmen beide Instanzen zu einer empathischen und daher vernünftigen Instanz. Die bereits im ersten Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre dargestellte, deutliche Empathie des Protagonisten die Fähigkeiten des Sich-in-Andere-Hineinversetzen wird mit der Interjektion O in Walsers Roman symbolisch aufgegriffen.

 

3.1.2 sprachliche Vorführung des Protagonisten

 

Das Erzählverhalten des Romans ist variabel und dadurch komplex. So lässt uns der Erzähler an einer Vielzahl innerer Monologe Josephs teilhaben und präsentiert uns Bewusstseinsberichte, in denen er Joseph gleichzeitig positiv gestimmt ist und eine Distanz zwischen Leser und Protagonist herstellt[102]. Textstellen dieser Art befinden sich im Roman, sofern Josephs Empfindungen beschrieben werden:

 

Plötzlich dachte er wieder an den ,kuriosen Menschen‘, der er sei. Was er denn eigentlich so kurioses an sich hatte? Einsam in der Nach umherzuspazieren, das war allerdings seltsam genug, dieses Vergnügen durfte man schon als kurios bezeichnen. Aber was weiter? War das alles? Nein, die Hauptsache war die: sein Leben, sein ganzes Leben, das bisher geführte und das vorauszuahnende zukünftige, das, das war kurios […]. Trauernd um Vieles, Vieles ging er nach Hause[103].

 

Als drittes Erzählverhalten lassen sich Erzählerberichte finden, in denen der auktoriale Erzähler Josephs Handeln und Gefühle kommentiert und erläutert[104]. Der Erzähler geht dabei vereinzelt so weit, Josephs Wesen zu bewerten: „Ja, er [Joseph] hatte schon Geist, wenn er nur wollte, aber er machte zu gern Pausen im Denken“[105]. Der Roman besteht aus der Kombination dieser drei Erzählverfahren mit wenigen Ausnahmen in Form von Briefwechseln und Tagebuchteinträgen. Die Erzählperspektive stellt sich so aus einer Kombination aus auktorialem und personalem Erzähler zusammen, die jedoch, wie Jochen Greven erkannt hat, entsprechend Walsers experimentellem Schreiben vermehrt nur schwer voneinander zu unterscheiden sind[106].

 

Für eine verständnisvolle Robert Walser Lektüre ist es notwendig, abseits des Gehülfen einen Blick auf seinen Anspruch von Sprache auf der einen Seite und Inhalt auf der anderen Seite zu legen. In Aschenbrödel lässt Walser den Prinzen sagen:

 

Prinz: Die Sprache muss ein Wiesel sein,

 

sich überschlagend, wenn sie will,

 

daß es an Ausdruck ihr nicht fehlt;

 

doch sieht sie ihre Armut ein[107].

 

Walser beschreibt in dem Gedicht, dass die Sprache die Wirklichkeit des Romans nicht symmetrisch widerspiegelt, indem er Sprache zu dem Bild eines aggressiven Raubtiers personifiziert. Das gierige und unersättliche Eigenleben der Sprache in Walsers experimentellem Schreiben verdeutlicht zwei Besonderheiten des Gehülfen, die sich bereits im oben zitierten Aschenbrödel-Ausschnitt niederschlagen: [1] im Wiesel und [2] der Formulierung „wenn sie will“.

 

Der erste Punkt [1] zielt auf Walsers unerschöpflichen Konjunktiv-Satzkonstruktionen, welche aufgrund ihrer (vermeintlich) ungezwungenen Aussagen nicht zu versprechen vorgeben, Signifikate sprachlich konkret darzustellen. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers kündigt sich bereits im ersten Satz des Romans an, indem das Haus von Herrn Tobler ein „anscheinend schmucke[s]“[108] Haus ist und wird im weiteren Verlauf an die Grenze sprachlicher Möglichkeiten getrieben:

 

So wie der Bach murmelte, glaubte man sich schon in lange, kühle Träumereien verstrickt […]. Die selber erdachten, einem fernen und nahen Bekanntenkreis entnommenen Personen flüsterten leise, sie sagten etwas oder machten bloß Mienen, während die Augen eine tiefe innerliche Sprache für sich redeten“[109].

 

Die imaginierte Traumwelt[110] wird mit Hilfe der Gegensätze fern - nah und der Vermutung der sprechenden, oder nur Mienen machenden Personen ins Ungewisseste geführt. Ob der Erzähler unzuverlässig bzw. vergesslich ist, oder ob die Darstellung Josephs mehrdeutige Empfindungen wiederspiegelt, sind zwei denkbare Deutungsmöglichkeiten, wobei sicherlich auch beide Möglichkeiten zutreffen können.

 

Walsers experimentelles Sprachspiel drückt sich nachdrücklich aus in der Kombination gegensätzlicher Begriffe wie dem „fernen und nahen Bekanntenkreis“[111], den „ernst und lustig“ werdenden Empfindungen[112] oder der „unsichtbar-sichtbaren“[113] Reklame-Uhr und wird punktuell in Form einer Enumeratio gesteigert:

 

Es war alles so mild, so bedeckt, so leicht und hübsch, es war ebenso groß wie klein geworden, ebenso nah wie fern, ebenso weit wie fein und ebenso zart wie bedeutend. Es schien bald alles, was Joseph sah, ein natürlicher, stiller, gütiger Traum geworden zu sein, nicht ein gar so schöner, nein, ein bescheidener, und doch ein so schöner […][114].

 

Der Erzähler verweist mit Hilfe der aufgezählten Gegensätze und der Konjunktivkonstruktion auf den Zusammenhang zwischen dem Verhältnis Traum-Realität und Fiktion-Autobiographie. Das Wiesel verhält sich analog zur Autofiktion: Dem Hin- und Herpendeln von Fiktion und Wirklichkeit. Er lässt den Leser so mit der Wahrheit in der einen Hand und der Fiktion in der anderen alleine. Durch sein Oxymeron-Gebilde scheint weder das eine, noch das andere zuzutreffen, sondern von beidem etwas oder nichts. Und ob der Erzähler Gewissheit über die Empfindungen Josephs Gehülfenzeit hat, erscheint in der nebulösen Sprache zweifelhaft:

 

Walser umspielt mit tanzenden Worten sein von ihm selbst mit Erstaunen betrachtetes, beobachtetes Ich-Wesen und die Spiegelbilder der Weltwirklichkeit, deren illusionärer Charakter er ironisch ambivalent zugleich leugnet und bestätigt[115].

 

 Sein experimentelles Schreiben reflektiert Walser um 1929:

 

Wenn ich gelegentlich spontan drauflos schriftstellerte, so sah das vielleicht für Erzernsthafte ein wenig komisch aus; doch ich experimentierte auf sprachlichem Gebiet in der Hoffnung, der Sprache sei irgendwelche unbekannte Lebendigkeit vorhanden, die es eine Freude sei zu wecken. Indem ich mich zu erweitern wünschte und diesem Wunsch das Dasein gönnte, mißbilligte man mich möglicherweise da und dort[116].

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Die Ästhetik der Vernunft im (Anti-) Bildungsroman. Eine Analyse der Romane "Der Gehülfe" von Robert Walser und "Der Trafikant "von Robert Seethaler im Vergleich
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Germanistik)
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
59
Katalognummer
V381039
ISBN (eBook)
9783668621602
ISBN (Buch)
9783668621619
Dateigröße
1034 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Der Trafikant, Robert Walser, Robert Seethaler, Der Gehülfe, Bildungsroman, Antibildungsroman, Vernunft, Ästhetik, Freud, Wittgenstein, Nietzsche, Sprache, Literatur
Arbeit zitieren
Jonathan Hirtz (Autor:in), 2017, Die Ästhetik der Vernunft im (Anti-) Bildungsroman. Eine Analyse der Romane "Der Gehülfe" von Robert Walser und "Der Trafikant "von Robert Seethaler im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/381039

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