Geschlechterrollen in der Kinder- und Jugendliteratur. "Pippi Langstrumpf" von Astrid Lindgren und die literarische Darstellung von Weiblichkeit im Kindesalter


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

19 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Astrid Lindgren

3. Zeitgeschichtliche Einordnung

4. Charakterisierungen
4.1. Pippi Langstrumpf
4.2. Annika
4.3. Vergleich der repräsentierten Frauenbilder

5. Problematik in „Pippi Langstrumpf“

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wer erinnert sich nicht, wenn auch vage und verblasst, an die berühmte und preisgekrönte Kindheitslektüre Astrid Lindgrens? Ihre Werke sind in über 70 Sprachen übersetzt, erfolgreich verfilmt, vertont und inszeniert, sowie mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Was meistens in Erinnerung geblieben ist, ist das starke, eigensinnige Mädchen, das sich in der Erwachsenenwelt zu behaupten weiß und diese Welt voller Normen und Regeln auf den Kopf stellt. Die Rede ist von Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza Efraimstochter Langstrumpf, dem stärksten Mädchen der Welt.

Doch was macht diese extraordinäre Kinderfigur von Astrid Lindgren neben ihren physischen Kräften so besonders, wenn man bedenkt, dass ihre Mutter gestorben ist, ihr Vater selten Zuhause ist und sie sich elementar von anderen Kindern ihres Alters unterscheidet? Das Mädchen ist die Protagonistin der Trilogie „Pippi Langstrumpf“, „Pippi Langstrumpf geht an Bord“ und „Pippi in Taka-Tuka-Land“, die trotz riskanter Abenteuer widerstandsfähige Eigenschaften aufweist und so den entwicklungsgefährdenden Lebenslagen trotzt.

In der vorliegenden Arbeit sollen die Erinnerungen an die Kindheitslektüre aufgefrischt und in mehrerer Hinsicht erweitert und reflektiert werden. Anhand von Textbeispielen wird die Problematik der Lektüre beleuchtet. Es wird aber auch aufgezeigt, wie sich Astrid Lindgren nicht nur als Autorin, sondern auch als Person des öffentlichen Lebens engagiert hat und wie die Standpunkte, die in ihrem eigenen Leben eine Rolle gespielt haben, in ihren Büchern konsequent vertreten werden. Ein Fokus liegt auf der literarischen Darstellung von Weiblichkeit und Kindern, deren Verhaltensweisen und deren Umgang mit anderen untersucht werden, die nicht dem stereotypen Frauenbild entsprechen. „Solche Verhaltensweisen können beispielsweise die Fähigkeit beinhalten Konflikte auszuhalten und auszutragen, anstatt sich anzupassen, sie können aber auch Durchsetzungsvermögen, Eigeninitiative oder das Verfolgen eigener Interessen und Bedürfnisse bedeuten“ (Cromme/Lange 2001, 211).

Zu Beginn befinden sich ein Lebenslauf Lindgrens und die zeitgeschichtliche Einordnung der Bücher, die einen Überblick über die Entstehungsgeschichte und Hintergründe der Pippi-Trilogie geben sollen. Um die Charakterisierung und Gegenüberstellung von Pippi und Annika zu veranschaulichen, wird Bezug zu den Büchern genommen. Nach einer Darstellung der wichtigsten Eigenschaften von Pippi und Annika, folgt ein Vergleich der von ihnen repräsentierten Frauenbilder, um dann auf die Problematik der Trilogie einzugehen. Das Fazit fasst kritisch die wichtigsten Aspekte zusammen und beinhaltet einen Ausblick bezüglich der Thematik der Geschlechterrollen.

2. Astrid Lindgren

Astrid Anna Emilia Lindgren, geborene Ericsson, wurde am 14.11.1907 als zweites Kind des Landwirtes Samuel August Ericsson und seiner Frau Hanna Ericsson, geborene Jansson in einer kleinen Stadt namens Vimmerby in Småland geboren. Nach ihr und ihrem älteren Bruder Gunnar wurden noch zwei weitere Kinder geboren, Stina und Ingegerd (vgl. Surmatz/Berf 2002, 15/23). Die Eltern bewirtschafteten einen Pfarrbauernhof, Näs genannt, mit einigen Angestellten, wodurch sie eine gesellschaftliche Zwischenposition einnahmen. Einerseits mussten sie sparen und hart arbeiten, andererseits sorgte das Pachtverhältnis für einen gesellschaftlichen Aufstieg (vgl. ebd. 24). „Respekt für [einen] sozialen Aufstieg verdiente nur, wer ihn sich durch ehrliche und harte Arbeit erarbeitet hatte“ (ebd. 27).

Astrid Lindgrens Kindheit war geprägt von unbeaufsichtigtem und gefahrlosem Spielen, aber auch von der ländlichen Arbeitsmoral. Außerdem wurde das mündliche Erzählen fortwährend von dem Buchdruck ersetzt und die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt (vgl. ebd. 24f.). Schon Lindgrens Eltern wären gerne, wenn es die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse erlaubt hätten, zu einer höheren Schule gegangen, um ihre Begabung des Erzählens zu erweitern, was sie nun ihren vier Kindern ermöglichten (vgl. ebd. 26). Zu der damaligen Zeit richtete man sich ungefragt nach den Werten und Normen der Kirche und sowohl die soziale Ordnung, als auch die gesellschaftliche Kontrolle waren allgegenwärtig (vgl. ebd. 27).

Früh fiel Lindgren durch ihre Protesthaltung auf, da sie sich beispielsweise nicht an die Begrenzung der damaligen Geschlechterrolle halten wollte, was später auch in „Pippi Langstrumpf“, durch grenzüberschreitende Kleidung und Verkleidung, thematisiert wird (ebd. 30). Auch ihren unverheirateten Status um 1929 verheimlichte sie nicht, entgegengesetzt der Namenskonventionen (vgl. ebd. 33). Durch internationale Einflüsse, die Urbanisierung und Säkularisierung wurden die moralischen Vorstellungen in den zwanziger Jahren gelockert, welche Lindgren dazu veranlassten an den Einstellungen der eigenen Eltern zu zweifeln und sich von ihnen abzuwenden. Dadurch, dass Berufe, die Männern vorbehalten waren, zu der Zeit auch Frauen offen standen, wurde Lindgren als Volontärin bei einer Lokalzeitung angenommen und konnte erste Schreiberfahrungen sammeln (vgl. ebd. 30). Während ihrer Schulzeit hatte sie sich jedoch vehement gegen die Rolle einer Schriftstellerin gewehrt.

Nach einer Affäre mit 17 Jahren wurde Lindgren unverheiratet schwanger, was nicht den Normen der damaligen Zeit entsprach. Deshalb sah sie sich gezwungen, das Kind in Dänemark zur Welt zu bringen. Ihr Sohn Lars wurde 1926 geboren und wuchs die ersten drei Lebensjahre bei einer Pflegefamilie in Kopenhagen auf (vgl. ebd. 31). Lindgren arbeitete weiterhin in Stockholm als Sekretärin und sah ihren Sohn nur selten, deshalb konnte sie die Mutterrolle nicht einnehmen. 1928 lernte sie Sture Lindgren, einen späteren Direktor eines Automobilclubs kennen, den sie im Jahre 1931 heiratete. Drei Jahre später, 1934, wurde ihre Tochter Karin geboren, der sie sich als Hausfrau und Mutter widmen konnte (vgl. ebd. 34).

1941 lag Lindgrens damals siebenjährige Tochter Karin mit einer Lungenentzündung im Bett und bat darum, dass sie ihr eine Gute Nacht Geschichte von Pippi Langstrumpf erzählt. Karin hatte sich diesen ungewöhnlichen Namen ausgedacht und daraus resultierte dann dieses eigenartige, willensstarke Kind (vgl. ebd. 16). Im März 1944 verstauchte sich Lindgren den Fuß, da sie auf Schnee ausgerutscht war und begann während ihrer Bettruhe die Pippi-Geschichten im Stenogramm festzuhalten. An Karins 10. Geburtstag, im Mai 1944, waren die Geschichten ins Reine geschrieben und sie erhielt das Manuskript der Erzählungen als Geschenk ihrer Mutter. Trotz einiger Zweifel an der Geschichte reichte Lindgren das Manuskript, „Ur-Pippi“ von Ulla Lundqvist genannt, auch in dem Albert Bonniers Verlag ein, welcher es, wie befürchtet, ablehnte. 1945 erscheint das stark überarbeitete Pippi-Manuskript bei dem Verlag Rabén & Sjörgen (vgl. ebd. 38). 1950 folgte „Pippi Langstrumpf geht an Bord“ und 1951 „Pippi in Taka-Tuka-Land“. „Mit dem Schreiben von Kindergeschichten schuf sie sich einen literarischen Zugang zur Welt der Kindheit, die sie selbst so abrupt verlassen hatte und die sie erst später mit ihrem Sohn und mit ihrer Tochter teilen konnte“ (ebd. 32).

Schon in Lindgrens Kritik an den damaligen Erziehungsmethoden und Verhaltensnormen für Kinder wies sie ein ausgeprägtes rhetorisches Geschick auf, das später, in Pippi Langstrumpfs Argumenten gegen traditionelles Schulwissen und blinden Gehorsam, wiedererkannt werden kann (vgl. ebd. 36). Ihr antiautoritäres Engagement nahm weite Züge an, da sie immer „den Zusammenhang zwischen privater und öffentlicher Autorität […] und Unterdrückung [sah] und deshalb die enorme staatliche und internationale Bedeutung der [freien] Kindererziehung betonte“ (ebd. 36). Astrid Lindgren ist eine Nationaldichterin Schwedens, die entscheidend zum kulturellen Selbstverständnis des Landes beigetragen hat. Sie griff auf mündliche Erzähltraditionen zurück, während sie gleichzeitig eine kritische Beobachterin der gegenwärtigen Gesellschaft war (vgl. Franz 1995-2017, 15). „Lindgrens für die schwedische Literatur so prägende Verfasserschaft wird von einer tiefen humanistischen Grundüberzeugung und dem unbedingten Engagement für die „Majestät des Kindes“ getragen“ (ebd. 15).

Am 28. Januar 2002 starb Astrid Lindgren im Alter von 94 Jahren in Stockholm. „Geistreich und zielbewusst sowie mit abgründigem Humor hat sich Astrid Lindgren die Lebenseinstellung erhalten, die sie [später] mit Pippi Langstrumpf verbindet. Sie ist immer eine Grande Dame mit Hut und zugleich eine Piratin mit einem Augenzwinkern“ gewesen (Surmatz/Berf 2002, 49).

3. Zeitgeschichtliche Einordnung

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges wird die schwedische Kinder- und Jugendliteratur in kürzester Zeit bekannt. Die Verlage förderten Preisausschreiben, heimische Produktionen und Bibliotheken und der Buchmarkt expandierten. Pippi Langstrumpf entstand während der Kriegszeit und wurde unmittelbar nach dem Krieg veröffentlicht. 1945 debütierte Lindgren mit zwei weiteren Autoren, die für die Entwicklung der modernen schwedischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung sind, weshalb dieses historische Jahr auch als „das zweite Goldene Zeitalter“ oder als „der moderne Durchbruch“ gilt (Blume/Kümmerling-Meibauer/Nix, 17). Inspiriert wurden die drei Autoren von den Autoritäten der Jahrhundertwende, an deren kinderliterarischem Selbstverständnis sie auf der einen Seite anschließen, sich auf der anderen Seite jedoch von absetzen wollten (vgl. ebd. 22). Die Nachkriegszeit war von restaurativen Zügen geprägt, weshalb sie sich auf Themen wie Sicherheit, Wohlstand und Ruhe fokussierte. Die Verankerung von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau im Jahre 1949 im Grundgesetz wurde erst 1958 im Bürgerlichen Gesetzbuch umgesetzt. Erwachsene standen in der Hierarchie weiterhin höher als die Kinder und behielten das Recht auf Ausführungen von Bestrafungen (vgl. ebd. 22f.). Grundlegender Inhalt der Literatur war vor allen Dingen die Bestimmung der Frau als untergeordnetes Geschlecht, dessen Leben auf die Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet war. Die Familie hingegen wurde wieder als elementarer Bestandteil und Zufluchtsort dargestellt. Themen wie Sexualität, Alkohol und Schmutz waren generell tabuisiert (vgl. Franz 1995-2017, Teil 5, 7f.).

Mit der englischen Kinder- und Jugendliteratur wurden neue pädagogische Ideale der antiautoritären Erziehung übernommen, die noch vor dem Krieg um 1900 in Schweden diskutiert wurden und sich im modernen Durchbruch 1945 durchsetzten (vgl. Blume/Kümmerling-Meibauer/Nix, 24). Astrid Lindgrens Werk ist eines der wenigen, das sich von dem „Gros der Mädchenliteratur“ abhebt (Franz 1995-2017, 8). Sie bricht mit allen Normen und Konventionen des traditionellen Kinderbuchs auf inhaltlicher, formaler und sprachlicher Ebene, indem sie die kindliche Perspektive und Logik in den Fokus stellt (vgl. ebd. 14). Der „herrschende Tenor des Sich-Bescheidens, der hohe Grad an Anpassungsfähigkeit, die Aufforderung zu Konformität und die Suche nach Innerlichkeit, nach Familie und Anlehnung an Autoritäten“ wird sowohl durch den Erzählvorgang, als auch durch abweichende Inhalte verändert (Cromme 2005, 61). In diesen seltenen Werken werden Mädchen unabhängiger, die Verbote werden gelockert und es sind Ansätze des Arbeitslebens und der zeitgenössischen Realität zu erkennen, was sie als revolutionär und modern erscheinen lassen. Bei Lindgren „zeichnen sich die Protagonistinnen durch Selbstbewusstsein und weibliche Solidarität sowie einen humoristischen oder ironischen, lebendigen Erzählton aus“ (Franz 1995-2017, 8).

Pippi, die mit fantastischen Fähigkeiten ausgestattet ist und sich „durch Stärke, Autonomie, Sprachwitz und eine unkonventionelle Sprache auszeichnet und gegenüber Institutionen und Normen der Erwachsenenwelt eine antiautoritäre Haltung einnimmt“ (ebd. 10), überschritt die Eigenschaften und Verhaltensweisen, die dem weiblichen Geschlechtscharakter zugeschrieben sind. Ein bekanntes Zitat von Astrid Lindgren, welches auf die eindeutige Geschlechterkonzeption in dem Buch hinweist, lautet: „Ich habe mich immer darüber geärgert, wie man Frauen behandelt. Oft hatte man das Gefühl, es gäbe nur ein Geschlecht, die Männer.“ (Bialek/ Weyershausen 2004, 508). Astrid Lindgrens Ärger über den Umgang mit Frauen verdeutlicht ihre emanzipierte, unkonventionelle Haltung. Die Begeisterung der Freundinnen ihrer Tochter für die starke Pippi bestärkt sie in der Annahme, dass sich Mädchen weibliche Heldinnen wünschen.

In dem Lebenslauf, der eigens von Astrid Lindgren verfasst wurde, merkt sie an, dass sie sich nichts während des Verfassens des Buches gedacht habe. Sie schreibe, um das Kind in sich selbst zu erhalten und hoffe, dass auch andere Kinder daran ein wenig Spaß hätten (vgl. Surmatz/Berf 2002, 18). Dieses Zitat bestärkt zum einen die fantasievolle, kindliche und humorvolle Seite der Bücher, welche Lindgren durch den Wunsch nach Freiheit und Abenteuer selbst verspürt. Andererseits vermeidet sie die „Instrumentalisierung von Literatur, der Pragmatisierung zu Zwecken, die außerhalb ihrer selbst liegen und im Einbringen der eigenen Meinung ist sie äußerst vorsichtig. Predigen will sie keinesfalls“ (Cromme/Lange 2001, 20). „Astrid Lindgren ist in ihrer literarischen Darstellung der weiblichen Rolle bei aller historischer Einbindung in wesentlichen Zügen ihrer Zeit voraus, überraschend vielschichtig, differenziert und zeitlos bedeutsam“ (ebd. 7; 20).

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Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Geschlechterrollen in der Kinder- und Jugendliteratur. "Pippi Langstrumpf" von Astrid Lindgren und die literarische Darstellung von Weiblichkeit im Kindesalter
Hochschule
Universität Paderborn
Note
1,7
Jahr
2017
Seiten
19
Katalognummer
V380627
ISBN (eBook)
9783668582682
ISBN (Buch)
9783668582699
Dateigröße
465 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschlechterrollen, kinder-, jugendliteratur, pippi, langstrumpf, astrid, lindgren, darstellung, weiblichkeit, kindesalter
Arbeit zitieren
Anonym, 2017, Geschlechterrollen in der Kinder- und Jugendliteratur. "Pippi Langstrumpf" von Astrid Lindgren und die literarische Darstellung von Weiblichkeit im Kindesalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/380627

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