Die Autobiografie als rhetorisch-strategisches Konstrukt zwischen Sein und Schein. "Doppelleben" von Gottfried Benn


Hausarbeit, 2016

13 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Hinführung zum Thema

2. Autobiografie „Doppelleben: Zwei Selbstdarstellungen“
2.1. Gottfried Benn
2.2. „Doppelleben“

3. Autobiografie als Konstrukt
3.1.Ulrike Draesner „Der biographische Nenner“
3.2. Kunst der Auslassung

4. Fazit

1. Hinführung zum Thema

„Man wird in der Kunst immer fragen nach Substanz, nach Werken - nicht nach billigen Theorien oder Redensarten… nach dem Gehirn, das die Zeit durch seine Existenz zeugend legitimierte, das nicht überall mitlief, den Rummel mitmachte […]“[1]

Als nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im schwer eingrenzbaren Bereich der Autobiografie, soll die Vergangenheit zusammenfassende Schreibsituation des Autobiografen, welcher sich in dieser sprachlich handelnd ins Verhältnis zu seiner Umwelt setzt, in Bezug auf die Wirklichkeitsdarstellung untersucht werden.[2] Hierzu wird der 1949 erschiene, zweite Teil „Doppelleben“ der Gesamtautobiografie „Doppelleben: Zwei Selbstdarstellungen“ des deutschen Lyrikers Gottfried Benn, dessen Leben im nachfolgenden Punkt bibliografisch vorgestellt werden soll, herangezogen. Inwieweit dieser, dem Versuch nachgehend, „aus de[m] ‚Schatten der Vergangenheit‘ herauszutreten, […] damaliges Verhalten plausibel zu machen und mit elitäre[r] Geisteshaltung zu rechtfertigen“[3], als „künstlerisch inspirierte Selbstreflexion und rhetorisch raffinierte Selbstrechtfertigung“[4] anzusehen ist, wird des Weiteren unter analytischer Bezugnahme „De[s] biographische[n] Nenners“ der 1962 in München geborenen Essayistin Ulrike Draesner behandelt. Nachdem anschließend ausführlicher aus die von Gottfried Benn betriebene Kunst der Auslassung eingegangen wird, soll im letzten Punkt, dem Fazit, ein zusammenfassender Exkurs in Philippe Lejeunes „Der autobiographische Pakt“ und sein Verständnis der Autobiografizität gegeben werden, bevor mit dem Aufgriff des oben stehenden Zitats Benns geschlossen wird.

2. Autobiografie „Doppelleben: Zwei Selbstdarstellungen“

2.1. Gottfried Benn

Der deutsche Lyriker Gottfried Benn wurde als Sohn der Schweizerin Caroline Jequier und des protestantischen Pfarrers Gustav Benn am 02. Mai 1886 in Mansfeld, im Kreis Westprignitz in Brandenburg, geboren. Bereits ein halbes Jahr später zog die Familie nach Sellin in die Neumark, wo sich die Jugend des heranwachsenden Jungen abspielen wird. Dieser wuchs hier in gespaltener Sozialisation zwischen der Unterschicht, mit den Arbeiterjungen, und der Oberschicht, mit den Söhnen ostelbischen Adels, auf. In den Jahren 1896 bis 1902 besuchte der junge Gottfried Benn das Gymnasium in Frankfurt an der Oder und studierte anschließend, auf Wunsch des Vaters hin zwei Jahre Theologie und Pathologie an der Universität in Marburg und Berlin. Im Zuge der Zusage der Kaiser-Wilhelm-Akademie für militärärztliches Bildungswesen in Berlin, widmete er sich in den darauffolgenden Jahren bis 1911 dem Studium der Medizin, welches den Grundstein für sein nachfolgendes Leben darstellt: „Rückblickend scheint mir meine Existenz ohne diese Wendung zu Medizin und Biologie völlig undenkbar.“[5] Nachdem Benn im Februar 1912 mit einer Dissertation über ‚die Häufigkeit des Diabetes mellitus[6] im Heer‘ promovierte, ging er zunächst der Arbeit des aktiven Militärarztes nach, welche er aus gesundheitlichen Gründen jedoch nach kurzer Zeit niederlegen musste. Daraufhin war er die folgenden zwei Jahre als Assistenzarzt am pathologisch-anatomischen Institut des Krankenhauses Charlottenburg-Westend tätig. Während dieser Zeit entstanden die ersten bahnbrechenden, avantgardistischen Gedichte, zusammengefasst in den Sammlungen „Morgue und andere Gedichte“ (1912), welches das zeitgenössische Lyrikverständnis durch Provokation der Themen über die Belanglosigkeit der menschlichen Existenz brach, und „Söhne. Neue Gedichte“ (1913), welches der damaligen Liebesbeziehung zu Else Lasker-Schüler[7] gewidmet war. Zeitgleich verfasste Benn das zu Lebzeiten nicht veröffentlichte Gedicht „Mutter“, in welchem der frühe Tod der Mutter an Brustkrebs im Jahr 1912 Verarbeitung findet. In den Monaten Mai und Juni des Jahres 1914 fuhr Benn als Schiffsarzt mit einem Postdampfer nach New York, auf dem er die „elegante Dame von Welt […], aus einer Dresdner Patrizierfamilie“[8] stammende Edith Osterloh kennenlernte, welche er im Juli des selben Jahres heiratete. Im darauf folgenden Jahr kam die gemeinsame und einzige leibliche Tochter des Lyrikers, namens Nele, auf die Welt. Nach der Zeit als Sanitätsarzt im Kriegsdienst in Brüssel, eröffnete er als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten im Herbst 1917 seine eigene Praxis in Berlin, welche er bis 1935 führt. Im November 1922 stirbt seine Frau Edith in Jena. Mit den Worten „Ich schreibe nicht mehr, gar nichts. Seit Monaten nichts.“[9] beschreibt Benn den Rückgang seiner dichterischen Produktion in den 1920er Jahren. Parallel dazu empfand er den Wunsch nach einer beruflich sicheren Stellung mit festem Einkommen, welches ihm ermöglicht, über einen längeren Zeitraum Urlaub zu machen, ohne dabei in finanzielle oder existenzielle Sorgen zu geraten. Im Jahr 1928 wird Gottfried Benn, der sich zunehmend der Essayistik zuwendet, Mitglied des 1921 in England gegründeten P.E.N.-Clubs (Poets, Essayists, Novelists), welcher sich entsprechend seiner Charta für den Schutz und die Freiheit von literarischer Kultur einsetzt[10].

Ein Jahr später überkam ihn der Selbstmord der befreundeten Schauspielerin Lili Breda: „Wenn ich dies alles überwinde, wird irgendein neuer Mensch aus mir, ich fühle es, ich weiß noch nicht in welcher Art. Aber wohl ein kalter, armer Mensch mit einer Vakuumschicht um sich herum, es war so viel, was ich in den letzten Jahren erlebte und auch litt.“[11] Als Benn 1932 zu den 25 bedeutendsten Schriftstellern dichterischer Richtung in die preußische Akademie der Künste aufgenommen wird, wurde ihm „die größte [Ehre], die einem Schriftsteller innerhalb des deutschsprachigen Raumes zuteil werden kann“[12], erwiesen. In diesem Zusammenhang begann auch der bis 1956 anhaltende Briefwechsel mit dem Bremer Großkaufmann Friedrich Wilhelm von Oelze, in welchem die bedeutendsten Briefe Benns enthalten sind, aufgrund der Offenheit über private Lebensumstände und unterdrückende politische Verhältnisse, sowie die umfangreiche Menge an produktiven literarischen Gesprächen.[13]

In der Rundfunkrede „Der neue Staat und die Intellektuellen“ im Jahr 1933 wird Benns ernsthafter Glaube an die geistige Erneuerung des Volkes durch den Nationalsozialismus deutlich, welcher erst schrittweise von den grausam inhumanen Methoden des neuen Regimes gebrochen wird. Klaus Mann, welcher sich als Benn bewundernder, kämpferischer Literat im Exil gegen den Nationalsozialismus stellte, versucht diesen von dem Austreten aus der Akademie zu überzeugen, um ebenfalls gegen die Nazis vorzugehen. Im Winter des selben Jahres wird Benn von der Liste der attestberechtigten Ärzte durch den NS-Ärztebund ausgeschlossen. Nach dieser Konfrontation mit dem öffentlichen Faschismus wird Benns distanziert missbilligende Haltung gegenüber dem neuen Regime in den Briefen an Oelze deutlich: „Möglich, dass ich hier alles hinter mir lasse: Wohnung, Praxis, Berlin, und in die Reichswehr zurückkehre, man hat mir da eine ganz günstige Offerte gemacht. Dann […] müßte alle Verbindungen lösen, die ich hier habe, vor allem Akademie etc. - und gerade das ist es, was ich möchte. Raus, aus allem! […]“[14]. Daraufhin schließt Benn 1935 seine Praxis um sich als Militärarzt bei der Heeressanitätsinspektion in Hannover zu reaktivieren. In den darauffolgenden Jahren ist der geistige und moralische Bankrott der westlichen Welt sowohl im Rückgang Benns literarischer Produktion spürbar, als auch an seinen zunehmenden Gesundheitsbeschwerden. Unmittelbar nach seinem Geburtstag trifft ihn ein anonymer, beleidi-gender Angriff der SS-Wochenzeitung „Schwarze Korps“, welcher sich über frühere Gedichte auslässt. Im Jahr 1937 wird Benns Abwegen nach einem Ausweg aus der momentanen politischen und kulturellen Lage, welcher einen Durchbruch innerhalb seiner dichterischen Zukunft ermöglichen könnte, zunehmend lauter und doch „frage ich mich, ob nicht die Vorstellung des Sich-Vollendens u. des sich Ganz-Aussprechen-Wollens oder -Könnens falsche Vorstellungen sind. Das Vollendete gibt es nicht.“[15]

Nach einem weiteren Angriff der SS durch ihr Buch „Säuberung des Kunsttempels“, zieht Benn schließlich nach Berlin um dort als Sanitätsoffizier einen neuen Bereich zu übernehmen. Im Januar des Folgejahres fand die Vermählung mit der Sekretärin Herta von Wedemeyer statt, einer Bekanntschaft aus Hannover. Kurz darauf erhielt Benn den Ausschluss aus der Reichsschrifttumkammer und ein Schreibverbot. Das von Reichsmarschall Göring eingeleitete Ehrengerichtsverfahren zur gezielten Ausstoßung Benns aus dem Offizierskorps erwies sich jedoch als Irrtum. Die 1939/40 zunehmende Depression sowie einsetzende Desillusionierung beschreibt Benn in einem Brief an Oelze mit den Worten: „Ich möchte einmal wieder ganz allein sein, auch ohne Wohnung. Ich kann diese sturen Gestalten ringsherum gar nicht mehr verächtlich finden etwa, sie gehen alle ihren armseligen engen Weg mit Weib und Kindern u. starken Dekorationszwängen und Kriegsverdienstkreuzbestrebungen - nichts gegen sie, es muss so sein, bloss vor der Berührung mit ihnen hüte ich mich.”[16] 1943 wird Benn nach Landsberg an der Warthe versetzt, wo ihn ein Leben in der Kaserne erwartet.

Die anschließenden Jahre sind von Kriegstreiben, von mangelnder Versorgung der lebensnotwendigen Gegenstände, von der Enteignung des Eigentums durch Bomben, wie von dem Gefühl der Unsicherheit des eigenen, körperlichen Wohlergehens bestimmt. An dem Tag des Selbstmordes Hitlers 1945 besetzen die Russen Berlin, woraufhin sich Benns Frau Herta durch eine Morphium-Injektion das Leben nimmt.

[...]


[1] Hillebrand, Bruno (Hrsg.): Gottfried Benn: Prosa und Autobiografie (in der Fassung der Erstdrucke), Limitierte Sonderausgabe, Frankfurt am Main: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 2006, Seite 629, Abschnitt 2, Gespräch mit Nico Rost (1930)

[2] Weimar, Klaus (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaften (Auszug), Band I: A-G, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1997, Seite 169

[3],[4] Von Bilavsky, Jörg: literaturkritik.de: rezensionsforum, in: Literarischer Freispruch, URL: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9628, Stand: Juli 2006 (eingesehen am 17. August 2016)

[5] Benn, Gottfried: Doppelleben: Zwei Selbstdarstellungen, mit einem Vorwort von Ulrike Draesner, Lebensweg eines Intellektualisten, Leipzig: Klett-Cotta, 2011, Seite 45 , Zeile 17f.

[6] Diabetes mellitus: chronische Stoffwechselerkrankung, bei der es durch unzureichende Produktion des Hormons Insulin oder bei mangelnder Insulinwirksamkeit in der Bauchspeicheldrüse zu einer Störung des Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißstoffwechsels kommt (Brockhaus Enzyklopädie: Band 5 COT-DR, 19. Auflage, Mannheim: F. A. Brockhaus, 1988, Seite 439)

[7] Else Lasker-Schüler: *11. Februar 1896, Elberfeld †22. Januar 1945, Jerusalem; deutsch-jüdische Dichterin, sowie Vorläuferin, Repräsentantin und Überwinderin des literarischen Expressionismus; Lyrik zeugt von sublimer Sensibilität und Intensität des Gefühls; 1932: Kleist-Preis (Brockhaus Enzyklopädie: Band 13 LAH-MAF, 19. Auflage, Mannheim: F. A. Brockhaus, 1990, Seite 105)

[8] Steinhagen, Harald; Schröder, Jürgen (Hrsg.): Gottfried Benn - Briefe an F. W. Oelze: 1932-1945, Erster Band, Dritte Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta, 1999, Seite 195, Zeile 4ff.

[9] Hillebrand, Bruno (Hrsg.): Gottfried Benn: Prosa und Autobiografie (in der Fassung der Erstdrucke), Limitierte Sonderausgabe, Frankfurt am Main: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 2006, Seite 628, Zeile 22f.

[10] PEN Zentrum Deutschland: PEN Charta, URL: http://www.pen-deutschland.de/de/pen-zentrum-deutschland/die-charta-des-internationalen-pen/ (eingesehen am 21. August 2016)

[11] Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe von 1900-1956, ungekürzte Ausgabe, Frankfurt am Main: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 1986, Seite 26, Zeile 37-41, Brief an Gertrud Zenzes

[12] Benn, Gottfried: Doppelleben: Zwei Selbstdarstellungen, mit einem Vorwort von Ulrike Draesner, Doppelleben, Leipzig: Klett-Cotta, 2011, Seite 111 , Zeile 11f.

[13] Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe von 1900-1956, ungekürzte Ausgabe, Frankfurt am Main: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 1986, Seite fi 226/1

[14] Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe von 1900-1956, ungekürzte Ausgabe, Frankfurt am Main: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 1986, Seite 47, Brief an F. W. von Oelze vom 18. November 1934

[15] Hillebrand, Bruno (Hrsg.): Gottfried Benn: Prosa und Autobiografie (in der Fassung der Erstdrucke), Limitierte Sonderausgabe, Frankfurt am Main: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 2006, Seite 635, Zeile 38ff.

[16] Steinhagen, Harald; Schröder, Jürgen (Hrsg.): Gottfried Benn - Briefe an F. W. Oelze: 1932-1945, Erster Band, Dritte Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta, 1999, Seite 254, Zeile 5-12

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Details

Titel
Die Autobiografie als rhetorisch-strategisches Konstrukt zwischen Sein und Schein. "Doppelleben" von Gottfried Benn
Autor
Jahr
2016
Seiten
13
Katalognummer
V380437
ISBN (eBook)
9783668582583
ISBN (Buch)
9783668582590
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
autobiografie, konstrukt, sein, schein, doppelleben, gottfried, benn
Arbeit zitieren
Maria Beyer (Autor:in), 2016, Die Autobiografie als rhetorisch-strategisches Konstrukt zwischen Sein und Schein. "Doppelleben" von Gottfried Benn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/380437

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