Gerechtigkeit durch Widerstand? Ziviler Ungehorsam bei John Rawls und Hannah Arendt


Hausarbeit, 2017

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ziviler Ungehorsam bei John Rawls
2.1 Grundlagen der Gerechtigkeitstheorie
2.2 Definition und Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams
2.3 Rolle des zivilen Ungehorsams in der Gesellschaft

3. Ziviler Ungehorsam bei Hannah Arendt
3.1 Definition und Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams
3.2 Institutionalisierung des zivilen Ungehorsams

4. Kritik und Diskussion
4.1 Voraussetzungen für zivilen Ungehorsam – Zustand einer Gesellschaft
4.2 Grundlage des zivilen Ungehorsams – Meinung, Gewissen und Intuition
4.3 Rolle des zivilen Ungehorsams – Ausnahme oder Regel?

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Begriff des zivilen Ungehorsams geht auf Henry David Thoreau zurück. In seinem Aufsatz „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, der erstmals 1849 erschien, erklärt er, warum es gerechtfertigt sei, sich gegen einen ungerechten Staat zu stellen und im Zweifel auch das Gesetz zu brechen. Thoreau schreibt, es sei die Pflicht eines jeden Menschen, sich nicht mit dem Unrecht einzulassen und sei das Gesetz so beschaffen, „daß es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz“ (Thoreau 1973: 18). Dieser Argumentation folgend weigerte er sich, Steuern an den Staat zu zahlen, da diese für den Krieg gegen Mexiko und die Erhaltung der Sklaverei eingesetzt würden – aus Thoreaus Sicht zwei Unrechte, die mit seinem Gewissen nicht vereinbar waren. Aufgrund seiner Weigerung, die Steuern zu bezahlen, saß er eine Nacht im Gefängnis und befand dazu: „Unter einer Regierung, die irgend jemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen.“ (vgl. Thoreau 1973: 20)

Ausgehend von diesem Essay hat sich der zivile Ungehorsam vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen bedeutenden Platz in der politischen Theorie und Philosophie erobert. Gelebter ziviler Ungehorsam etablierte sich als Handlungsform in der gesellschaftlichen und politischen Realität, wie etwa der Protest Mahatma Gandhis für Menschenrechte und gegen die Ausbeutung Indiens durch die britischen Kolonialherren oder die Bürgerrechtsbewegung in den USA unter Führung von Martin Luther King zeigten (vgl. Brownlee 2013). Begleitet davon haben sich in der theoretischen Debatte verschiedene Definitionen von und Perspektiven auf den zivilen Ungehorsam entwickelt. Zwei sehr unterschiedliche theoretische Sichtweisen auf dieses Phänomen werden in der vorliegenden Arbeit gegenübergestellt.

Auf der einen Seite steht John Rawls, der in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (Rawls 1979) den zivilen Ungehorsam als Stabilisierungskraft eines konstitutionellen Systems bezeichnet. Allerdings grenzt er die gerechtfertigten Anlässe zur Anwendung zivilen Ungehorsams als Form des Widerstands stark ein. Denn zum einen sei ziviler Ungehorsam nur unter ganz bestimmten Umständen zulässig, zum anderen würden zu viele Fälle zivilen Ungehorsams – mögen sie auch alle für sich gerechtfertigt sein – wiederum die Stabilität der Gesellschaft gefährden und seien daher abzulehnen. Einen ganz anderen Ansatz in der Debatte verfolgt Hannah Arendt in ihrem Essay „Ziviler Ungehorsam“ (Arendt 1970). Für sie ist ziviler Ungehorsam entscheidend, um die Offenheit und Legitimität einer konstitutionellen Demokratie zu garantieren. Im Gegensatz zu Rawls plädiert sie nicht für eine Beschränkung des zivilen Ungehorsams auf wenige Fälle, sondern sogar für eine Institutionalisierung desselben im demokratischen System.

Diese Arbeit stellt Rawls Verständnis von zivilem Ungehorsam dem von Arendt gegenüber. Welche Argumente sprechen für begrenzte Einsatzmöglichkeiten von zivilem Ungehorsam, welche für umfangreiche? Welche definitorischen Grenzen sind möglicherweise zu eng gefasst, welche zu weit? Kapitel 2 erörtert die Grundüberlegungen von John Rawls zu seiner Theorie der Gerechtigkeit, sowie seine Definition von zivilen Ungehorsam und dessen Einsatzmöglichkeiten. Kapitel 3 beschreibt Hannah Arendts Überlegungen zu Voraussetzungen und gesellschaftlicher Bedeutung des zivilen Ungehorsams. Im darauffolgenden vierten Kapitel werden ausgewählte Positionen beider Autoren gegenübergestellt und diskutiert, ehe im fünften Kapitel ein abschließendes Fazit gezogen wird.

2. Ziviler Ungehorsam bei John Rawls

Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls steht in der Tradition der Gesellschaftsvertragstheorien und ist ein umfangreiches und komplexes theoretisches Werk. In diesem Kapitel werden Rawls‘ Annahmen zum zivilen Ungehorsam, sprich dessen Rechtfertigung und ideelle gesellschaftliche Rolle skizziert. Zu Beginn werden die Grundzüge der Gerechtigkeitstheorie dargestellt, auf denen auch die Gedanken Rawls‘ zum zivilen Ungehorsam beruhen.

2.1 Grundlagen der Gerechtigkeitstheorie

Das Ziel der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls ist es, die Theorie des Gesellschaftsvertrages zu verallgemeinern, auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben und damit aufzuzeigen, dass es in der Moralphilosophie mehr gibt als nur die Wahl zwischen Utilitarismus und Intuitionismus (vgl. Rawls 1979: 11 f.; 27 f.).

Rawls stellt fest, dass es einen Pluralismus der Vorstellungen bezüglich der Gerechtigkeit gibt. Diesen möchte er überwinden, indem er allgemeine Gerechtigkeitsgrundsätze für die Gesellschaft entwickelt, welche die Rechte und Pflichten der Bürger[1] und der staatlichen Institutionen sowie die Verteilung der Güter festlegen: „Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden.“ (Rawls 1979: 28) Diese anfängliche Situation ist der Urzustand in dem sich die Menschen hinter einem Schleier des Nichtwissens befinden: sie kennen ihren Platz in der Gesellschaft ebenso wenig wie ihre Talente, ihre Intelligenz oder andere Faktoren, die dafür sorgen würden, dass sie nach ihrem subjektiven Interesse entscheiden. Allerdings verfügen sie über allgemeines Wissen, das sie bei der Konstruktion der Gerechtigkeitsgrundsätze anwenden, sie verstehen zum Beispiel Grundzüge der Wirtschaftstheorie oder der gesellschaftlichen Zusammenarbeit (vgl. Rawls 1979: 160 f.).

In dieser fiktiven Situation des Urzustandes würden sich die Menschen laut Rawls vernünftigerweise auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze einigen, die der Gestaltung der Institutionen zugrunde gelegt werden sollen:

„Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten[2], das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“ (Rawls 1979: 336)

Für Rawls sind folglich zwei Dinge entscheidend: Zum einen müssen alle Menschen die gleichen Freiheiten genießen, zum anderen müssen Ungleichheiten so gestaltet sein, dass die Schlechtestgestellten maximal profitieren. Eine Gesellschaft ist laut Rawls dann gerecht, wenn die Schlechtestgestellten mehr haben als in jeder anderen denkbaren Gesellschaft (vgl. Rawls 1979: 99). Soziale und natürliche Zufälligkeiten, von denen der einzelne profitiert oder unter denen er leidet, sind moralisch willkürlich und müssen im Sinne einer gerechten Gesellschaft ausgeglichen werden.

Diese Grundsätze, die sich auf die Institutionen in einer Gesellschaft beziehen, werden ergänzt durch Grundsätze für Individuen, denn „ohne die Befolgung bestimmter Handlungsprinzipien seitens der Bürger kann eine in ihren Institutionen ‚wohlgeordnete‘ Gesellschaft nicht bestehen“ (Forst 2006: 187). Diese individuellen Grundsätze nennt Rawls natürliche Pflichten. Die wichtigste natürliche Pflicht ist die der Erhaltung und der Förderung gerechter Institutionen: „Einmal müssen wir vorhandenen gerechten Institutionen, die sich auf uns beziehen, gehorchen und die vorgesehen Rolle in ihnen spielen; zum anderen müssen wir bei der Errichtung neuer gerechter Institutionen mithelfen, mindestens wenn es mit geringem Aufwand für uns möglich ist.“ (Rawls 1979: 368 f.) Durch diesen Bezug auf natürliche Pflichten entgeht Rawls dem Problem des Fehlens „einer moralischen Grundlage der Vertragseinhaltung“, indem er individuelle Pflichten als Ausdruck moralischer Autonomie definiert (Forst 2006: 194).

Zwei Aspekte der Theorie der Gerechtigkeit sind für die Diskussion von zivilem Ungehorsam von besonderer Bedeutung. Zum einen ist das Vorrangproblem zu berücksichtigen. Da nicht auszuschließen ist, dass verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien, Rechte oder Pflichten in Einzelfällen im Widerspruch zueinander stehen, muss nach Rawls ebenfalls schon im Urzustand geklärt werden, welches Prinzip, Recht oder welche Pflicht dann Vorrang hat. Würde dies nicht geschehen, könnte man sich in solchen Fällen nur auf die Intuition verlassen (vgl. Rawls 1979: 60 ff.). Rawls‘ Vorrangregeln legen fest, dass der erste Gerechtigkeitsgrundsatz Vorrang vor dem zweiten hat und der zweite Vorrang vor den Grundsätzen der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung (vgl. Rawls 1979: 336 f.). Dementsprechend darf beispielsweise eine Freiheit nur eingeschränkt werden, wenn das gesamte System der Freiheiten profitiert. Die Vorrangfrage für die Grundsätze der Institutionen ist also generell zu beantworten. Bei derselben Frage bezogen auf Pflichten und Verpflichtungen des Einzelmenschen sieht Rawls keinen naheliegenden Weg, Regeln für einen etwaigen Konflikt festzulegen. Er beschränkt sich hier auf die Beschreibung einiger Spezialfälle, einer davon ist der zivile Ungehorsam (vgl. Rawls 1979: 375).

Der andere wichtige Aspekt der Theorie der Gerechtigkeit für die Diskussion von zivilem Ungehorsam ist die Tatsache, dass Rawls in seinen Überlegungen fast ausschließlich von einer vollkommen gerechten Gesellschaft, von vollständiger Konformität ausgeht. Er bejaht zwar, dass die „Probleme der Theorie der unvollständigen Konformität die dringlichen“ seien (Rawls 1979: 25), da wir ihnen im täglichen Leben gegenüberstünden. Dennoch hält er an der vollkommen gerechten Gesellschaft als Fundament seiner Theorie fest, um sich davon ausgehend auch mit Fällen unvollständiger Konformität, oder anders gesagt mit Fällen von ungerechten Strukturen, auseinanderzusetzen (vgl. ebd.).

2.2 Definition und Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams

Als Ausgangspunkt für zivilen Ungehorsam sieht Rawls einen Pflichtenkonflikt. Entfernt sich das geltende Recht zu weit von der Gerechtigkeit, entsteht eine Diskrepanz zwischen Legalität und Legitimität: Die Pflicht, den Gesetzen und der ausführenden Gewalt zu folgen steht dem Recht zur Verteidigung der Freiheit und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit gegenüber (vgl. Rawls 1979: 400; Frost 2006: 201). Seine Überlegungen zum zivilen Ungehorsam beginnt Rawls mit dessen Definition „als einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber politischen gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“ (vgl. Rawls 1979: 401). Die Handlungen desjenigen, der sich für zivilen Ungehorsam entscheidet, richten sich an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit der Gemeinschaft und berufen sich auf die Gerechtigkeitsvorstellung, die der politischen Ordnung zugrunde liegt (vgl. Rawls 1979: 401 f.). Aus diesen Gründen kategorisiert Rawls den zivilen Ungehorsam als politische Handlung, für die etwa persönliche Moralvorstellungen oder religiöse Ansichten keine oder nur eine nachgeordnete Rolle spielen (vgl. Rawls 1979: 402).

Auch wenn beim zivilen Ungehorsam per Definition eines oder mehrere Gesetze gebrochen werden, versteht Rawls die Handlung dennoch als eine Demonstration von Gesetzestreue: „Das Gesetz wird gebrochen, doch die Gesetzestreue drückt sich im öffentlichen und gewaltlosen Charakter der Handlung aus, in der Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen der Handlungsweise auf sich zu nehmen.“ (Rawls 1979: 403). Diese Gesetzestreue verdeutlicht, dass die Handlung, der zivile Ungehorsam, tatsächlich aufrichtig und vom Gewissen geleitet ist (vgl. ebd.). Außerdem versichert laut Rawls derjenige, der zivilen Ungehorsam ausübt, dadurch, dass er nicht in völligem Gegensatz zum bestehenden politischen System steht. Er unterscheidet sich damit vom Militanten, der durch seine Aktionen „einer radikalen oder sogar revolutionären Veränderung den Weg zu bereiten“ versucht (Rawls 1979: 405).

Gerechtfertigt ist der zivile Ungehorsam laut Rawls nur unter drei Bedingungen. Zunächst ist er nur in Fällen wesentlicher und eindeutiger Ungerechtigkeit zulässig. Rawls argumentiert für eine „Beschränkung des zivilen Ungehorsams auf schwere Verletzungen des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes, des Grundsatzes der gleichen Freiheit, und auf eklatante Verletzungen des zweiten Teils des zweiten Grundsatzes, des Grundsatzes der fairen Chancengleichheit“ (Rawls 1979: 409). Zweitens kann der zivile Ungehorsam nach Rawls nur der letzte Ausweg sein, wenn alle anderen legalen Mittel ausgeschöpft sind, oder „vernünftigerweise für sinnlos“ gehalten werden können (Rawls 1979: 410 f.). Und drittens ist es laut Rawls nur möglich, zivilen Ungehorsam in einem begrenzten Umfang auszuüben. Denn ansonsten würden die gesammelten Handlungen die Achtung vor Gesetz und Verfassung zerstören und damit allen Menschen der Gesellschaft nachhaltig schaden. Daher bedürfte es in so einer Situation einer Koordinierung der Aktionen politischer Minderheiten, auch wenn jede einzelne Minderheit legitimerweise zivilen Ungehorsam ausüben könnte (vgl. Rawls 1979: 411 f.). Rawls sagt allerdings weiter nichts dazu, inwieweit der Umfang zu begrenzen sei. Ob er etwa nur eine begrenzte Anzahl gleichzeitig stattfindender Aktionen zulassen würde oder ob er die Zeitspanne der einzelnen Aktionen begrenzen würde, bleibt unklar. Die Koordination und damit die Einschränkung des zivilen Ungehorsams sollte nur so beschaffen sein, „daß jede [Gruppe] ihr Recht ausüben kann, ohne daß sich der zivile Ungehosam zu stark ausbreitet“ (Rawls 1979: 412).

Abschließend stellt Rawls noch fest, dass selbst wenn alle drei Bedingungen gegeben sind, schlussendlich noch die Frage zu klären sei, ob die Ausübung des zivilen Ungehorsams in der vorliegenden Situation vernünftig wäre. Denn das Ziel, mit dem zivilen Ungehorsam die Öffentlichkeit auf wirksame Weise anzusprechen, bedinge die Notwendigkeit, klug zu handeln. Sprich den Appell so vorzutragen, dass er auch verstanden werde und die Mehrheit nicht etwa nur zu scharfer Vergeltung herauszufordern (vgl. Rawls 1979: 413).

2.3 Rolle des zivilen Ungehorsams in der Gesellschaft

Da Rawls seinen Überlegungen zum zivilen Ungehorsam zwar keine vollkommen gerechte, aber immerhin noch eine annähernd gerechte Gesellschaft zugrunde legt, ist die Rolle des zivilen Ungehorsams begrenzt. Denn wenn die Grundstruktur einer Gesellschaft einigermaßen gerecht ist, gibt es laut Rawls die Pflicht, auch einem ungerechten Gesetz zu folgen, solange es ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit nicht übersteigt (vgl. Rawls 1979: 387). Allerdings stellt Rawls zur Stabilität gerechter Institutionen fest: „Wenn ungerechte Tendenzen aufkommen, so werden Kräfte wachgerufen, die die Gerechtigkeit des ganzen zu wahren trachten.“ (Rawls 1979: 249) Dementsprechend sind in der Theorie der Gerechtigkeit, auch wenn es sich hauptsächlich um eine Idealtheorie handelt, sowohl ungerechte Tendenzen mitgedacht als auch die Kräfte, die sich gegen diese Ungerechtigkeiten richten. Eine dieser Kräfte ist der zivile Ungehorsam.

Ziviler Ungehorsam kann folglich als Stabilisierungskraft im konstitutionellen System zur Erhaltung und Stärkung gerechter Institutionen beitragen (vgl. Rawls 1979: 421). Allerdings ist er nur eine wirkungsvolle Form der Nonkonformität, wenn die Gesellschaft in einem erheblichen Maß von einem Gerechtigkeitssinn beherrscht wird. Denn fehlt dieser Gerechtigkeitssinn, fehlt die Instanz, an die sich die Handlungen des zivilen Ungehorsams richten können. Diese „letzte Instanz ist weder das Gericht noch die ausführende oder gesetzgebende Gewalt, sondern die ganze Wählerschaft“ (Rawls 1979: 428 f.). Eine Begrenzung der Einsatzmöglichkeiten des zivilen Ungehorsams ergibt sich freilich auch schon aus dem sehr engen Legitimationsrahmen, den Rawls absteckt und der in Kapitel 2.2 skizziert wurde.

3. Ziviler Ungehorsam bei Hannah Arendt

Rawls‘ Konzeption von zivilem Ungehorsam ist sehr nah an der liberalen Definition[3], die im wissenschaftlichen Diskurs in den vergangenen Jahren als weitgehend anerkannt galt (vgl. Brownlee 2013; Celikates 2017: 38). Hannah Arendt hingegen bietet eine deutlich andere und zum Teil radikalere Sicht auf Voraussetzungen, Vorgehensweisen und mögliche Folgen des zivilen Ungehorsams.

3.1 Definition und Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams

Bei Hannah Arendt steht am Anfang des zivilen Ungehorsams der Zweifel an der Gesetzes- und Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder Regierungsentscheidungen und die Überzeugung, sich gegebenenfalls gegen diese zur Wehr setzen zu müssen:

„Ziviler Ungehorsam entsteht, wenn eine bedeutende Anzahl von Staatsbürgern zu der Überzeugung gelangt ist, daß entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offenstehen bzw. auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird oder daß im Gegenteil die Regierung dabei ist, ihrerseits Änderungen anzustreben, und dann beharrlich auf einem Kurs bleibt, dessen Gesetzes- und Verfassungsmäßigkeit schwerwiegende Zweifel aufwirft.“ (Arendt 1970: 136)

In diesem Sinne kann ziviler Ungehorsam entweder auf eine „notwendige und wünschenswerte Veränderung“ oder auf die „notwendige und wünschenswerte Erhaltung oder Wiederherstellung des Status quo“ zielen (ebd.). Wie die verschiedenen Beispiele Arendts zeigen, fasst sie die Voraussetzungen für legitimen zivilen Ungehorsam sind extrem weit. So sei ziviler Ungehorsam beispielsweise angebracht mit Blick auf

„den nicht erklärten Krieg in Vietnam, der nun schon ins siebte Jahr geht; den wachsenden Einfluß der Geheimdienste auf öffentliche Vorgänge; die offenen beziehungsweise kaum verhüllten Angriffe auf die Freiheiten, die im Ersten Verfassungszusatz garantiert sind; die Versuche, den Senat seiner verfassungsmäßigen Machtstellung zu berauben, […]“, etc. (ebd.)[4]

Arendt stellt in ihrem Essay nicht die Frage, ob ziviler Ungehorsam in bestimmten Fällen nicht legitim und damit abzulehnen ist. Sie stellt lediglich die Wesensmerkmale des zivilen Ungehorsams heraus und unterscheidet ihn vom einzelnen Gehorsamsverweigerer, vom kriminellen Ungehorsam sowie vom Revolutionär.

Im Einklang mit der liberalen Definition sieht auch Arendt zivilen Ungehorsam als gewaltlos, öffentlich und politisch motiviert (vgl. Arendt 1970: 137 f.; Smith W. 2010: 151 f.). Drei Aspekte Arendts Definition sind jedoch hervorzuheben, da sie sich deutlich von der liberalen Theorie unterscheiden. Zum einen kann ziviler Ungehorsam niemals die Handlung eines Einzelnen sein, es ist immer eine Aktion der Gruppe (vgl. Arendt 1970: 122). Zum anderen spielt bei Arendt das Gewissen für die Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams keine Rolle. Menschen, die sich in der Gruppe für zivilen Ungehorsam entscheiden, sind von einer gemeinsamen Meinung geleitet, nicht von moralischen Imperativen (vgl. Arendt 1970: 123). Das Gewissen ist laut Arendt für die Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams eine ungeeignete Instanz, da die Stimme des Gewissens stets „unpolitisch und subjektiv“ sei (Arendt 1970: 127). Das Gewissen sei eine private Sicht auf die Dinge und damit nicht generalisierbar beziehungsweise in dem Maße mit dem Gewissen anderer vergleichbar, als dass es sich als Basis für zivilen Ungehorsam anböte (vgl. Petherbridge 2016: 974 f.). Zwar mag das Gewissen eine ursprüngliche Rechtfertigungsinstanz für den Einzelnen gewesen sein, vor dem Forum der Öffentlichkeit wird laut Arendt aber eine Meinung daraus, deren Macht von der Zahl derer abhängig ist, die sie teilen (vgl. Arendt 1970: 132). Die öffentliche Debatte sei daher die „only defensible basis for civil disobedience“ (Petherbridge 2016: 975).

Der dritte Aspekt, in dem Arendt nicht der liberalen Tradition folgt, betrifft die gesetzlichen Folgen für denjenigen, der zivilen Ungehorsam betreibt. Die Forderung, er solle seine Strafe willig auf sich nehmen, bezeichnet sie als absurd – dies sei keinesfalls ein Zeichen für die Gesetzestreue des Verweigerers, eher für dessen Fanatismus, der jede rationale Diskussion unmöglich mache (vgl. Arendt 1970: 121; 131). Die Gesetzestreue beziehungsweise die Akzeptanz der bestehenden Autorität und der generellen Rechtmäßigkeit der Rechtsordnung drückt sich laut Arendt vielmehr durch die Gewaltlosigkeit der Handlungen aus (vgl. Arendt 1970: 138).

[...]


[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet. Damit sind aber stets sowohl die männliche als auch die weibliche Form gemeint.

[2] Grundfreiheiten sind beispielsweise persönliche Freiheit, politische Freiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit, Recht auf Eigentum, Schutz vor Willkür durch den Staat etc. (vgl. Rawls 1979: 82)

[3] Diese laut Brownlee (2013) „most widely accepted“ Definition sieht zivilen Ungehorsam als gewaltlose, öffentliche, gewissensbestimmte Verletzung des Gesetzes mit dem Ziel, eine Veränderung der Gesetze oder der Politik zu erreichen, und mit der Bereitschaft, die rechtlichen Folgen der Handlung zu tragen. Siehe dazu auch Laker 1986: 148 ff.

[4] Wie hier zu sehen ist, stützt Arendt ihre Argumentation stark auf die realen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA. Sie behauptet sogar, dass der zivile Ungehorsam „dem Ursprung und dem Gehalt nach in erster Linie immer noch ein amerikanisches Phänomen ist“ (1970: 143). King (2015: 511) merkt allerdings an, dass Arendt es im Weiteren verpasst, diese Behauptung schlüssig zu untermauern.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Gerechtigkeit durch Widerstand? Ziviler Ungehorsam bei John Rawls und Hannah Arendt
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Institut für Philosophie und Politikwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
24
Katalognummer
V380327
ISBN (eBook)
9783668572492
ISBN (Buch)
9783668572508
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ziviler Ungehorsam, Widerstand, John Rawls, Hannah Arendt, Gerechtigkeit, Stabilität, Civil Disobedience, Theorie der Gerechtigkeit, Staat
Arbeit zitieren
Lisa Schrader (Autor:in), 2017, Gerechtigkeit durch Widerstand? Ziviler Ungehorsam bei John Rawls und Hannah Arendt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/380327

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