Die Wahrnehmung von Musik in der Kunstästhetik von Martin Seel


Hausarbeit, 2017

17 Seiten, Note: 15


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1 Martin Seels „Ästhetik des Erscheinens“
1.1 Das Erscheinende
1.2 Sosein und Erscheinen
1.3 Erscheinen und Schein
1.4 Erscheinen und Imagination
1.5 Situationen des Erscheinens

2 Angemessenheit für Musik

Schlusswort

Literatur

Einleitung

In seinem Werk „Ästhetik des Erscheinens“ umschreibt und erklärt Martin Seel, was ästhetische Wahrnehmung ausmacht, was als ästhetisches Objekt dienen kann, wie das Subjekt ästhetisch wahrnehmen kann und wie die Situation Wahrnehmungen beeinflusst. In dieser Arbeit werde ich die fünf zentralen und konstituierenden Kapitel aus Seels Buch zusammenfassen um danach der Frage nachzugehen, ob sich seine Verfassung von Ästhetik, die im letzten Schritt auf Kunst zielt, eignet um die Wahrnehmung von Musik zu erfassen.

1 Martin Seels „Ästhetik des Erscheinens“

Welche sind die zentralen Aspekte, die Wahrnehmungen und Objekte als ästhetisch klassifizieren?

Ästhetische Wahrnehmung ist für Menschen alltäglich. Sie kann überall stattfinden - ob im Konzertsaal, in der Stadt oder in der Natur. Es gibt allerdings Situationen und Objekte, die von vornherein für ästhetische Wahrnehmung konzipiert sind (z.B. Aufführungen, Kunstwerke, Dekorationsartikel usw.). Eine Besonderheit des ästhetischen Wahrnehmungsmodus ist die zeitliche Abgrenzung. Zwar ist es möglich gleichzeitig ästhetisch und analytisch wahrzunehmen, aber im Falle der ästhetischen Wahrnehmung nehmen wir uns „Zeit für den Augenblick“. Wir treten also aus dem rein funktionalen Denken heraus und gewinnen „Gespür für die Gegenwart des Lebens“.1

Neben dem Augenblicksbewusstsein ist ein weiterer wichtiger Aspekt einer ästhetischen Wahrnehmung die Besonderheit der Situation. Zwar finden solche Situationen alltäglich statt. Für den ästhetischen Wahrnehmungsvollzug ist allerdings eine reziproke Beziehung zwischen Subjekt und Objekt vonnöten:

„Die Verfassung ästhetischer Objekte ist nur im Licht ihrer möglichen Wahrnehmung und die Verfassung der ästhetischen Wahrnehmung nur im Licht ihrer möglichen Gegenstände begreiflich“.2

Dementsprechend ist ein ästhetisches Objekt immer eines, das in einem besonderen Modus, in einer besonderen Situation wahrgenommen wird oder, wie oben beschrieben, für eine besondere Situation hergestellt ist. Alles was sinnlich (sensitiv) wahrgenommen werden kann, kann auch ästhetisch wahrgenommen werden. Dennoch ist nicht jedes wahrnehmbare Objekt ein ästhetisches Objekt.3

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Was macht nun ästhetische Objekte aus? Seel differenziert hier zwischen „ sinnlichem Sosein und ä sthetischem Erscheinen4 eines Objektes oder Gegenstands. Dabei handelt es sich aber nicht um etwaige Unterschiede in den Eigenschaften desselben Objekts, sondern vielmehr um einen anderen Anschauungsmodus. Das ästhetische Erscheinen löst sich von den „begrifflich fixierbaren“ Eigenschaften. Dies geschieht mehr oder weniger radikal. Dieses Erscheinen kann noch genauer bestimmt werden. Seel untergliedert es in blo ß es, atmosph ä risches und artistisches Erscheinen auf.5

Die genannten Begrifflichkeiten und die Details seiner Theorie werde ich in den nächsten Kapiteln herunterbrechen.

1.1 Das Erscheinende

„Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen - das ist der Brennpunkt der ästhetischen Wahrnehmung, auf den jeder ihrer Vollzüge ausgerichtet ist, wie sie ansonsten auch verlaufen mag.“6

Die ästhetische Wahrnehmung ist eine besondere Form der sinnlichen Wahrnehmung. Sinnliche Wahrnehmung bedeutet, Dinge zu ertasten, zu sehen, zu riechen, zu schmecken und zu hören. Dabei gibt es drei Stufen der Wahrnehmung: Erstens die Wahrnehmung -von etwas, d.h. Wahrnehmung ohne Interpretation oder ein Bewusstsein der Bedeutung. Zweitens die Wahrnehmung -dass. Sie hängt mit, drittens, der Wahrnehmung -als etwas zusammen. Dinge werden als wirklich (dass) und begrifflich (als) wahrgenommen. Dieses begriffliche Wahrnehmen ist Voraussetzung für ästhetische Wahrnehmung. Ohne es gibt es nämlich keine Möglichkeit, sich von der rein sinnlichen Wahrnehmung lösen.7

Um zu verstehen, in welcher Weise wir wahrnehmen, konstruiert Seel ein Beispiel eines roten Balles, der auf grünem Rasen liegt. Wir können verschiedene Eigenschaften des Balls sehen. Wir sehen, dass der Ball rot, handgenäht, ledern, prall, der Ball von Oskar, dem Nachbarsjunge, ist. Ebenso können wir den Ball intentional sehen. Zum Beispiel, wenn wir ihn gesucht haben oder wenn wir rasenmähen wollen und nichts im Garten liegen soll. In beiden Fällen sind die Antworten auf unsere Sichtweise begriffliche Informationen über den Ball. Dies ist für den ästhetischen Wahrnehmungsmodus allerdings nicht so wichtig. In diesem nimmt man die gesamten, in dieser Situation erkennbaren sensitiven Eigenschaften gleichzeitig auf. Der Fokus der Betrachtung liegt also nicht auf den einzelnen Details, sondern auf allen Details gemeinsam, auf dem ganzen Ball.8

Diese Betrachtung ist ebenfalls aspekthaft, aber sie bietet die Möglichkeit, das Zusammenspiel der Aspekte untereinander und des Balles mit der Umgebung, der Situation und auch mit dem Subjekt wahrzunehmen. Es geht also um „Simultaneität und Momentaneität“.9 Dies wird besonders deutlich an Phänomenen, die immer prozesshaft sind und begrifflich in ihren Einzelheiten schlecht beschrieben werden können: Flimmern, Rauschen, Er- und Verklingen, Wabern usw.

Die ästhetische Wahrnehmung hebt sich also von der aspekthaften und intentionalen ab. Dennoch schließt die eine die andere nicht aus. Seel nutzt hier das Beispiel eines Musikers, der einerseits auf seine technischen Schwierigkeiten achtet und höchst konzentriert spielt, aber andererseits die Situation, sein Spiel und die Musik genießt.10 Der ästhetische Anteil seiner Wahrnehmung ist dabei der genießende. Hier nämlich ist der Spieler nicht auf Einzelheiten fixiert, sondern nimmt das Geschehende insgesamt auf.

Eine weitere Besonderheit der ästhetischen Erfahrung ist, dass wir keine solche erleben, an der nur ein Sinn beteiligt ist. Beim Sehen können beispielsweise andere Sinne, die nicht aktiv beteiligt sind, imaginativ beteiligt sein. „Auch wenn wir den roten Ball auf grünem Grund nur sehen, können wir uns sinnlich vorstellen, wie seine strapazierte Oberfläche sich anfühlen würde.“11 Dieses Phänomen nennt Seel Syn ä sthesie.

Das Erscheinende erinnert das Subjekt auch immer an die Gegenwart. Seel zieht hier einen Gegenwartsbegriff von Heidegger zurate, der „ein Kontinuum von (Zuständen von) Dingen und Ereignissen, wie sie in der Umgebung eines Menschen sinnlich vernehmbar anwesend sind“12 Es geht also nicht nur um das, was gerade da ist, sondern Gegenwart beschreibt die Be-geg-nung mit dem, was gerade um mich herum ist und passiert. An diese begegnende Gegenwart erinnert das ästhetisch wahrgenommene Objekt. Es ist aber nicht etwa so, dass das Objekt mit dieser Intention belegt ist, sondern: „Es geht den Subjekten der ästhetischen Wahrnehmung um ein Verspüren der eigenen Gegenwart im Vernehmen der Gegenwart von etwas anderem.“13

Alles, was sinnlich wahrgenommen werden kann, ist ästhetisch wahrnehmbar. Jeder Mensch hat jederzeit die Freiheit, außer er ist von etwas anderem in Anspruch genommen, Objekte und Situationen ästhetisch wahrzunehmen - oder auch nicht. In manchen Situationen fällt das leichter oder ist näherliegend, in anderen scheint es fern. Immer aber ist es möglich.14

Ästhetische Wahrnehmung hat aktive und passive Komponenten, wie etwa einerseits das in den Bann gezogen werden und andererseits die bewusste Konzentration auf das Erscheinen. Dabei kann der ästhetische Wahrnehmungsmodus andere Modi ausschließen, muss dies aber nicht tun.15

Es ist also als ein Minimalbegriff anzusehen, ästhetische Wahrnehmung als Wahrnehmung des Erscheinens zu definieren. Es sollte nicht angenommen werden, dass die Wahrnehmung des Erscheinens schon alles ist. Viele andere Aspekte spielen ebenfalls wichtige Rollen. Dennoch gibt es uns die Möglichkeit, festzustellen bzw. festzulegen, wo ästhetische Wahrnehmung stattfindet und wo nicht.16

1.2 Sosein und Erscheinen

„Das ästhetische Erscheinen eines Gegenstandes ist ein Spiel seiner Erscheinungen17 lautet ein knapp definierender Satz, den Martin Seel diesem Kapitel voranstellt. Was ist der Gegenstand, was seine Erscheinungen und was deren Spiel?

Ein Wahrnehmungsgegenstand ist ein solcher aufgrund seiner Erscheinungen. Diese sind alle Eigenschaften und Attribute, die sinnlich wahrnehmbar sind. Dazu gehören Farbe und Form, nicht aber die molekulare Zusammensetzung, die wir nicht erriechen, erschmecken, ertasten, sehen oder hören können. Um einen solchen identifizieren zu können, sind die eher konstanten Erscheinungen wichtiger als die sich ändernden. Der rote Ball von Oskar ist eher an seiner Farbe zu erkennen als am tagesaktuellen Innendruck oder daran, dass er gerade nass ist. Trotzdem gehören die sich ändernden Attribute zu seinen Erscheinungen. Zu den Erscheinungen gehören also nicht nur statische Eigenschaften, sondern auch Prozesse.18 Besondere Gegenstände werden oft mit Eigennamen versehen. So heißt Oskars Ball in Seels Beispiel ‚Kuller‘. Diese Eigennamen ermöglichen dem Betrachter nicht nur die einzelnen Attribute wahrzunehmen und zu denken. Auch wenn schon etwas mit ‚Ball‘ bezeichnet wird, löst es gewisse Vorstellungen über sein Erscheinen aus. Namen und Bezeichnungen schaffen so „die Möglichkeit, einen Gegenstand in der Pluralität, Varietät, Simultaneität und Momentaneität seiner Erscheinungen zu vernehmen.“19 Seel postuliert gar, dass sich „ästhetische Anschauung nur im Kontext einer mit Namen und Allgemeinbegriffen instrumentierten Wahrnehmung vollziehen kann.“20 Begriffliches Wahrnehmen ermöglicht es nämlich, die Besonderheit eines Gegenstandes, einer Situation, einem Klang usw. zu erkennen.

Die Erscheinung eines Gegenstandes ist alles, was an ihm sinnlich vernommen und begrifflich beschrieben werden kann. Diese sinnliche Verfassung kann in unterschiedlichen Weisen wahrgenommen werden. Fokussiert auf Eigenschaften, die Attribute analysierend oder vergegenwärtigend das Spiel der Einzelheiten untereinander und des Objekts mit der Umgebung und Situation. Letztere Wahrnehmung ist die, die auf das Erscheinen zielt. Dieses Spiel „kann wahrnehmend verfolgt, nicht aber erkennend festgehalten werden.“21 In seinem Sosein vereint der Gegenstand alle seine sensitiv wahrnehmbaren, also phänomenalen, Eigenschaften.

[...]


1 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München, 2000. S.44 f.

2 Seel, 2000. S.45

3 Vgl.: Seel, 2000. S.45 f.

4 Seel, 2000. S.47

5 Vgl.: ebd.

6 Seel, 2000. S.49

7 Vgl.: Seel, 2000. S.50 f.

8 Vgl.: Seel, 2000. S.53 f.

9 Vgl.: Seel, 2000. S.55

10 Vgl.: Seel, 2000. S.57

11 Seel, 2000. S.58

12 Seel, 2000. S.61

13 Seel, 2000. S.62

14 Vgl.: Seel, 2000. S.63 f.

15 Vgl.: Seel, 2000. S.65

16 Vgl.: Seel, 2000. S.66-69

17 Seel, 2000. S.70

18 Vgl.: Seel, 2000. S.71 f.

19 Seel, 2000. S.75

20 Seel, 2000. S.76

21 Seel, 2000. S.83

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Wahrnehmung von Musik in der Kunstästhetik von Martin Seel
Hochschule
Universität Kassel  (Institut für Musik)
Note
15
Autor
Jahr
2017
Seiten
17
Katalognummer
V379149
ISBN (eBook)
9783668559998
ISBN (Buch)
9783668560000
Dateigröße
535 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ästhetik, Musik, Martin Seel
Arbeit zitieren
Raimund Lippok (Autor:in), 2017, Die Wahrnehmung von Musik in der Kunstästhetik von Martin Seel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/379149

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