Die Pflegefamilie als sichere Basis für vernachlässigte und misshandelte Kinder. Kinderschutz und bindungstheoretische Aspekte


Masterarbeit, 2014

126 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Kinderschutz bei Kindeswohlgefährdung
2.1 Kinderschutz
2.2 Kindeswohl
2.3 Grundbedürfnisse von Kindern
2.4 Kindeswohlgefährdung
2.5 Schutzauftrag nach § 8a SGB

3 Grundlagen der Pflegekinderhilfe
3.1 Statistische Daten zum Pflegekinderwesen
3.2 Strukturelle Aspekte der Pflegekinderhilfe
3.3 Rechtliche Grundlagen und Formen der Vollzeitpflege
3.4 Beziehungsnetzwerk von Pflegefamilien

4 Relevanz von Bindungen für die kindliche Entwicklung
4.1 Grundlagen der Bindungstheorie
4.2 Bindungsdynamik traumatisierter Kinder
4.3 Bindungsdynamik bei Pflegekindern

5 Herausforderungen und Unterstützungen für die Pflegefamilie im Umgang mit vernachlässigten oder misshandelten Kindern
5.1 Umgang mit traumatisierten Kindern
5.2 Entwicklung von Beziehungen in Ersatzfamilien – Theorie der Integration
5.3 Effekte einer sicheren Bindung – Resilienzforschung
5.4 Qualifizierung von Pflegefamilien
5.5 Unterstützungen für die Pflegefamilie

6 Resümee: Die Pflegefamilie – Eine sichere Basis?

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Die "staatlichen Wächter" (vgl. Meysen 2012, S.20)

Abbildung 2: Bedürfnispyramide nach Maslow (Eigene Darstellung/ vgl. Schrapper 2012, S.61/ Alle 2012, S.72)

Abbildung 3: Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB (vgl. Meysen 2012, S.24)

Abbildung 4: Institutionelle Zuständigkeiten für Pflegekinder und Pflegefamilien (vgl. Helming et al. 2011c, S.109/ DJI/ DIJuF 2006, S.16)

Abbildung 5: Institutionelle Zuständigkeiten für die Herkunftseltern (vgl. Helming et al. 2011c, S.109/ DJI/ DIJuF 2006, S.16)

Abbildung 6: Das jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis bei Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VII (vgl. Küfner 2011g, S.71)

Abbildung 7: Phasen der Bindungsentwicklung nach Bowlby (vgl. Lohaus/ Vierhaus 2013, S.99)

Abbildung 8: Hilfen des Jugendamts je nach Gefährdungsgrad (Kunkel 2006, S.12)

Abbildung 9: Berlineinheitliche Indikatoren / Risikofaktoren zur Erkennung und Einschätzung von Gefährdungssituationen (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2007, S.30-33)

Abbildung 10: Elemente und Merkmale einer Risikoeinschätzung (Eigene Darstellung/ vgl. Alle 2012, S.57)

Abbildung 11: Überblick "Erzieherische Hilfen" (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, S.4)

Abbildung 12: "Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung" < > "Angelegenheiten des täglichen Lebens" (vgl. Küfner 2011c, S.67-70)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Drei Gruppen häufiger Kurzzeitfolgen von Kindesmisshandlung (vgl. Moggi 2005, S.95)

Tabelle 2: Typische Langzeitfolgen von Kindesmisshandlung im Erwachsenenalter (vgl. Moggi 2005, S.99)

Tabelle 3: Hilfe zur Erzeihung außerhalb des Elternhauses (Eigene Darstellung/ vgl. Statistisches Bundesamt 2013d)

Tabelle 4: Volle Fachkraftstelle im Verhältnis zur Zahl der betreuten Pflegekinder (vgl. DJI/DIJuF 2006, S.18)

Tabelle 5: Familienstand der Eltern nach Altersgruppen des Kindes bei Beginn der Hilfe (vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S.9)

Tabelle 6: Wirtschaftliche Situation der Herkunftsfamilie bei Beginn der Hilfe (vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S.17)

Tabelle 7: Gründe für die Hilfegewährung (vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S.29f)

Tabelle 8: Überblick über entwicklungsabhängige Verhaltensauffälligkeiten, psychische und psychosomatische Symptome als Folgen von Kindesmisshandlung (vgl. AGKM 1992)

1 Einleitung

Im Jahr 2012[1] führten die Jugendämter in Deutschland knapp 107 000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch (vgl. fortlaufend: Statistisches Bundesamt 2013a). „Eine Gefährdungseinschätzung wird vorgenommen, wenn dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines/einer Minderjährigen[2] bekannt werden und es sich daraufhin zur Bewertung der Gefährdungslage einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind beziehungsweise Jugendlichen sowie seiner Lebenssituation macht“ (Statistisches Bundesamt 2013a). An dieser Statistik lässt sich außerdem ablesen, dass bei 16% (17 000) der Kinder eine eindeutige Kindeswohlgefährdung („akute Kindeswohlgefährdung“) vorlag und bei 20% (21 000) eine Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden konnte („latente Kindeswohlgefährdung“). Unterschieden wird hierbei auch die Art der Kindeswohlgefährdung[3], wobei die Verteilung bei akuter sowie latenter Gefährdung ähnlich ist: Zwei von drei (67%) dieser Kinder wurden vernachlässigt. 24% der Fälle wiesen Anzeichen für psychische Misshandlung und 26% für körperliche Misshandlung auf. In 5% der Verfahren konnten Anzeichen für sexuelle Gewalt festgestellt werden. Um die derzeitige Situation der Kinder- und Jugendhilfe im Bereich Kindeswohlgefährdung vergleichbar darzustellen, eignen sich die Zahlen der Inobhutnahmen (vgl. fortlaufend: Statistisches Bundesamt 2013b). Während im Jahr 2007 noch 28 200 Inobhutnahmen statistisch erfasst wurden, waren es im Jahr 2012 bereits 40 200. Das bedeutet, dass die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten 5 Jahren um 43% gestiegen ist. Für 32% dieser Kinder begann anschließend eine Hilfe zur Erziehung, wovon drei von vier Fällen außerhalb der Familie untergebracht wurden. Vor diesem Hintergrund scheint die Konzentration auf den Kinderschutz im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nachvollziehbar. Salgo (vgl. 2007) gibt diesbezüglich an, dass seit einigen Jahren Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung sowie sexueller Missbrauch von Kindern stärker in den Fokus geraten sind als jemals zuvor. Im Folgenden wird bei Kindern, welche Misshandlung-, Vernachlässigungs- oder Missbrauchserfahrungen machen mussten, auch von Kindern mit traumatischen Erlebnissen gesprochen. Um den Begriff des Traumas nicht inflationär zu benutzten, wird folgende Definition den Ausführungen dieser Arbeit zu Grunde gelegt.

Zur Bestimmung traumatischer Erfahrungen sind nach Scheuerer-Englisch folgende Merkmale wesentlich:

„Es handelt sich um eine einmalige oder fortdauernde Erfahrung,

- die zu einer psychischen Verletzung führt,
- die für das Kind überwältigend und mit seinen psychischen und physischen Möglichkeiten nicht kontrollierbar ist,
- die Todesangst und Angst vor Vernichtung des physischen oder psychischen Selbst auslöst,
- und bei der das Kind in der Situation auf niemanden zugreifen kann, bei dem es Schutz oder Hilfe erfährt.“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.67)

Im Folgenden geht es weniger um einmalige, traumatische Ereignisse, als um länger andauernde traumatische Beziehungsmuster, ausgelöst durch die anwesenden Bezugspersonen (vgl. Scheuerer-Englisch 2008, S.68). Das heißt, dass defninitionsgemäß überwältigende Einzelerfahrungen, wie zum Beispiel ein Unfall, eine Naturkatastrophe oder auch die Erkrankung wichtiger Bezugspersonen traumatische Ereignisse verkörpern, diese jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sind. Es geht dagegen um die zentrale Bedeutung von Vernachlässigung, körperlicher und seelischer Misshandlung sowie sexuellen Missbrauch, denn insbesondere Gewalterfahrungen „werden in ihrer nachhaltigen und zerstörerischen Wirkung auf das Kind immer noch massiv unterschätzt“ (Hopp 2012). Jedes Kind ist von Geburt an auf eine verfügbare sowie verlässliche Bezugsperson angewiesen, wobei „diese Bindungsbeziehung die Aufgabe [hat], dem Kind in Situationen von Gefahr, Belastung und Überforderung Sicherheit und Vertrauen zu geben“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.71). Sind jedoch die leiblichen Eltern des Kindes nicht in der Lage die Erziehung entsprechend dem Wohl des Kindes zu gewährleisten, so haben sie Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (§ 27 Abs.1 Satz 1 SGB VIII[4] ). „Wenn die ambulante Beratung von vernachlässigten, misshandelten, missbrauchenden Eltern erfolg- oder aussichtlos ist, muss (ggf. nach Inobhutnahme) unverzüglich das Familiengericht mit dem Ziel angerufen werden, das Kind in einem geeigneten Heim oder noch besser in einer dafür qualifizierten Pflegefamilie unterzubringen“ (Eberhard/ Malter 2006). Die Pflegefamilie wird als adäquate Unterbindung für traumatisierte Kinder am häufigsten genutzt. Diesbezüglich gilt im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII: Eine Pflegeperson ist, „wer ein Kind oder einen Jugendlichen über Tag und Nacht in seinem Haushalt aufnehmen will“. Die vorliegende Arbeit wurde vorrangig aus der Sicht der Pflegekinder und Pflegefamilien verfasst. Auf Grund dessen sind ihre Situationen und ihre Perspektiven besonders zu berücksichtigen. Hopp zeigt die Sicht der Welt eines Kindes, geprägt durch die traumatischen Erfahrungen wie folgt auf:

„Diese [traumatisierten] Kinder haben kein Vertrauen zu Erwachsenen – im Gegenteil, sie misstrauen allem und allen. Sie haben erfahren, dass die Welt nicht verlässlich ist, dass das Leben bedroht wird, dass Hilfe kaum zu erwarten ist, dass man auf sich allein gestellt ist, dass es eigentlich nur gilt, das hier und jetzt zu überleben und zu bewerkstelligen. Das Leben ist ein Kampf.“ (Hopp 2012)

Wie bereits erläutert braucht ein traumatisiertes Kind zunächst Sicherheit und wenigstens eine stabile Bezugsperson, „die aufgrund ihres Verhaltens dem Kind das Vertrauen gibt, dass es tatsächlich vor erneuten traumatischen Erfahrungen geschützt wird“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.80). Denn „Sicherheit erlaubt Autonomie und gesunde Selbstständigkeit“ (Scheuerer-Englisch/ Suess/ Pfeifer 2003, S.12). Um dieses lebensnotwendige Gefühl zu erlangen, benötigt das Kind als „sichere Basis“ bzw. „sicheren Hafen“ eine verlässliche sowie feinfühlige Bindungsperson (vgl. Niestroj o.J.). „Die mit der Bindungsperson verbundenen positiven Erfahrungen führen dann zu Bindungssicherheit“ (Niestroj o.J.) und dies ermöglicht dem Kind in den neuen Beziehungen zu den Pflegeeltern korrigierende Erfahrungen zu machen und so eine gesunde Basis für seine Entwicklung zu schaffen (vgl. Tenhumberg/ Michelbrink 2008, S.114). Die vorliegende Arbeit geht auf Grund dessen der Frage nach, ob die Pflegefamilie eine ‚sichere Basis‘ für das vernachlässigte oder misshandelte Kind darstellt und unter welchen Bedingungen dies geschehen müsse. Besondere Berücksichtigung in der Ausarbeitung finden bindungstheoretische Aspekte nach John Bowlby.

Vor diesem Hintergrund wird anfänglich Bezug auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten genommen, welche in Hinblick auf eine Kindeswohlgefährdung von Bedeutung sind. Innerhalb des zweiten Kapitels wird außerdem der Stand der Kinderschutz-Debatte in Deutschland erläutert, mit Bezug darauf, dass Grundlage jeglicher Überlegungen das Kindeswohl ist. Um diesem Terminus Rechnung zu tragen werden die Grundbedürfnisse von Kindern expliziert, da diese zur Sicherung des Kindeswohls ausreichend und angemessen befriedigt werden sollten. Kommt es allerdings nur zu einer unzureichenden Erfüllung der sog. „basic needs“, kann es zu einer Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB kommen. Durch die präzise Darstellung der Formen von Kindeswohlgefährdung – Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch – soll anschließend die Dynamik, ergo die Entstehungsbedingungen sowie die Folgen verdeutlicht werden. Abschließend geht dieses Kapitel auf den Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII ein, welcher den Kinderschutz weiter verschärfen soll.

Im Folgenden werden die Grundlagen der Pflegekinderhilfe näher erläutert, um eine theoretische Basis zu schaffen (Kapitel 3). Neben einigen statistischen Daten zum Pflegekinderwesen wird vor allem auf die strukturellen Aspekte eingegangen. Besonders zu erwähnen sind hierbei die verschiedenen Zuständigkeiten für die unterschiedlichen Akteure innerhalb des Prozesses der Inpflegenahme. Eine besondere Form der Hilfen außerhalb des Elternhauses bildet die Vollzeitpflege. Da diese Grundlage der folgenden Ausführungen ist, wird insbesondere auf die Pflegefamilie als Ersatzfamilie eingegangen und den zugrundeliegenden Prozess vom Beginn des Pflegeverhältnisses bis hin zu dessen Beendigung. Wie bereits erläutert, sind mehrere Akteure Teil dieses Prozesses. Während diese einerseits gesondert dargestellt werden, wird andererseits das sog. jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis von Jugendamt, Pflegesorgeberechtigten und Pflegeeltern beschrieben. Besondere Berücksichtigung findet in diesen Ausführungen die Forderung nach einer erhöhten Partizipation aller Beteiligten – vor, während und nach dem Prozess der Inpflegenahme.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, herauszufiltern, inwieweit die Pflegefamilie eine ‚sichere Basis‘ für das vernachlässigte oder misshandelte Kind darstellt. Besondere Berücksichtigung innerhalb dessen findet die Bindungstheorie nach John Bowlby. In Kapitel 4 sollen diese bindungstheoretischen Grundlagen näher gebracht werden, mit der Absicht, den Blick für traumatisierte Kinder innerhalb von Pflegefamilien weiter zu schärfen. Zu Beginn werden diesbezüglich die Annahmen der Bindungstheorie erläutert, die allgemeine Bindungsentwicklung, das Konzept der Feinfühligkeit sowie die unterschiedlichen Bindungsqualitäten von Kindern. In der Arbeit mit Pflegekindern ist insbesondere das Konzept der Feinfühligkeit von Bedeutung, da Kinder Bindungen speziell dann ausbilden, wenn deren Bedürfnisse in feinfühliger, angemessener und verantwortlicher Weise berücksichtigt werden. Um den Bogen zur vorliegenden Thematik zu spannen, wird anschließend einerseits die Bindungsdynamik traumatisierter Kinder und andererseits die Bindungsdynamik von Pflegekindern näher beleuchtet.

Im Nachstehenden sollen die erarbeiteten Grundlagen und Ansatzpunkte verknüpft werden (Kapitel 5). Anfänglich wird insbesondere der Umgang mit traumatisierten Kindern in Pflegefamilien thematisiert, da dieser durch vielzählige Herausforderungen gekennzeichnet ist. Nienstedt und Westermann haben für die Integration von Kindern in Ersatzfamilien ein Konzept entworfen, welches im Folgenden Gegenstand der Ausführungen ist. Diese Idee der Sozialisation eines Pflegekindes gilt innerhalb der vorliegenden Arbeit als grundlegend, da besonders die möglichen Schwierigkeiten aufgezeigt werden, die bei vernachlässigten oder misshandelten Kindern auftreten können. Innerhalb dessen wird auch darauf eingegangen, warum es zum Scheitern von Pflegeverhältnissen kommen kann und wie vor allem Pflegeeltern einem Abbruch entgegen wirken können. Neben der Integration eines Kindes in die Pflegefamilie ist es auch von Bedeutung, dem Kind bestimmte Schutzfaktoren für seine Entwicklung zu vermitteln, damit es im Sinne des Resilienzkonzepts widerstandsfähiger wird. Für die Pflegefamilie sind in diesem Zusammenhang speziell schützende, also resilienzfördernde Faktoren von Bedeutung. Ein traumatisiertes Kind benötigt bedingungslos viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Dabei stellt sich auch die Frage der Qualifizierung der Pflegefamilie bzw. der Pflegeeltern. Ein weiterer Punkt, welcher zu einer besseren Integration des Kindes in die Ersatzfamilie sowie zu einer Erleichterung im Umgang mit dem traumatisierten Kind beitragen kann, sind die unterschiedlichen Unterstützungsmaßnahmen, welche den Pflegeeltern zur Verfügung stehen.

Abschließend wird die Frage „Die Pflegefamilie – Eine sichere Basis?“ im Hinblick auf die vorliegende Thematik beantwortet und mögliche Perspektiven für die Weiterentwicklung des Feldes der Pflegekinderhilfe aufgezeigt.

Zu beachten ist dabei, dass allgemeine Aussagen nie alle Facetten eines Einzelfalls erfassen können. Daher ist es notwendig, die Individualität der Kinder, Herkunftseltern sowie Pflegeeltern im Hinterkopf zu behalten.

Schließlich soll folgendes Zitat von John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, die Notwendigkeit der Auseinandersetzung von Kindeswohlgefährdungen im Hinblick auf die Unterbringung in Pflegefamilien sowie die bindungstheoretische Betrachtung, in die vorliegende Masterarbeit einleiten:

„Gipfelstürmer brauchen ein Basislager.“
(Bowlby 1982, zitiert nach Scheuerer-Englisch/ Suess/ Pfeifer 2003, S.12)

2 Kinderschutz bei Kindeswohlgefährdung

Um sich näher mit den Themen der Bindungsfähigkeit von misshandelten oder vernachlässigten Kindern in Vollzeitpflegeverhältnissen beschäftigen zu können, ist es substanziell notwendig, sowohl die Grundlagen der Kinderschutzgesetze als auch der Formen, Ursachen und Folgen von Kindeswohlgefährdungen zu kennen. Einige statistische Werte wurden bereits erwähnt. Demzufolge liegt die häufigste Gefährdung des Kindeswohls in der Form der Vernachlässigung und jedes vierte Kind (25%), für welches ein Verfahren durchgeführt wurde, hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet (vgl. Statistisches Bundesamt 2013a). Besonders hier lässt sich der Bezugspunkt des Kinderschutzes deutlich erkennen. Im Folgenden soll dies näher verdeutlicht werden.

2.1 Kinderschutz

„Kinder haben ein Recht auf Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung. Wir alle sind gefordert, uns dafür einzusetzen, dass Kinder geschützt werden und das Recht auch umgesetzt wird.“ (Von der Leyen 2006, S.1)

Mit dieser Aussage macht die ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung in Bezug auf Kindeswohlgefährdung aufmerksam. Zudem wird in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG klar definiert, dass „Pflege und Erziehung der Kinder […] das natürliche Recht der Eltern [sind] und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ darstellen. Das bedeutet, dass die Eltern das Recht sowie die Pflicht besitzen, an erster Stelle für ihr Kind zu sorgen. Damit wird den Eltern die grundsätzliche Elternverantwortung eingeräumt (vgl. Alle 2012, S.15). Das Grundgesetz geht somit davon aus, dass dieses Eltern-Kind-Verhältnis in der Regel zum Wohl des Kindes beiträgt. Gleichzeitig ist man sich allerdings auch bewusst, dass nicht alle Eltern dieser Pflicht ausreichend nachkommen können oder wollen. Auf Grund dessen wurde Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG durch: „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ ergänzt. Kinder sind, wie Erwachsene, Träger von Grundrechten, können diese allerdings aus unterschiedlichen Gründen, etwa aus Alters- und Entwicklungsgründen, aber auch auf Grund der spezifischen Dynamik der Eltern-Kind-Beziehung, kaum selbst einfordern und durchsetzen (vgl. Urban 2004, S.31). Sie haben daher Anrecht auf Schutz nach Art. 6 Abs. 2 GG, formuliert als staatliches Wächteramt. „Die staatliche Gemeinschaft wacht über die Ausübung des Elternrechts und ist zu Eingriffen befugt, wenn Eltern ihrer Verantwortung für das Kindeswohl nicht gerecht werden“ (ebd.).

Auch das Achte Sozialgesetzbuch [SGB VIII] – Kinder- und Jugendhilfe – nimmt die Forderung sowie das Dreieck Kindeswohl-Elternrecht-Wächteramt des Grundgesetzes in § 1 und § 2 auf und stellt damit das Recht des Kindes auf „Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs.1 SBG VIII) in diesen Zusammenhang. Mit „staatlicher Gemeinschaft“ ist der Staat mit seinen Institutionen gemeint (vgl. Wiesner 2002, S.593). Besondere Bedeutung kommen hier dem Familiengericht (§ 1666(a) BGB)[5], dem Jugendamt und den ihm nach dem SGB VIII[6] obliegenden Aufgaben zu.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Die "staatlichen Wächter" (vgl. Meysen 2012, S.20)

Am 1. Januar 2012 ist das neue Bundeskinderschutzgesetz [BKiSchG] in Kraft getreten. „Ziel ist das frühzeitige Erkennen von Risiken und Belastungen in Familien mit jungen Kindern, die Verstärkung der Schnittstellen Kinder- und Jugendhilfe mit der Gesundheitshilfe als auch die Vernetzung von Angeboten im Rahmen der Primär- und Sekundärprävention zum Kinderschutz“ (Alle 2012, S.19). Vor allen Dingen erhofft man sich durch die neuen sowie erweiterten Regelungen, den Kinderschutz in Deutschland dauerhaft qualifizieren zu können (vgl. Kreft/Weigel 2012, S.11).

Die Eckpfeiler des Bundeskinderschutzgesetzes sind (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012a, S.2):

- Aktiver Kinderschutz durch Frühe Hilfen und verlässliche Netzwerke
- Aktiver Kinderschutz durch mehr Handlungs- und Rechtssicherheit
- Aktiver Kinderschutz durch verbindliche Standards
- Aktiver Kinderschutz durch belastbare statistische Daten
Den vorangegangenen Ausführungen folgend, ist das Kindeswohl Ausgangspunkt jeglicher kinderschutzorientierten Betrachtung. Demzufolge wird dieser Terminus nachfolgend präzisiert.

2.2 Kindeswohl

Der Begriff des Kindeswohls kann nicht eindeutig definiert werden und erfordert auf Grund dessen stets eine Konkretisierung am Einzelfall. Dettenborn kritisiert in diesem Zusammenhang, dass „nirgends im rechtlichen Regelwerk gesagt [wird], was unter Kindeswohl zu verstehen ist“, obgleich der Terminus als „Orientierungs- und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen bzw. kindschaftsrechtlichen Handelns genutzt wird“ (Dettenborn 2007, S.47ff). Die besondere Schwierigkeit, den Begriff zu präzisieren, lässt sich in den unterschiedlichen Herangehensweisen sowie Dimensionen finden (vgl. Froning 2010, S.54).

Eine Möglichkeit ist, die Grundrechte des Kindes oder des Jugendlichen als zentrale Bezugspunkte für eine Definition des Kindeswohls heranzuziehen (vgl. Schmid/ Meysen 2006, S.2-2). Die Verfassungsordnung besagt:

Das Kind/ der Jugendliche ist eine Person

- mit eigener Menschenwürde (Art.1 Abs.1 Satz 1 GG),
- mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.2 Abs.2 Satz 1 GG),
- mit dem Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art.2 Abs.1 i.V.m. Art.1 Abs.1 GG),
- die den Schutz ihres Eigentums und Vermögens genießt (Art.14 Abs.1 GG).

Das aus den Grundrechten abzuleitende Kindeswohl umfasst einerseits den Ist-Zustand des Kindes, andererseits allerdings auch den Prozess der Entwicklung zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit und beinhaltet somit zwei grundlegende Aspekte: Förderung und Schutz (vgl. Schmid/ Meysen 2006, S.2-2.). Wie bereits erwähnt, wird die primäre Verantwortung diesbezüglich den Eltern zugewiesen, da die „Pflege und Erziehung der Kinder […] das natürliche Recht der Eltern [sind] und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Art.6 Abs.2 Satz 1 GG)[7]. Dahingehend besagt die gängige Rechtsauffassung, dass letztendlich die Eltern das Kindeswohl ihrer Kinder definieren und somit auch die Entscheidung über die Art und Weise, wie sie diese Verantwortung wahrnehmen wollen, fällen.

„Das Kindeswohl ist keine Größe, die sich objektiv und abschließend festsetzten lässt, sondern es lässt sich nur in individuellen, bzw. situationspezifischen Arrangements auf Zeit bestimmten“ (Neufer 1993, S.2). Obwohl diese Aussage bereits vor 21 Jahren getätigt wurde, weißt sie noch heute Aktualität auf. Demzufolge lässt sich der Terminus des Kindeswohls auch aus pädagogischer Dimension nicht endgültig bestimmen, da insbesondere zwei Faktoren berücksichtigt werden müssen. Sowohl die „sozialen als auch gesellschaftlichen Kontextbedingungen, die sozialen Beziehungen und die individuellen Voraussetzungen“ (ebd.) müssen mit in den Versuch der Konkretisierung einbezogen werden. Von sozialpädagogischer Bedeutung sind somit Person sowie Situation. Auch aus psychologischer Perspektive wird das Kindeswohl durch sozialräumliche Aspekte mitbestimmt (vgl. Froning 2010, S.60), indem sich im Mittelpunkt der Betrachtung Kriterien finden lassen, welche „benennen, was Kinder für ein gesundes Aufwachsen, das heißt für eine körperliche, psychische, emotionale und soziale Entwicklung brauchen“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.22). Damit wird sichtbar, dass es sich um einen relativen Begriff mit interdisziplinärem Charakter handelt.

Um den Bogen zwischen dem was Kindern zusteht (Grundrechte) und dem, was sie brauchen (Grundbedürfnisse) zu spannen, plädiert Maywald für folgende Arbeitsdefinition:

„Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln wäre […] dasjenige Handeln, das die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientierte jeweils am wenigsten schädigende Handlungsalternative wählt.“ (Maywald o.J., S.2)

Dieser Definition soll im Weiteren gefolgt werden, um den Terminus des Kindeswohls greifbarer zu machen.

2.3 Grundbedürfnisse von Kindern

Zur Sicherung des Kindeswohls und somit zur körperlichen und seelischen Gesundheit von Kindern ist die Befriedigung elementarer Bedürfnisse unabdingbar.

„Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein.“ (Brazelton/ Greenspan 2002)

Nach Fegert (vgl. 1999, S.326f) ergeben sich sechs große Bedürfnisbereiche aus den Normen, welche in der UN-Kinderrechtskonvention[8] formuliert wurden:

- Liebe, Akzeptanz und Zuwendung: Der Mangel an emotionaler Zuwendung kann zu schweren körperlichen und psychischen Deprivationsfolgen bis hin zum psychosozialen Minderwuchs führen.
- Stabile Bindungen: Bindungsstörungen zeigen sich bei kleinen Kindern zunächst in Auffälligkeiten der Nähe-Distanz-Regulierung und können später zu massiven Persönlichkeitsstörungen führen.
- Ernährung und Versorgung: Als Folgen einer Mangel- oder Fehlernährung treten Hunger, Gedeihstörungen und langfristig körperliche sowie kognitive Entwicklungsbeeinträchtigungen auf.
- Gesundheit: Mängel im Bereich der Gesundheitsfürsorge führen zu vermeidbaren Erkrankungen mit unnötig schwerem Verlauf, z.B. infolge von Impfmängeln, Defektheilungen.
- Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung: Psychisch können diese Belastungen zu Anpassungs- bzw. posttraumatischen Störungen führen, die durch eine Fülle von Symptomen und teilweise langfristige Erkrankungsverläufe gekennzeichnet sind.
- Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung: Mängel in diesen Bereichen führen zu Entwicklungsrückständen bis hin zu Pseudodebilität.

Die hier beschriebenen Grundbedürfnisse[9] stehen nicht gleichwertig nebeneinander, sondern lassen sich nach Maslow im Bild einer Pyramide darstellen. Die einzelnen Stufen sind auf einander aufbauend zu verstehen, so dass es grundsätzlich erforderlich ist, dass das untere Bedürfnis befriedigt sein muss, um die oben stehenden befriedigen zu können (vgl. Alle 2012, S.72).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Bedürfnispyramide nach Maslow (Eigene Darstellung/ vgl. Schrapper 2012, S.61/ Alle 2012, S.72)

Die Bedürfnisse gehen fließend ineinander über und stehen miteinander in Wechselwirkung. Je älter das Kind ist, desto mehr Gewicht bekommen die auf den oberen Ebenen benannten Bedürfnisse (vgl. Alle 2012, S.72).

In der Sozialen Arbeit und vor allem im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen geht es demzufolge darum einzuschätzen, wie zuverlässig Eltern in der Lage sind die grundlegenden Lebensbedürfnisse ihrer Kinder ausreichend zu befriedigen. Bei unzureichender Erfüllung der sog. „basic needs“, kann es einerseits zu akuter Gefährdung und andererseits zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen kommen (vgl. Schrapper 2012, S.60).

2.4 Kindeswohlgefährdung

Das Wohl des Kindes ist in vielerlei Hinsicht gefährdet. Kinder leben in einer bestimmten Umwelt, in einer bestimmten Gesellschaft, in ihren Familien. Auf jeder dieser Ebenen gibt es Gefahren, denen Kindern ausgesetzt sein können. In der vorliegenden Arbeit wird der Fokus auf die Gefährdungen von Kindern in Familien und im familiären Umfeld gelegt.

Der Begriff „Gefährdung des Kindeswohls“ entstammt ursprünglich dem Kindschaftsrecht und lässt sich vor allem in § 1666 BGB wiederfinden.

„Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.“ (§ 1666 Abs.1 BGB)

Das Wohl des Kindes wird somit in das körperliche, geistige sowie seelische Wohl differenziert.[10] Hinzu muss kommen, dass die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Und nur dann kann bzw. muss das Familiengericht Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr treffen. Jedoch obliegt die Verantwortung vorranging den Eltern. Allerdings endet das Erziehungsprimat der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dort, wo das Kindeswohl gefährdet wird (siehe zur Übersicht folgende Abbildung).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB (vgl. Meysen 2012, S.24)

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB dann vor,

„wenn eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“ (Zitiert nach Alle 2012, S.14)

Aus dieser Definition ergeben sich zusammengefasst drei Erfordernisse für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung, welche gleichzeitig erfüllt sein müssen (vgl. Meysen 2012, S.23):

- Eine gegenwärtig vorhandene Gefahr,
- Erheblichkeit der Schädigung sowie
- Sicherheit der Vorhersage.

Vorerst gilt es zu klären, ob eine gegenwärtig vorhandene Gefahr besteht und die elementaren Bedürfnisse nach Fürsorge, Schutz und Erziehung befriedigt werden können. Die Annahme einer präsenten Gefahr kann sich aus einem „feststellbaren elterlichen Unterlassen bzw. Tun (z.B. gewalttätiges Verhalten), den konkret vorfindbaren Lebensumständen des Kindes (z.B. fehlende Lebensmittel, eklatante Unfallgefahren) oder […] aus Aspekten der Entwicklung des Kindes (z.B. deutlich delinquente Entwicklung) ergeben“ (Schmid/ Meysen 2006, S.2-5). Nicht jede Entwicklungsbeeinträchtigung oder elterliche Verletzung der Interessen des Kindes stellt eine Gefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB dar. Eine Erheblichkeit der drohenden oder bereits eingetretenen Schädigung liegt dann vor, „wenn ein Kind […] an Leib und Leben bedroht ist“ (ebd.). Zur Einschätzung können bestimmte Kriterien, wie Dauer oder Stärke der Ausprägung, herangezogen werden. Schließlich gilt es die Sicherheit der Vorhersage einer Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung für die Zukunft zu betrachten. Besondere Vorsicht ist durch die vielfach kumulativen und verdeckten Wirkungsweisen von Gefährdungen geboten, da Beeinträchtigungen im kindlichen Entwicklungsverlauf u.U. zeitlich verzögert sichtbar werden.

Nach § 1666 Abs. 1 BGB ermächtigt das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung nicht zum Eingriff in die elterliche Sorge. Weiter muss nach diesem Paragraphen eine der vier dort genannten Gefährdungsursachen vorliegen und die Eltern müssen nicht bereit und/oder nicht in der Lage sein, die Gefährdung abzuwenden (vgl. hierzu insgesamt Schmid/ Meysen 2006, S.2-5 – 2-7). Liegt eine Kindeswohlgefährdung vor, so kann diese nach der Trias der Kindeswohlgefährdung weiter differenziert werden.

2.4.1 Trias der Kindeswohlgefährdung

„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (§ 1631 Abs. 2 BGB)

Durch die Novellierung des § 1631 Abs. 2 BGB wollte der Gesetzgeber eine Norm zur Orientierung bezüglich des Umgangs von Eltern mit ihren Kindern setzen. Diese Richtlinie scheint sinnvoll, auch wenn es in diesem Zusammenhang schwer ist „körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen“ zu definieren und konkret aufzulisten. So wird immer der Einzelfall entscheiden ab wann eine Kindeswohlgefährdung tatsächlich vorliegt. Auch ist eine klare Abgrenzung unterschiedlicher Formen von Gefährdungen des Kindeswohls nicht möglich, da sich die Merkmale des Auftretens im alltäglichen Umgang von Eltern und Kindern vermischen und überschneiden (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.38). Dennoch soll im Folgenden ein Überblick über die Hauptformen von Kindeswohlgefährdungen gegeben werden. Im sozialwissenschaftlichen Kontext werden – Vernachlässigung – Misshandlung –Missbrauch – als Teil der traditionellen Trias gesehen.

Vernachlässigung

Darunter versteht man

„die (ausgeprägte, d.h. andauernder oder wiederholte) Beeinträchtigung oder Schädigung der Entwicklung von Kindern durch die sorgeberechtigten und -verpflichteten Personen gemeint auf Grund unzureichender Pflege und Kleidung, mangelnder Ernährung und gesundheitlicher Fürsorge, zu geringer Beaufsichtigung und Zuwendung, nachlässigem Schutz vor Gefahren sowie nicht hinzureichender Anregung und Förderung motorischer, geistiger, emotionale und sozialer Fähigkeiten.“ (Deegner 2005, S.37)

Zusammengefasst kann man von einer Vernachlässigung sprechen, wenn die Eltern wiederholt ihrer Pflicht gegenüber ihrem Kind zum fürsorglichen Handeln nicht nachkommen und dies somit zu einer Beeinträchtigung oder Schädigung der Entwicklung des Kindes führt. Unterschieden wird hierbei zwischen körperlicher und emotionaler Vernachlässigung sowie zwischen passiver (unbewusster) und aktiver (wissentlicher) Vernachlässigung (vgl. Deegner 2005, S.37). Eine einheitliche Kategorisierung hat sich jedoch bisher nicht herausgebildet, da es sich um ein heterogenes Phänomen handelt. Besonderer Berücksichtigung bedarf die Beobachtung von Vernachlässigung, da diese im Vergleich zu körperlichen Kindesmisshandlungen, sich häufiger durch einen schleichenden Verlauf auszeichnet (vgl. Kindler 2006a, S.3-1). Die Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung ergeben sich erst allmählich. „Kindesvernachlässigung ist im Kern eine Beziehungsstörung“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.43). Darunter ist zu verstehen, dass Vernachlässigung auf Mangelerfahrung der Eltern basieren kann, welche ihre eigenen Fähigkeiten nicht ausreichend ausbilden konnten, ergo sich selbst nicht oder nur im Ansatz um ihre Kindern kümmern können (vgl. ebd.). In der sozialpädagogischen Praxis handelt es sich diesbezüglich zumeist um sog. Multiproblemfamilien, d.h., dass die Vernachlässigung einher geht mit Schulden, Gewalt zwischen den Eltern, psychischen Auffälligkeiten oder auch Drogenkonsum (vgl. ebd.). In den ersten Lebensjahren von Kindern kann eine Vernachlässigung unmittelbar zu lebensbedrohlichen Zuständen führen, besonders in diesen Fällen muss auf geringste Anzeichen geachtet werden.

Misshandlung

Hierbei wird zwischen physischer und psychischer Misshandlung unterschieden. Körperliche Misshandlungen sind zum Beispiel: Ohrfeigen; Schlagen mit Händen oder Stöcken; Stoßen von der Treppe; Schleudern gegen die Wand; Verbrennen mit heißem Wasser oder Zigaretten; Setzen auf den Ofen; Vergiftungen (vgl. Deegner 2005, S.37). Darunter sind auch das Schütteltrauma[11] sowie das Münchhausen-by-proxy-Syndrom[12] zuzuordnen. „Die körperliche Misshandlung umfasst alle Arten bewusster oder unbewusster Handlungen, die zu nicht zufälligen körperlichen Schmerzen, Verletzungen oder gar zum Tode führen“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.38). Die oben erwähnten Misshandlungsformen sind einerseits Folge gezielter Gewaltausübung, andererseits stellen sie aber auch impulsive sowie reaktive Gewalttätigkeit dar (vgl. ebd.). Es kann demzufolge auf Grund eines Kontrollverlusts zu einer affektiven Krise kommen, welche in einem Gewaltausbruch bzw. einer körperlichen Misshandlung des Kindes mündet. So hat diese Form der Misshandlung immer auch eine psychische Dimension, welche berücksichtig werden muss. Unter seelischer/ emotionaler Misshandlung versteht man die Beeinträchtigung oder Schädigung der Entwicklung von Kindern auf Grund von z.B.: Ablehnung; Verängstigung; Isolierung; Liebesentzug bis hin zu massiven Bedrohungen einschließlich Todesdrohungen (vgl. Deegner 2005, S.38). Dem Kind wird durch diese Handlungen zu verstehen gegeben, es sei „wertlos, mit Fehlern behaftet, ungeliebt, ungewollt, gefährdet oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse anderen Menschen zu erfüllen“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.45). Dem entgegengesetzt kann aber auch ein zu starkes Behüten und emotionales Erdrücken des Kindes, Anzeichen von Misshandlung aufweisen. Nach Aussagen des Kinderschutz-Zentrum Berlins wird die psychische Misshandlung als Kern einer jeden Misshandlung angesehen (vgl. 2009, S.45). Oft treten seelische Misshandlungen im Kontext bei Jugendämtern oder Familiengerichten auf, wenn gleichzeitig eine andere Form der Kindeswohlgefährdung zum Vorschein kommt. Daher gilt es, auch auf ‚unsichtbare‘ Misshandlungserscheinungen zu achten.

Sexueller Missbrauch

„Diese Gewaltform umfasst jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind auf Grund seiner körperlichen, emotionalen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann bzw. bei der es deswegen auch nicht in der Lage ist, sich hinreichend wehren und verweigern zu können.“ (Deegner 2005, S.38)

Diese Definition stellt den Begriff „sexuelle Handlung“ in das Zentrum. Hierbei können verschiedene Formen unterschieden werden, welche allesamt eine Ausnutzung einer Macht- und Autoritätsposition zu Grunde liegen haben: Belästigung; Masturbation; oraler, analer oder genitaler Verkehr; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung; sexuelle Ausbeutung durch Einbeziehung von Minderjährigen in pornographische Aktivitäten und Prostitution (Wolff 1999, zitiert nach Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.40). Besonders emotional vernachlässigte Kinder, welche nur eingeschränkt die Möglichkeit hatten, sichere Bindungen zu entwickeln, haben ein erhöhtes Risiko, Opfer sexueller Ausbeutung zu werden (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.40). Durch sexuellen Missbrauch wird das Kind schwerwiegend und langjährig in seiner körperlichen und seelischen Entwicklung beeinträchtigt. Bereits vermeintlich belanglose Verletzungen des Schamgefühls des Kindes mit sexuellem Bezug können Auswirkungen haben. Umso problematischer ist die Einschätzung der Grenzüberschreitung in familiären Kontexten.

2.4.2 Entstehungsbedingungen von Kindeswohlgefährdung

Die Entstehungsbedingungen für eine Gefährdung des Kindeswohls können auf unterschiedliche Dimensionen zurückgeführt werden.[13] Gesellschaft, Familie, Individualität der Bezugsperson sowie das Kind selbst können Einflussfaktoren auf die mögliche Entstehung darstellen. In den Sozial- und Humanwissenschaften wird diesbezüglich ein „äquifinalistisches, multifaktorielle ökologisches und probalistisches Modell“ (Kindler 2009, S.768) vertreten. In diesem Zusammenhang bedeutet ‚äquifinalistisch‘, dass unterschiedliche Entwicklungswege zur Misshandlung oder Vernachlässigung möglich sind. ‚Multifaktoriell‘ sind diesbezüglich die Ursachen - in der Regel bestehen mehrere für das Entstehen von Kindeswohlgefährdungen. Von besonderer, kausaler Bedeutung sind die unterschiedlichen Dimensionen, dementsprechend bedingen sich die verschiedenen, miteinander in Verbindung stehenden, Faktoren. Zu beachten ist diesbezüglich, dass diese Entstehungsbedingungen als ‚probalistisch‘ gelten und die genannten Risiken zwar die Auftretenswahrscheinlichkeit von Missbrauch oder Vernachlässigung erhöhen, aber nicht zwangsläufig dazu führen, dass Eltern ihre Kinder tatsächlich in ihrem Kindeswohl gefährden (vgl. hierzu insgesamt Kindler 2009, S.768).[14]

Auf Gesellschaftlicher Ebene lässt sich eine Reihe von Bedingungen ausmachen, welche insbesondere die Wahrscheinlichkeit für Misshandlungen erhöhen. Zum Beispiel:

- Ein generell hohes Maß an gesellschaftlicher Gewaltbereitschaft, eine befürwortende oder zumindest ambivalente Haltung gegenüber Körperstrafen als Erziehungsmittel und eine mangelnde Akzeptanz von Kindern und ihrer Rechte (vgl. Kunkel 2005, S.22).
- Auch der soziokulturelle Kontext mit bestimmten Schichtstrukturen und ökonomischen Verhältnissen (Arbeit, Wohnen, Bildung) kann ein Risikofaktor darstellen (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.36).
Auf der direkten Familiären Ebene können u.a. folgende Faktoren als begünstigend angesehen werden:
- Ein autoritärer Erziehungsstil, ausgerichtet auf Gehorsam, Unterwerfung und körperlichen Strafen,
- ein hoher intrafamiliärer Stresspegel,
- Alleinerziehung, gekoppelt mit erzieherischer Überlastung und erhöhtem Stresserleben,
- schlechte sozioökonomische Bedingungen und eine daraus resultierende soziale Benachteiligung und Ausgrenzung (vgl. Kunkel 2005, S.22).
Die Individuelle Perspektive der Bezugsperson bedingt z.B. nachstehende Risikofaktoren:
- Eine frühe Schwangerschaft (geringes Alter und mangelnde Reife),
- selbst erlebte emotionale Deprivation,
- Gewalterfahrung in der Kindheit,
- Alkohol- und Substanzmittelmissbrauch,
- bestimmte Formen psychischer und somatischer Erkrankungen,
- überhöhte Erwartungen an das Kind (vgl. Kunkel 2005, S.23).
Auf der anderen Seite sind die Kinder zu sehen. Auf der Individuellen Kindebene können Entstehungsbedingungen vorliegen, wie
- Unerwünschtheit,
- Frühgeburt, infolgedessen verminderte kindliche Responsivität auf äußere Reize und somit erschwerter Beziehungsaufbau zu den Bezugspersonen,
- ‚schwieriges‘ Temperament (z.B. Schreikinder, Entwicklungsstörungen, Schlafstörungen),
- Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Hyperaktivität, Quengeln) (vgl. Kunkel 2005, S.23).

2.4.3 Folgen von Kindeswohlgefährdung

Neben den Ursachen, bzw. den Entwicklungsbedingungen für Kindeswohlgefährdung gibt es – im Sinne der Kausaltheorie – auch Folgen, bzw. Konsequenzen. Um im folgenden Verlauf den Umgang mit missbrauchten oder vernachlässigten Kindern besser beschreiben zu können, ist es substanziell die Folgen darzustellen. Es ist nicht möglich, allgemeingültige Auswirkungen aufzuzeigen, da

„die Art und Schwere der Folgen […] von der Form und Schwere der Kindesmisshandlung (z.B. führt wiederholter lang andauernden Inzest mit körperlicher Gewaltanwendung zu schwereren Folgen als die einmalige Konfrontation eines Kindes mit einem unbekannten Exhibitionisten), vom Kontext (z.B. Beziehungsqualität des Elternpaars, Armut), von Bewältigungsprozessen (z.B. persönliche Ressourcen, soziale Unterstützung) und vom Entwicklungsstadium der Kinder (Säuglings-, Kleinkind-, Kindes- und Schulalter) bzw. Adoleszenten abhängig ist.“ (Moggi 2005, S.94f)

Moggi strukturiert die Folgen von Kindesmisshandlung bezüglich dessen Latenzzeit (vgl. 2005, S.94). Symptome, welche unmittelbar bis mittelfristig (ca. innerhalb zwei Jahren) nach Misshandlungsbeginn auftreten, werden als Kurzzeitfolgen bezeichnet. Langzeitfolgen sind im Gegensatz dazu anhaltend und treten erst nach einer gewissen Latenzzeit auf. Wie auch bei den Ursachen kann hier nicht das typische Misshandlungssyndrom ausgemacht werden. Eine direkte Zuordnung zu den Formen, Vernachlässigung, psychische und physische Misshandlung sowie sexueller Missbrauch ist ebenfalls schwierig, da es in vielen Fällen häufig zu einem gleichzeitigen Auftreten mehrerer Misshandlungsformen kommt. Komprimiert lassen sich Kurzzeitfolgen in zwei „ Breitbandfaktoren “ gruppieren – „ internalisierende Reaktionsformen (z.B. Depression, Angst, Rückzugsverhalten […]) oder externalisierende Reaktionsformen (z.B. offene Aggression gegen andere Personen oder Eigentum)“ (Moggi 2005, S.95f).

Differenziert treten bei physischer Misshandlung häufiger Verletzungen wie beispielsweise Schütteltrauma, Quetschungen, Verbrennungen sowie Skelett-, Weichteil-, Augen-, Hirn- und Mundverletzungen auf (vgl. Moggi 2005, S.96). Je jünger ein betroffenes Kind, desto eher kann es zu schwerwiegenden Verletzungen oder gar zum Tod kommen (vgl. Kindler 2006b, S.26-1). Kinder, welche körperlich misshandelt wurden, verfügen über eine „besondere Aufmerksamkeit für potenziell bedrohliche Informationen in ihrer Umwelt“ (Kindler 2006b, S.26-2) und befinden sich somit in einer „ständigen inneren Alarmbereitschaft“ (ebd.). Es wird demzufolge davon ausgegangen, dass diese Wachsamkeit die notwendigen Energien für die kindliche Entwicklung bindet und weiter die Anpassungsfähigkeit des Kindes auf Dauer erschöpft, sodass zwangsläufig das Auftreten von z.B. Angststörungen begünstigt wird (vgl. ebd.). Des Weiteren können psychische Misshandlungen sowie Vernachlässigungen zu Entwicklungsrückständen (z.B. Wachstums- und Sprachstörungen) und psychosomatischen Symptomen (z.B. Einnässen) führen (vgl. Moggi 2005, S.96). Besondere Betonung liegt hier auch auf der Bindungsfähigkeit der Kinder. Vernachlässigte Kinder zeigen eine unsichere Bindung[15] zu ihren Betreuungspersonen und die Schwere der Bindungsstörung nimmt mit der Dauer der Vernachlässigung zu (vgl. O’Connor et al. 2000, zitiert nach Moggi 2005, S.96). Bindungserfahrungen haben einen großen Einfluss auf das spätere Verhalten eines Kindes in sozialen Kontexten und Beziehungen (vgl. Kindler 2006c, S.24-5). „Vernachlässigte Kinder scheinen hierbei sich selbst in Beziehungen als wenig liebenswert einzuschätzen und andere als wenig an ihnen interessiert, ablehnend oder sehr mit eigenen Problemen beschäftigt wahrzunehmen“ (ebd.). In besonders schweren Fällen von Vernachlässigung (z.B. beim Verhungern eines Kindes) ist der Einfluss offenkundig. Im Gegensatz dazu lässt sich bei weniger schwerwiegenden Fällen die Auswirkung nicht direkt aufzeigen und bedarf einer fundamentalen Prüfung. Neben Formen der Vernachlässigung führen auch Formen psychischer Misshandlung zu ähnlichen Verhaltensweisen und es gilt als wahrscheinlich, dass sich diese Auswirkungen in innerpsychischen Prozessen niederschlagen, welche durch eine unmittelbare therapeutische Arbeit aufgegriffen werden müssen (vgl. Kindler 2006d, S.25-3). Bei sexuellem Missbrauch gilt diese Form der Verarbeitung ebenfalls als notwendig. Verletzungen im genitalen, analen und oralen Bereich, Schwangerschaften während der Adoleszenz sowie nicht dem Alter entsprechendes Sexualverhalten können hier als Folgen beobachtet werden (vgl. Moggi 2005, S.96). Allerdings gibt es auch die Möglichkeit, dass diese Missbrauchsopfer keine Symptome zeigen (vgl. Unterstaller 2006, S.27-2). Gründe hierfür sind unteranderem, dass diese Kinder tatsächlich weniger beeinträchtigt wurden oder aber auch lediglich weniger intensive Formen des Missbrauchs erdulden mussten (vgl. ebd.). Die Auswirkungen auf die Folgen sexueller Gewalt sind von Kind zu Kind unterschiedlich und die Schwere der Symptome nicht kategorisierbar. Besonders zu bedenken ist, dass bei dieser Form auch erst später Auffälligkeiten auftreten (vgl. ebd.).

Zusammenfassend[16] lassen sich drei Gruppen häufiger Kurzzeitfolgen von Kindesmisshandlung verbunden mit einer Auswahl an Merkmalen wie folgt tabellarisieren:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Drei Gruppen häufiger Kurzzeitfolgen von Kindesmisshandlung (vgl. Moggi 2005, S.95)

Neben den Kurzzeitfolgen sind es die Langzeitfolgen, welche besondere Aufmerksamkeit bedürfen. In erster Linie ist hier die Aufgabe der Sozialen Arbeit unterstützend einzugreifen und bei möglichen, schleichenden Folgen beizustehen. Auf der Grundlage seiner „lebensweltorientierten, ganzheitlichen und gesetzesübergreifenden“ Aufgabenwahrnehmung soll der ASD einerseits „drohende oder akute Gefährdung durch eine dem Einzelfall angemessene Intervention“ beenden, sowie andererseits durch bestimmte Schutzvorgaben „Gefährdungen von Minderjährigen weitestgehend verhindern“ (Blüml 2006, S.78-1). Das heißt, dass zwar versucht werden soll Gefährdungen zu verhindern, gelingt dies allerdings nicht, so sollten die Folgen möglichst durch passende Hilfeangebote gering gehalten werden. „Der Zusammenhang von sexueller Kindesmisshandlung und emotionalen (v.a. Depressionen, Suizidalität […]), interpersonalen (v.a. Reviktimisierung) und sexuellen Störungen (v.a. sexuelle Funktionsstörungen, Promiskuität) sowie Persönlichkeitsstörungen als typische Langzeitfolgen “ (Moggi 2005, S.98) kann als bestätigt angesehen werden, wohingegen der Zusammenhang mit anderen Formen von Kindesmisshandlung noch wenig untersucht ist. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass jegliche Missbrauchsform Narben hinterlässt, welche die Vulnerabilität im Erwachsenenalter deutlich erhöhen (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.79). Neben entwicklungspsychologischen Auswirkungen, Risikoverhalten oder körperlichen und psychischen Erkrankungen, sind es insbesondere psycho-biologische Auswirkungen, welche – im Kontext dieser Arbeit – von Bedeutung sind. Jeder Mensch egal welchen Alters hat ein grundlegendes Bindungsbedürfnis, wie sich dieses allerdings entwickelt, entscheidet sich ganz wesentlich in der Beziehung zur primären Bezugsperson (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.80).

„Früh einwirkende Kindheitsbelastungsfaktoren führen also in einem vulnerablen Zeitfenster der Entwicklung, in dem das genetisch determinierte Stressverarbeitungssystem noch nicht hinreichend ausgereift ist, zu „biologischen Narben“, welche sich lebenslang in einer Dysfunktion des Stressverarbeitungssystems im Sinne einer erheblich erhöhten Vulnerabilität bei körperlichen wie psychosozialen Belastungssituationen niederschlagen können.“ (McEwan 2003, zitiert nach Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.81)

Neben den beschriebenen Langzeitfolgen von Kindeswohlgefährdung bietet folgende Tabelle eine Auswahl typischer Auswirkungen zur fokussierten Darstellung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Typische Langzeitfolgen von Kindesmisshandlung im Erwachsenenalter (vgl. Moggi 2005, S.99)

2.5 Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII

Durch die Novellierung des SGB VIII werden das staatliche Wächteramt sowie die Verantwortung der öffentlichen und freien Jungendhilfeträger ausdrücklich akzentuiert und gestärkt (vgl. Institut für soziale Arbeit e.V. 2006, S.12). Bestehende Hilfeleistungen sowie die Kooperation zwischen freien Trägern, Jugendamt und Familiengericht sollen optimiert werden um Gefahrensituationen früher zu erkennen. „Das Hilfeprogramm des SGB VIII[17] ist […] gleichzeitig ein Angebot zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, sowohl im Vorfeld einer Kindeswohlgefährdung als auch bei drohender oder bereits verwirklichter Gefahr“ (Schmid/ Meysen 2006, S.2-7). Denn orientieren sich die Eltern bezüglich ihrer Wahrnehmung der Elternverantwortung am Wohl ihres Kindes, steht eine Förderung der Entwicklung dessen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit im Vordergrund. Zur Unterstützung hierzu werden Regelangebote zur Förderung der Erziehung (§§ 11 bis 26 SGB VIII) angeboten. Kommen die Eltern allerdings an ihre Grenzen und schaffen es nicht aus eigener Kraft entsprechende Bedingungen zum Erreichen dieses Erziehungsziels zu schaffen, bietet die öffentliche Jugendhilfe, orientiert am Einzelfall, geeignete Hilfe zur Erziehung (§§ 27 bis 35 SGB VIII). Wenn die Eltern allerdings nicht bereit oder nicht in der Lage sind, bei der Abwendung der Gefährdung mitzuwirken, obliegt die Wahrnehmung des Wächteramts der Jugendhilfe – in einer Verantwortungsgemeinschaft mit den Familiengerichten (§ 8a SGB VIII – Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung).

Das Verfahren des Schutzauftrages nach § 8a SGB VIII kann in drei Stufen eingeteilt werden (vgl. Kunkel 2006, S.2):

- Erkennen von Anhaltspunkten
- Bewerten des Gefährdungsrisikos
- Handeln zur Abwendung der Gefährdung.

[...]


[1] Es handelt sich hierbei um die erstmalige Erhebung des Statistischen Bundesamtes bezüglich der Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII. Die Daten gelten für Gesamtdeutschland im Jahr 2012.

[2] Zugunsten einer flüssigeren Lesbarkeit wird im Folgenden auf eine grammatikalische Doppelbezeichnung von weiblichen und männlichen Subjektformen überwiegend verzichtet. Gebraucht wird zumeist die männliche Form zur Bezeichnung von Personen; darin eingeschlossen sind ausdrücklich weibliche Personen.

[3] Mehrfachnennungen waren möglich.

[4] Alle im Folgenden relevanten und verwendeten Gesetze finden sich in: Schellhorn 2012 (SGB VIII) / Köhler 2014 (BGB) / Epping/ Hillgruber 2013 (GG).

[5] Die Maßnahmen, welche das Familiengericht nach § 1666 BGB anordnen kann sind Gegenstand in Kapitel 2.4 „Kindeswohlgefährdung“.

[6] Desweiteren kam es zu einer Verstärkung des Schutzauftrags der Kinder- und Jugendhilfe durch das KICK (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz) im Jahr 2005. Aus dem staatlichen Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) wurde ein Schutzauftrag des Jugendamts gesetzlich eindeutig formuliert und gibt so eine deutliche Akzentuierung in Richtung auf die Verstärkung des Kinderschutzes. Mit diesem Ziel ist ein neuer Paragraph 8a in das SGB VIII aufgenommen worden (vgl. Meysen 2012, S.25). Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung findet in Kapitel 2.5 besondere Erwähnung.

[7] Desweiteren ergibt sich aus Art.6 Abs.2 Satz 2 GG wie bereits beschrieben, ein verfassungsrechtlicher Auftrag der staatlichen Gemeinschaft, durch das sogenannte „staatliche Wächteramt“. Die abstrakte, staatliche Schutzpflicht ist zudem erweiterter Gegenstand in Kapitel 2.5 „Der Schutzauftrag nach §8a SGBVIII“.

[8] Das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“, kurz „UN-Kinderrechtskonvention“ wurde 1989 verabschiedet, 2010 auch von Deutschland vorbehaltlos angenommen und umfasst in drei Bereichen grundlegende Rechte von Kindern (Minderjährigen unter 18 Jahren): Versorgungsrechte (U.a. Rechte auf Gesundheitsversorgung, Bildung, angemessene Lebensbedingungen); Schutzrechte (U.a. Recht auf Schutz vor körperlicher oder seelischer Gewalt, vor Misshandlung oder Verwahrlosung); Beteiligungsrechte (U.a. Recht auf freie Meinungsäußerung und auf freien Zugang zu Informationen und Medien). Besonders im Bereich der Sozialen Arbeit mit Kindern sind diese Grundprinzipien zu beachten, denn die „Vertragsstaaten dieses Übereinkommens [somit auch Deutschland] haben vereinbart, dass das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen soll“ (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012b, S.10). Für weitere, ausführliche Information wird auf „Kinder haben Rechte“ von unicef 2013 verwiesen.

[9] Neben den genannten Bedürfnissen wurden „Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern“ von Brazelton und Greenspan formuliert. Diese umfassen „Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen“, „Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation“, „Das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind“, „Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen“, „Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen“ sowie das „Bedürfnis nach einer gesicherten Zukunft“ (Brazelton/ Greenspan 2002 passim). Wie deutlich zu erkennen ist, stimmen diese bis auf unzulängliche Abweichungen in der Formulierung mit den hier genannten Grundbedürfnissen der UN-Kinderrechtskonvention überein und werden somit nicht näher erläutert.

[10] Die Auflistung der Gefährdungsursachen entspricht nicht der sozialwissenschaftlich gebräuchlichen Einteilung in die Trias Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, welche Bestand in Kapitel 2.4.1 ist. Dennoch lassen sich daraus Kriterien für das Vorliegen einer Gefährdung des Kindeswohls ableiten.

[11] Durch die direkte äußere Gewalteinwirkung beim Schütteln entstehen Verletzungen des Kopfes und Gehirns. Um die schweren, für das Schütteltrauma-Syndrom typischen Hirnschädigungen hervorzurufen, sind erhebliche physikalische Kräfte erforderlich.“ Es kommt zu einem unkontrollierten Umherrotieren von Kopf und Extremitäten des Kindes. Am häufigsten sind Kinder im Alter von zwei bis fünf Monaten betroffen, da sie auf Grund ihrer anatomischen Prädispositionen besonders vulnerabel sind. Weiter dazu in Herrmann et al. 2010, S.36.

[12] Im Deutschen Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, ist eine kombinierte Form der Kindesmisshandlung. Es beinhaltet körperliche sowie emotionale Elemente der Misshandlung. „Eine dem Kind nahe stehende Person täuscht Anzeichen einer Krankheit vor, erzeugt sie aktiv oder aggraviert bestehende Symptome, um das Kind wiederholt zu medizinischen Untersuchen vorzustellen. Gleichzeitig sind die Eltern auffällig intensiv sorgend um ihre Kinder bemüht. Ziel sind wiederholte Arztbesuche mit stark manipulativem Charakter, die zu umfangreicher, oft eingreifender Diagnostik am Kind führen, um Aufmerksamkeit und Zuwendung zugunsten des Erwachsenen zu erlangen.“ Weiter dazu in Herrmann et al. 2010, S.97.

[13] Einfache, eindimensionale Ursache-Wirkungs-Modelle können hier nicht angewandt werden. Keine Familie ist gleich. Kein Kind ist gleich. Jeder Fall hat seine Besonderheiten und bedarf einer komplexen Risikoeinschätzung durch professionelle Fachkräfte.

[14] Im Folgenden sind vier grundlegende Perspektiven zentral dargestellt. Auf eine ausführlichere Darstellung der Entwicklungsbedingungen wurde verzichtet, da für den folgenden Verlauf insbesondere die Folgen von Kindeswohlgefährdung wesentlich sind. Die Darstellung der Ursachen soll nur einem kurzen Überblick und einer Gesamtheit der Darstellung dienen. Weitere Informationen finden Sie in Kindler 2009, S.768-772.

[15] Eine genauere Darstellung der Bindungsqualitäten allgemein sowie präzisiert auf traumatisierte Kinder folgt gesondert in den Kapiteln 4.2.3 und 4.2.

[16] Zur weiteren Übersicht findet sich im Anhang I die Tabelle über entwicklungsabhängige Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische und psychosomatische Symptome als Folgen von Kindesmisshandlung (vgl. AGKM 1992).

[17] Zur grafischen Übersicht findet sich in Anhang II ein Schaubild bezüglich der „Hilfen des Jugendamts je nach Gefährdungsgrad“ (vgl. Kunkel 2006, S.12).

Ende der Leseprobe aus 126 Seiten

Details

Titel
Die Pflegefamilie als sichere Basis für vernachlässigte und misshandelte Kinder. Kinderschutz und bindungstheoretische Aspekte
Hochschule
Hochschule Darmstadt  (Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
126
Katalognummer
V378809
ISBN (eBook)
9783668599802
ISBN (Buch)
9783956872129
Dateigröße
8570 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kindswohlgefährdung, Pflegefamilien, Bindungstheorie, Kindesmisshandlung, Bindungsdynamik, Jugendhilfe
Arbeit zitieren
Ann-Kathrin Klose (Autor:in), 2014, Die Pflegefamilie als sichere Basis für vernachlässigte und misshandelte Kinder. Kinderschutz und bindungstheoretische Aspekte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378809

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