Operationalisierung und Diskussion des Begriffs "Paradigmawechsel" nach Kuhn

Am Beispiel moderner Entwicklung aus der Zellbiologie


Bachelorarbeit, 2014

47 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Paradigmawechsel
2.1 Die wissenschaftliche Gemeinschaft und die Paradigmata
2.2 Paradigmata und die normale Wissenschaft
2.3 Vom Rätsel zur Anomalie
2.4 Der Übergang von einer Anomalie zur Krise
2.5 Von der Krise zur Revolution
2.6 Kriterien für einen Paradigmawechsel
2.6.1 Gewichtung I
2.6.2 Gewichtung II
2.6.3 Gewichtung III

3. Operationalisierung der Kriterien
3.1 Spurensuche
3.3 Zeitkontext

4. Konklusion

Literaturverzeichnis

„The man who takes historic fact seriously must suspect that science does not tend toward the ideal that our image of its cumulativness has suggested. Perhabs it is another sort of enterprise.“

Thomas S. Kuhn, „The Structure of Scientific Revolutions“, 2. Aufl. S. 96.

1. Einleitung

Paradigmawechsel ist nach Kuhns Auffassung in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ein eher schwer formulierter Begriff. Er definiert ihn mit dem Auftreten von großen Revolutionen, beispielsweise der Kopernikanischen Wende, Einsteins Relativitätstheorie oder Darwins Evolutionstheorie. Der Begriff „Paradigmawechsel“ ist in seiner ungenauen Art und Definition nur mühsam zu fassen, so dass seine Anwendung selten Gebrauch findet. Der Trend von großen Revolutionen geht mehr und mehr durch die digitale Vernetzung über zu kleineren Wechseln. So machen sich aktuelle Forscher, wie auch Prof. Dr. Dieter G. Weiss und Martin Lemke, die an einem Schwerpunktaufsatz zu dem Thema Zellbiologie und Mikroskopie: Neue Methoden erm ö glichen Wissenschaftstransformationen arbeiteten, sich Gedanken über den Begriff und seine Verwendung. Sie kamen zu folgendem Fazit:

„Wir können also durchaus von sprunghaften Veränderungen oder Transformationen sprechen, die von neuen Verfahren angestoßen wurden. Die meisten dieser Sprünge verlaufen aber auf niedrigerer Schwelle als ein echter Paradigmawechsel. Für die Transformation des Wissens in den Biowissenschaften bedarf es also einer wesentlich feineren Klassifikation für wissenschaftliche Transformationen. Die kontinuierlich arbeitende Normalwissenschaft und der Paradigmawechsel sind womöglich nur die Extremwerte im Bereich dessen, wie sich Veränderungen vollzieht.“1

Um den Begriff „Paradigmawechsel“ für kleinere Wechsel anwendbar zu machen, muss geprüft werden, wie tiefgreifend sich diese Transformationen vollziehen. In dieser Arbeit soll es genau darum gehen, Wechsel, wie die zahlreichen, in Abbildung 1 aufgeführten Mikroskopieverfahren, zu operationalisieren und sie auf den Begriff „Paradigmawechsel“ hin zu untersuchen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 12

Wann ein einzelner Übergange als Paradigmawechsel verstanden wird, hängt von der Anzahl der Erfüllung der Kriterien ab, die Kuhn in seinem Buch anführt. Mit Beobachtungen aus der Erfahrungswelt werden die Beispiele auf diese Kriterien überprüft. Dazu ist es notwendig, den Begriff „Paradigmawechsel“ klar zu fassen und auf die Wissenschaftsgeschichte anwendbar zu machen. Die Kriterien unterliegen Bedingungen, die sie erfüllen müssen, um der Definition von einem Paradigmawechsel gerecht zu werden. Der Ablauf der Prüfung dieser Kriterien, gestaltet sich als eine Art „Operationalisierungsverfahren“.

Die Arbeit soll einen Anreiz geben, Kuhns Begriff von einem „Paradigmawechsel“ nicht mehr nur als einen starren Begriff anzusehen, der ausschließlich für größere Revolutionen gedacht war, sondern ihn für gängige Wechsel in der Wissenschaft zu lockern und anwendbar zu machen. Er bekommt erstmals wieder Aufmerksamkeit von den Wissenschaften und darf auch für nicht-revolutionäre Wechsel genutzt werden.

Die Arbeit ist in zwei Kapitel eingeteilt. Das erste Kapitel beginnt mit einer kurzen Vorstellung der Person Kuhns und seinem Zugang zur Wissenschaft. Danach folgen untergeordnet die Schwerpunkte seiner „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“.

Beginnend in Abschnitt 2.1 mit der Rolle der Gemeinschaft, die unter der Herrschaft eines gemeinsamen Paradigmas arbeiten. In Abschnitt 2.2 soll ein Blick auf die zentralen Merkmale normaler Wissenschaft und die Stellung der Paradigmata geworfen werden. Weiter zu dem Abschnitt 2.3, der kurz die Verbindung zwischen Rätsel und Anomalien aufzeigt, gefolgt von 2.4, in dem sich die anomalen Phänomene als Probleme herausstellen und letztendlich zu einer Krise führen. Anschließend geht es in Abschnitt 2.5 darum, das die Krise in einer Revolution gipfelt und ein Paradigmawechsel die notwendige Konsequenz ist. Und zu guter Letzt folgt der Abschnitt 2.6, in der die umfangreiche Herausarbeitung von Kuhns Kriterien stattfindet. Die Kriterien werden aufgrund ihrer verschieden starken Ausprägung in drei unterschiedlich gewichtete Kategorien eingeteilt, die der Reihenfolge nach absteigend verlaufen.

Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Operationalisierungsverfahren. Es arbeitet mit den aufgestellten Kriterien aus Abschnitt 2.6 und sucht nach Beobachtungen aus der Erfahrungswelt, die diese erfüllen. Beobachtungen werden auch als Bedingungen angegeben, die nacheinander in Abschnitt 3.1 beschrieben werden. Jedes einzelne Kriterium wird einer oder mehreren Bedingung zugeordnet. Gilt ein Kriterium als erfüllt oder nicht, ist dies ein wesentlicher Aspekt, der zu dem Ergebnis in Abschnitt 3.2, der Indexbildung, beiträgt. Anschließend findet in dem nächsten Abschnitt 3.3 ein Blick auf den historischen Kontext, im Bezug auf die Definition des Begriffes „Paradigmawechsel“ und deren Beobachtung von dem Wechsel in der Vergangenheit, statt. Zum Schluss wird es ein Fazit über die Arbeit und deren Inhalte für die Wissenschaftstheorie geben.

2. Paradigmawechsel

Kuhn wandte sich mit seinem Essay „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, das er erstmalig 1962 veröffentlichte, der Geschichte der Wissenschaft zu. Sein Interesse, neben der Physik an der Wissenschaftstheorie zu arbeiten, bestand in dem Hinterfragen von theoretischen Rahmenbedingungen und der Natur der Wissenschaft. Kuhn hat es sich zur Aufgabe gemacht, die mangelnde Wahrscheinlichkeit und die Lücken, die in vielen Erörterungen über die Wissenschaft existierten, aufzudecken und zu lösen. Geprägt von seinem Vorgänger Koyre setzte er zahlreiche Schriften von Denkern, die mit ihrer herkömmlichen Sichtweise auf die Dinge der Wissenschaft nicht weiter kamen, fort. Für Kuhn ging seine wissenschaftstheoretische Vorstellung nicht mit der einer traditionellen Zugangsweise zur Wissenschaft, über den Induktivismus und den Falsifikationismus aus der historischen Geschichte, überein.3

Er wies stattdessen auf den revolutionären Charakter wissenschaftlichen Fortschritts hin. Für ihn sind Revolutionen immer mit der Beseitigung einer traditionellen Struktur verbunden, die zugunsten einer anderen, mit ihr nicht zu vereinbarenden, ersetzt wird. In seiner Wissenschaftstheorie spielt der Aspekt einer wissenschaftlichen Gemeinschaft und die Phase einer außerordentlichen Forschung eine zentrale Rolle. Will man sich eine Vorstellung davon machen, was Kuhn unter seinem wissenschaftlichen Fortschritt versteht, braucht man sich nur die Schrittfolge des aufgezeigten Schemas anschauen, die diesen Vorgang näher beschreibt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 4

Während Kuhn sich auf sein Vorhaben, eine neue Wissenschaftstheorie zu etablieren, stürzte, eröffnete W. V. O. Quine ihm mit seiner Sichtweise von der Unbestimmtheit der Übersetzung einen neuen Blick, der ihn in die Richtung der philosophischen Fragestellungen brachte. Bald knüpfte er an Quines Gedanken und L. Flecks Monographie „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ an und entwickelte eigene Gedankengänge zu den Themen.5 Obwohl vieler seiner Arbeiten von dem Einfluss der Philosophie geprägt wurden, schaffte es Kuhn jedoch nicht, auf dem von ihm geliebten Gebiet Fuß zu fassen.

2.1 Die wissenschaftliche Gemeinschaft und die Paradigmata

Für Kuhn stellte sich während seiner Arbeit an der „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ die Frage: Wie hängen Paradigmata und die wissenschaftliche Gemeinschaft zusammen?

Um in der Wissenschaft Fuß zu fassen und in seinem Gebiet ein hervorragender Meister zu werden, reicht es meist nicht aus, nur ein Experte auf seinem Gebiet zu sein und die besten Schulen besucht zu haben. Vielmehr kommt es darauf an, wie die Ausprägung des erworbenen Wissens auf die Fachgemeinschaft angewendet werden kann und welchen Einfluss dieses Wissen auf die schon bestehenden Wissenschaften einnimmt. Keiner der Forscher bestreitet dabei im Rahmen seiner wissenschaftlichen Laufbahn den Weg von einer normalen zu einer außerordentlichen Wissenschaft als Einzelkämpfer. Vielmehr tauschen sich Mitglieder eines gemeinsamen Faches untereinander aus, um ihre Kenntnis für den weiteren Forschungsverlauf zu erweitern und auszubauen. Kuhn nennt den Zusammenschluss mehrerer Fachleute, die sich auf ein und dasselbe wissenschaftliche Spezialgebiet konzentrieren und untereinander austauschen, eine wissenschaftliche Gemeinschaft [ scientific community ]. Dabei setzt er voraus, dass alle Individuen einer solchen Gemeinschaft, aufgrund derselben Ausbildung, ihrer beruflichen Initiation und der kollektiven Fachliteratur, sich auf Augenhöhe begegnen und ihre gemeinsamen Grundlagen auf der Basis normaler Wissenschaft anwenden.6

In einer wissenschaftlichen Gemeinschaft wissen die Mitglieder meist, worin ihr Anliegen zu Forschen besteht, mit welchen Grundlagen sie arbeiten und wie sie ihr Vorhaben bestreiten wollen. Sie wenden sich dabei in eine bestimmte fach- wissenschaftliche Richtung und forschen in einem, von ihnen ausgewählten und für sie am reichhaltigsten Wissensgebiet, am intensivsten. Die Hingabe der Fachleute zu einer bestimmten Wissenschaft, so Kuhn, kann aus verschiedensten Gründen geschehen. Ob es die Bestrebung ist, in einem neuen Forschungsgebiet einzusteigen und dort etwas zu erreichen oder der Drang, sein bestehendes Wissen zu prüfen und für Forschungsabläufe nützlich zu sein, beides kann als Antrieb, bei der Forschung in einem bestimmten Wissenschaftsbereich mitzuwirken, nützen.7 Dabei bestreitet die wissenschaftliche Gemeinschaft ihr Ziel als eine Art Einheit, die gemeinsam an der Weiterentwicklung eines Gebietes arbeitet und die es sich zur Aufgabe macht, den wissenschaftlichen Fortschritt in ihrem Unterfangen anzukurbeln. Es kann natürlich vorkommen, dass sich mehrere Schulen für ein und dasselbe Wissensgebiet entscheiden und dadurch in einem Wettstreit stehen.8 Überzeugende Argumente oder fundierte Forschungsergebnisse können weitere Anhänger an ein wissenschaftliches Vorhaben binden und zu einer Erweiterung der Wissenschaft beitragen.

In einer Gemeinschaft gibt es Definitionen, Annahmen, Arbeitstechniken, Vorgehensweisen und vieles mehr, die von allen Mitgliedern geteilt werden und die nicht hinterfragt werden können, ohne die Gemeinschaft zu hinterfragen. Sie bilden das Paradigma. Kuhns Ausdruck „Paradigma“ stammt ursprünglich aus den Philosophischen Untersuchungen L. Wittgensteins, der diesen erstmals als gemeinsames „Maß“, „Muster“ oder „Vorbild“ eines Sprachspiels verstand.9 Dieses Paradigma ist dann für eine gewisse Zeit eine allgemein anerkannte Leistung, die sich als erfolgreicher gegenüber konkurrierenden bei der Lösung von Problemen erweist.10 Es kann aber auch gleichzeitig ein neues Problem darstellen.11 Die Gemeinschaft von Spezialisten kommt bei der Wahl eines Paradigmas gemeinsam relativ einstimmig zu einem Fachurteil.12 Kuhn geht in seinem Postskriptum von 1969 auf den Begriff „Paradigma“ nochmal genauer ein. Einerseits versteht er ihn als Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden, bei denen die Mitglieder von Gemeinschaften diese Auffassung übereinstimmend teilen. Andererseits, so der Wissenschaftstheoretiker, fungiert sein Begriff „Paradigma“, wie bei Wittgenstein, als Beispiel oder Vorbild, bei dem die enthaltenen Regeln als Basis für die Lösung von zuvor bestehenden Problemen der normalen Wissenschaft dient.13

Im Gegensatz zu anderen Theorien enthält der Begriff „Theorie“ in seinem Umfang und seiner Art eher eine schwache Struktur. Deshalb gibt er ihm später den Ausdruck „disziplinäres System“. „Disziplinäres System“, weil sich für Kuhn die Implikationen in diesem als wesentlich überschaubarer darstellen lassen, als der bis dahin bestehende Ausdruck „Theorie“.14 Die auf das Paradigma bezogene Besonderheit liegt zum Ende seiner Beschreibung in der Umbenennung des Wortes „Paradigma“ in den Terminus „Musterbeispiele“ [ exemplar ]. Er fasst zusammen: „Je unterschiedlicher die verschiedenen Musterbeispiele sind, je größer ist die Feinstruktur der wissenschaftlichen Gemeinschaft“15.

Musterbeispiele, die Kuhn selbst aufzählt, sind die Analyse der Bewegung nach Aristoteles, die Berechnung der Planetenstellung nach Ptolemäus oder die Anwendung der Waage von Lavoisiers, die er in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolution“ beschreibt.16 Als Gegenpart könnte man auch aus der heutigen Wissenschaft zahlreiche Paradigmata nennen.

Ein Beispiel wäre der Activa PC+S Neurostimulator als Hirnschrittmacher aus der Medizintechnik. Er misst innere Gehirnströme und kann so, mit Unterstützung von elektronischen Gehirnsignalen, direkt auf neurologische Störungen eingehen.17 Von allen Neurowissenschaftlern wird die Annahme geteilt, dass Bewusstseinsprozesse auf elektrische Signale zwischen Zellen zurückzuführen sind. Ein weiteres Musterbeispiel ist die Videomikroskopie aus der Zellbiologie. Diese Technik ermöglicht es, an lebenden Zellen zu mikroskopieren. Die Entdeckung der intrazellulären Bewegungen durch das neue Verfahren, ermöglichte ein klareres und dynamisches Bild von den Zellstrukturen.18 Die Zellbiologen gehen davon aus, dass die Zelle ein hochdynamisches System ist.

Durch die zunehmende Forschung an Paradigmata erweitert sich das Spektrum der Wissenschaft. Die Zahl der Leistungen steigt und mit ihr die gelösten Probleme.

2.2 Paradigmata und die normale Wissenschaft

Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaften beschäftigen sich beim Lösen von Problemen mit Paradigmata und deren typischen Komponenten. Dabei beinhaltet ein Paradigma nicht nur Beispiele für konkrete wissenschaftliche Praxis, Gesetze sowie mindestens eine Theorie, sondern es ist auch Anwendung und Hilfsmittel zugleich. Es gilt als eine festgefügte Tradition und als Ausgangsbasis für die Weiterentwicklung an wissenschaftlicher Forschung.19 Für die Anwendung der Gesetze auf die Realität dienen dem Nutzer des Paradigmas die Instrumente und Techniken desselben als Verwendung.20

Man stelle sich vor, ein „Musterbeispiel“ sei eine Art Puzzleteil. Der Spieler, also der Wissenschaftler, beginnt mit einem Puzzleteil und versucht, durch Ausprobieren und Testen mit anderen Teilen, das schon existierende Puzzlestück mit Hilfe eines geeigneten Gegenstücks zu erweitern. Das Ziel des Spielers ist natürlich das Erreichen eines fertigen Bildes. Also strebt auch der Forscher bei seiner Arbeit mit dem Paradigma nach einem fertigen Bild. Oft haben Leute, die an einem Puzzle arbeiten, eine Vorstellung von ihrer Vorgehensweise und dem Ergebnis, das sie erzielen wollen. Ob ihr Ziel, das beabsichtigte Bild, erreicht wird und ob sie der Realität näher kommen, hängt dabei von der Kraft der Natur und der Welt in der sie leben ab.

Treffen sich Forscher zum Puzzlen, also Forschen, in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, gehen sie nach denselben Regeln vor, wie zwei Spieler, die dasselbe Puzzle lösen, wenn sie sich über die Art, wie das Puzzle zusammengesetzt wird, einig sind. Sie erkennen die bestehenden wissenschaftlichen Leistungen, die ihnen in Form von Büchern während ihrer Lehrphase mitgeteilt wurden, an und verwenden diese vorhandenen Grundlagen als Hilfestellung für ihre weitere Forschungsarbeit.21 Die Art der Forschung, die Wissenschaftler unter einem gemeinsamen Paradigma vereinigt und bei denen die Grundlagen zum Rätsellösen weitestgehend feststehen, nennt Kuhn die „normale Wissenschaft“ [ normal science ].22

Die Wahl der Entscheidung für eines der existierenden Paradigmata, könnte der Wissenschaftler nach zwei Kriterien treffen: Zum einen kommt er mit seinen bestehenden Regeln zu keiner Lösung und möchte unter einem neuen Regelsystem arbeiten, so wie der Puzzlespieler, der mit seinen Spielregeln zu keiner neuen Zusammensetzung des Puzzles kommt und dafür einen neuen Ansatz benötigt. Oder aber der Grund, dass zwei Puzzleteile nicht zusammenpassen, liegt in einer Anomalie (bei dem Puzzle ein Produktionsfehler, in der Wissenschaft ein Widerspruch zum herrschenden Paradigma) die einen neuen Denkansatz fordert.

Sollte es zu einem Zusammenschluss von Fachleuten zu einer Gruppe unter der Herrschaft eines bestimmten Paradigmas kommen, so sind sich die Mitglieder meist über ihre Annahmen und Perspektiven im fortdauernden Forschungsverlauf einig. Sie handeln gemeinsam unter den konkreten Regeln und Normen, die, wie Kuhn sagt, in einer wissenschaftlichen Praxis vonnöten sind.23 Das System gemeinsamer Regeln muss mit dem Paradigma übereinstimmen, jedoch nicht jedes Paradigma mit dem Regelkatalog.24

Die Übereinkunft unter einem gemeinsamen Paradigma „bestimmt den Standard für legitime Forschung innerhalb der betreffenden Wissenschaft“.25 Das Musterbeispiel gibt dabei stringente Konditionen für eine weitere Artikulation und Spezialisierung vor. Ein festumrissener Forschungskonsens stellt sich dann als sehr mühsam heraus.26 Paradigmata liefern zwar oft eine paradigmatische Theorie, können aber durchaus auch ohne Theorie bestehen. Hieraus ergibt sich, dass Theorien für Kuhn nicht die Hauptrolle spielen, sondern dass Paradigmata unabhängig von ihnen bestehen können. Wie beispielsweise in der Biologie, in der wenig Theorien bestehen, wohl aber Musterlösungen, Beispiele und Methoden existieren.

Worin der Kern unter demselben Paradigma zu forschen liegt, definiert Kuhn in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolution“ wie folgt:

Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung jener Verheißung[…], die durch Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma als besonders aufschlußreich dargestellten Fakten, durch Verbesserung des Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas sowie durch weitere Artikulierung des Paradigmas selbst herbeigeführt wird.27

Die Normalwissenschaften haben es sich nicht zur Aufgabe gemacht, neue Phänomene oder Theorien zu entdecken. Ihre Forschung zielt vielmehr auf die von Wissenschaftlern gewonnenen Ergebnisse, welche den Einfluss und die Genauigkeit der Anwendung des Paradigmas vergrößern.28 Bestehende Informationen, die Auskunft über das Paradigma geben, sind für das Arbeiten in einer normalen Wissenschaft von enormer Wichtigkeit. Die Annahme und die Verpflichtung [ commitment ] auf ein Paradigma sind darum ausschlaggebend für das normalwissenschaftliche Arbeiten, laut Kuhn.

Die Literatur der normalwissenschaftlichen Periode spielt, wie kurz zuvor erwähnt, eine entscheidende Rolle und wird nach Kuhn von drei theoretischen, als auch empirischen Problemen geprägt. Sie sind durch die Bestimmung bedeutsamer Tatsachen, die gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie sowie die Artikulierung der Theorie gekennzeichnet.29 Natürlich dürfen diese Fakten keinen Standard in der Wissenschaft darstellen. Auch wenn die normale Wissenschaft versucht, Neuheiten, wie Phänomene oder Begriffe, hinter sich zu lassen, schafft sie es doch nicht, ihre außerordentlichen Probleme auf Dauer zu verschleiern. Solche ganz speziellen Probleme, die sich nach und nach als Spezialfälle entpuppen, sind meist der Grund dafür, dass sich die normalwissenschaftliche Forschung in Richtung Weiterentwicklung bewegt und wir heute über so zahlreiche neuartige Wissensgebiete verfügen. Diese Art von außerordentlichen Problemen treten häufig auf, wenn der Forscher am wenigsten an sie denkt. Die normale Wissenschaft bereitet zwar das beachtenswerte Problem vor, sie führt es aber niemals als solches herbei.30

2.3 Vom Rätsel zur Anomalie

Während die normale Wissenschaft weiter an ihrer gängigen Traditionen festhält, kann es an Forschungsstellen zu ungeklärten Phänomenen kommen, die es dem Wissenschaftler schwer machen, an der bisherigen „normalen“ Forschung festzuhalten. Das Problem, oder die Probleme, die auftauchen, sind meist theoretischer und/oder experimenteller Natur.31 Diese Rätsel können sich innerhalb eines Paradigmas derart hartnäckig der Lösung widersetzen, dass sie das Paradigma in Frage stellen. Bei einem Puzzlespiel wäre das ein Teil, das sich mit den Regeln, mit denen Teile bisher verbunden wurde, nicht verknüpfbar ist.

Kommen wir kurz auf das Puzzlebeispiel zurück. Der Forscher (Spieler) befindet sich in dieser Phase im Bereich des Rätsellösens. Er beschreitet seinen Weg vom Ausgangspunkt, an dem er noch eine klare Vorstellung von seinem Vorhaben besaß, zur schrittweisen Erkenntnis über eine Beobachtungs- und Experimentierphase. Er versucht, mehrere, für ihn plausible und passende Puzzleteile an das Ursprungspuzzle anzuknüpfen, um so der Lösung des Problems näher zu kommen. Seine anfängliche Vorhersage kann sich im weiteren Forschungsverlauf dann aber als zweifelhaft herausstellen und das „Problem [kann] durch mehr charakterisiert sein als eine sichere Lösung“.32 Der Forscher muss, mit Hilfe verschiedenster instrumenteller, begrifflicher und mathematischer Rätsel, versuchen, die Lösung des Problems zu finden und dabei all seine Geschicklichkeit und sein Spürsinn auf sie anwenden,33 um sein zu erzielendes Bild zu erreichen.

Doch innerhalb der normalen Wissenschaft möchte man Probleme oft als metaphysische Gegenstände oder als Angelegenheiten einer anderen Disziplin abtun, statt das Paradigma aufzugeben. Rätsel können auch zu problematisch zum Lösen sein und sie werden nach gewisser Zeit von den Wissenschaftlern fallen gelassen, so Kuhn.34

2.4 Der Übergang von einer Anomalie zur Krise

Der Weg, um auf eine Anomalie zu reagieren, ist, die Regeln des Paradigmas zu lockern und die Puzzleteile auf neuartige Weise zu verknüpfen. Vor dem Auftreten einer Anomalie befindet sich das Puzzlespiel in einem kumulativen Verlauf. Da sie das Puzzle auf dem normalen Weg nicht fertig bekommen, gehen sie über in einen nicht kumulativen Verlauf. Die neuen Puzzleteile lassen sich mit Hilfe des alten Paradigmas nicht in das Puzzle einführen, die bestehenden Regeln nützen dabei nichts mehr. Nicht nur die Arbeit der Gemeinschaft kann ausschlaggebend für Krisen sein, sondern auch die Entwicklung der Instrumente kann die Sicht auf ein neues Bild der Realität hervorrufen.35 Die neue Theorie schafft es, nach und nach das gängige Paradigma zu zerstören und die Probleme und Verfahren der Normalwissenschaft in ein unsicheres Licht zu stellen.36

[...]


1 Weiss, Lemke: Schwerpunktaufs ä tze ZLWWG, S. 43 f. 2

2 Weiss, Lemke: Schwerpunktaufs ä tze ZLWWG, S. 43.

3 Vgl. Chalmers: Wege der Wissenschaft, S.89.

4 Vgl. Ebd. S. 90.

5 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 8.

6 Vgl. S.188.

7 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 51 f.

8 Vgl. S. 190.

9 Vgl. Kellerwessel: Wittgensteins Sprachphilosophie, S. 135.

10 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 37.

11 Vgl. Kuhn S.10.

12 Vgl. S. 193.

13 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 186.

14 Vgl. S. 194.

15 Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 198 ff.

16 Vgl. S. 37.

17 http://www.wuerzburgerleben.de/2013/12/17/neue-sensortechnik-berichtet-direkt-aus-dem-gehirn/, 17.12.2013.

18 https://t3-hro-phil.rz.uni-greifswald.de:8017/Technikgeschichte-der-Zellbiologie.291.0.html, 17.12.2013.

19 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 25.

20 Vgl. Chalmers: Wege der Wissenschaft, S. 91.

21 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 25.

22 Vgl. S. 10 f.

23 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 26.

24 Vgl. S. 57 f.

25 Chalmers: Wege der Wissenschaft, S. 90 f.

26 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 30.

27 Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 38.

28 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 50. 10

29 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 47.

30 Vgl. Ebd.

31 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 52. 11

32 Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 52.

33 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 50 f.

34 Vgl. Ebd.

35 Vgl. Ebd. S. 193.

36 Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftl. Revolutionen, S. 80. 12

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Operationalisierung und Diskussion des Begriffs "Paradigmawechsel" nach Kuhn
Untertitel
Am Beispiel moderner Entwicklung aus der Zellbiologie
Hochschule
Universität Rostock
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
47
Katalognummer
V377517
ISBN (eBook)
9783668549562
ISBN (Buch)
9783668549579
Dateigröße
1547 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Paradigmenwechsel, Kuhn, Begriff, Definition, Wissenschaft, Biologie, Zytologie
Arbeit zitieren
Maike Westphal (Autor:in), 2014, Operationalisierung und Diskussion des Begriffs "Paradigmawechsel" nach Kuhn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/377517

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