Kinder mit ADHS im Grundschulunterricht als Herausforderung für Lehrer

Eine empirische Studie


Masterarbeit, 2017

145 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen von ADHS
2.1 Begriffsdefinition
2.2 Krankheitsbild
2.3 Klassifikation
2.4 Ursachen
2.5 Diagnostik
2.6 Therapie

3 ADHS in der schulischen Praxis
3.1 Grundlegendes
3.2 Kernsymptome und Unterrichtsverhalten im Grundschulalter
3.3 Vorgehensweise der Lehrkräfte bei Verdacht auf ADHS
3.4 Schulische Intervention

4 Empirische Untersuchung
4.1 Formulierung der Fragestellung
4.2 Begründung der Methodenwahl
4.3 Beschreibung der Fallauswahl und Durchführung
4.4 Datenaufbereitung und -auswertung
4.5 Induktive Kategorienbildung
4.6 Darstellung der Ergebnisse
4.7 Interpretation der Ergebnisse
4.8 Zusammenfassung der Ergebnisse

5 ADHS eine Chance geben

6 Literaturverzeichnis

Anhang

Interviewleitfaden

Transkriptionen der Interviews

Auswertungstabellen

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Kriterien für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV 17

Abbildung 2: Entscheidungsbaum für die Diagnose ADHS 24

Abbildung 3: Für die Behandlung von ADHS in Deutschland zugelassene Präparate 29

Abbildung 4: Legende der Transkriptionsregeln 52

Abbildung 5: Auswertungsverfahren der qualitativen Inhaltsanalyse 53

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Symptom-Kriterien Der Hyperkinetischen Störung Nach Icd-10 Und Der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung Nach Dsm-Iv 13

Tabelle 2: Häufigkeit Und Art Der Begleiterscheinungen Von Adhs (Komorbide Störungen) 14

1 Einleitung

Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will? Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn, und die Mutter blickte Stumm auf dem ganzen Tische herum. Doch der Philipp hörte nicht auf, dass zu ihm der Vater spricht. Er gaukelt und schaukelt. Er trappelt und zappelt auf dem Stuhle hin und her. (Hoffmann, 1977, S. 26)

Im Jahr 1844 schrieb der Arzt Heinrich Hoffmann Die Geschichte vom Zappel-Philipp, die er in seinem berühmten Kinderbuch Der Struwwelpeter publizierte. Beschrieben wird ein kleiner Junge, der augenscheinlich nicht still am Tisch sitzen kann und schließlich durch sein ständiges Zappeln mit dem Stuhl und samt Tischdecke mit Essen zu Boden fällt. Mit dieser Geschichte beschreibt Hoffmann schon vor 173 Jahren ein typisches Verhaltensmuster eines Kindes mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Heute ist diese Thematik aktueller denn je. In Deutschland ist ADHS[1] die häufigste psychische Störung bei Kindern und auch Jugendlichen und wird als „die Schulkrankheit schlechthin" (Neuhaus, 2012, S. 28; Lauth & Knoop, 1998, S. 21) bezeichnet. Folglich ist auch das deutsche Schulwesen in potentielle Schwierigkeiten involviert. Denn Betroffene zeigen spezielle Verhaltensauffälligkeiten, die besonders in der Schule Leistungsprobleme hervorrufen können. Dieser Sachverhalt stellt nicht nur Eltern vor Probleme. Auch Lehrkräfte haben die Aufgabe mit den Besonderheiten dieser Kinder umzugehen und besonders im Hinblick auf die Inklusion einer heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden. (Vgl. Mackowiak & Schramm, 2016, S. 5f)

Als angehende Lehrerin erscheint mir die Thematik der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen von Schülern[2] speziell im Grundschulalltag sehr interessant. Im Hinblick darauf, dass ADHS die häufigste psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen ist, werde auch ich in meinem späteren Berufsleben mit diesen Kindern in Kontakt treten. Demnach ist es sinnvoll die speziellen Merkmale dieser psychischen Störung aufzuzeigen, um sie zu verstehen und besser mit ihnen umgehen zu können. Außerdem können mir diverse Erfahrungen anderer Lehrkräfte, die bereits im Umgang mit ADHS-Kindern vertraut sind, helfen, in Zukunft die richtigen pädagogischen Entscheidungen und ggf. Maßnahmen zu treffen. Denn besonders als Lehrkraft ist es mir wichtig, das Gleichgewicht zwischen den curricularen Vorgaben einerseits und den speziellen Bedürfnissen dieser Kinder andererseits halten zu können.

In dieser wissenschaftlichen Arbeit mit dem Thema „ Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen im Unterricht der Grundschule - Eine empirische Studie über die Herausforderungen für Lehrkräfte" soll die aktuelle Situation der Lehrkräfte im schulischen Alltag in Bezug auf das Arbeiten mit ADHS- Kindern dargestellt werden. Es gilt insbesondere die Frage zu klären, welche Erfahrungen Lehrkräfte bei der Diagnostik und Förderung von ADHS-Kindern haben und wie sich der alltägliche Umgang mit ihnen im Unterricht gestaltet. Dabei soll die Wirklichkeit durch individuelle Erfahrungen, Entscheidungen und Handlungen der Lehrkräfte dargestellt werden. Neben Aussagen zur Gestaltung des Unterrichts wird vor allem untersucht, wie Lehrkräfte das Unterrichten mit aufmerksamkeitsgestörten/ hyperaktiven Kindern beschreiben und welche Maßnahmen sie ergreifen, um das auffällige Verhalten der Kinder zu relativieren. Demnach wird die aktuelle schulische Situation, insbesondere Unterrichtssituation, anhand von realen Erlebnissen und Eindrücken der befragten Lehrkräfte beschrieben.

Da ADHS in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung zugeschrieben wird, ist auch zahlreiche Literatur über das Krankheitsbild der Störung zu finden. Außerdem gibt es Studien, die die Belastungsintensität der Eltern von ADHS-Kinder untersuchen. Es fehlen hingegen Verbindungen zur Institution Schule, die besonders die Wirklichkeit des schulischen Alltags aufzeigen und effektive pädagogische sowie didaktische Maßnahmen vorstellen, die Lehrkräfte bei der Arbeit mit diesen besonderen Kindern unterstützen können. Dies ist Anliegen dieser Arbeit und wird im Folgenden versucht darzustellen.

Dafür wird im weiteren Verlauf dieser wissenschaftlichen Arbeit zunächst ein Abriss der theoretischen Grundlagen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen folgen, der für das Verständnis dieser Thematik unerlässlich ist. Weiterhin wird ADHS in Abhängigkeit mit der schulischen Praxis näher beleuchtet, um eine Verbindung zum empirischen Teil der Arbeit zu schaffen. Das dann darauffolgende Kapitel der empirischen Untersuchung bildet den Hauptteil dieser wissenschaftlichen Arbeit und beinhaltet eine präzise Begründung der Methodik sowie eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse der Datenerhebung. Es handelt sich dabei um eine qualitative Studie, in der Lehrkräfte mithilfe von Experteninterviews zu ihren persönlichen Erfahrungen, Einstellungen und Handlungen bezüglich der Diagnostik, der Förderung sowie des Unterrichtens von ADHS-Kindern befragt werden. Schließlich erfolgt ein Fazit mit einem Ausblick, in dem, basierend auf den in der Untersuchung erzielten Ergebnissen, unterrichtspraktische Anregungen für die Planung und Gestaltung des Unterrichts für Lehrkräfte dargeboten werden.

2 Theoretische Grundlagen von ADHS

Im folgenden Kapitel werden zentrale Begrifflichkeiten erläutert sowie Aussagen über das Krankheitsbild einer ADHS, den Interventionsmöglichkeiten sowie zum diagnostischen Prozess getroffen, die zum Verständnis der Untersuchung beitragen.

2.1 Begriffsdefinition

ADHS ist eine Abkürzung der Begrifflichkeit Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung und ist auch unter dem Begriff hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens bekannt. Die Bezeichnung kommt ursprünglich aus dem amerikanischen Raum und steht dort für a ttention deficit hyperactivity disorder (ADHA). (Vgl. Steinhausen, 2000, S. 13) Zu dem gewöhnlichen ADHS gibt es außerdem eine Form der Aufmerksamkeitsstörung, bei der keine Ausprägung von Hyperaktivität erkennbar ist. Aus diesem Grund existieren zusätzlich die Abkürzungen AD(H)S, bei der das „H" für „Hyperaktivität" in Klammern gesetzt wird, und ADS, welche nur im Falle einer alleinigen Aufmerksamkeitsdefizitstörung genutzt wird. Aufgrund der vielfältigen Begriffsvarianten wird deutlich, dass eine eindeutige Definition kaum zu bestimmen ist. Da sich in Deutschland der Begriff ADHS in der wissenschaftlichen Forschung durchgesetzt hat, wird dieser auch im weiteren Verlauf dieser wissenschaftlichen Arbeit verwendet. (Vgl. Neuhaus, 2012, S. 28)

Nach Barkley (2005) handelt es sich bei ADHS in erster Linie um eine Entwicklungsstörung der Selbstbeherrschung, bei der Kinder eine Beeinträchtigung der Fähigkeit aufweisen, Ziele und Konsequenzen in ihrem Verhalten zu berücksichtigen (vgl. S. 43). Grosse & Skrodzki, die der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. angehören, definieren ADHS wie folgt:

ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu deutlicher Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Bezugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt. Diese Auffälligkeiten sollen länger als 6 Monate bestehen und beeinträchtigende Symptome von Hyperaktivität-Impulsivität und Unaufmerksamkeit sollen bereits vor dem Alter von 7 Jahren vorhanden gewesen sein. Die Symptome sollen nicht ausschließlich im Rahmen einer tief greifenden Entwicklungsstörung (z.B. Autismus-Spektrum) oder Psychose auftreten und nicht besser durch andere somatische oder psychiatrische Störungen erklärt werden können. (Grosse & Skrodzki, 2007, S. 1)

Dieser Definitionsversuch orientiert sich stark an den Symptomen der Betroffenen, die im folgenden Punkt genauer dargestellt werden.

2.2 Krankheitsbild

In der Literatur sind drei Leitsymptome der ADHS bei Kindern und Jugendlichen zu finden, die bereits schon sehr früh beobachtet werden können. Diese bilden zusammen die Trias

- Unaufmerksamkeit
- Impulsivität und
- Hyperaktivität

und definieren bei überdurchschnittlich starker Ausprägung das Störungsbild ADHS (vgl. Schramm, 2016, S. 13f). Kinder mit ADHS zeigen Beeinträchtigungen in exekutiven Funktionen sowie in der Selbstregulationsfähigkeit. Eine mangelnde kognitive Kontrolle kann demnach bei den Betroffenen beobachtet werden. Da sich diese Symptome direkt beobachten lassen, spricht man bei ADHS von einer externalisierenden Verhaltensstörung. (Vgl ebd., S. 18) Unter dem Begriff Symptom, welcher im Folgenden genutzt wird, wird entweder ein konkretes Verhalten oder eine Symptomklasse verstanden (vgl. Barkley, 2006, S. 77).

Das erste Grundmerkmal einer ADHS ist Unaufmerksamkeit, welches vor allem Konzentrationsschwierigkeiten bei Kindern auslöst. Sie sind sehr leicht abzulenken und können sich zudem nicht lange auf eine Aufgabe konzentrieren und führen diese oft nicht zu Ende. Außerdem zeigen Kinder ein fahriges und zerstreutes sowie zum Teil verträumtes Verhalten und wirken sehr schnell abwesend. Besonders in Situationen, die von anderen (z.B. Lehrkräfte) bestimmt werden, lässt sich dieses Störungsbild beobachten. (Vgl. Kovacs & Kaltenthaler, 2016, S. 12)

Bei der Impulsivität zeigen die Kinder ein unüberlegtes und sprunghaftes Handeln. Sie tun etwas, ohne sich über die Konsequenzen ihres Handelns Gedanken zu machen und denken generell nur oberflächlich und flüchtig über etwas nach. Ursache ist eine mangelnde Verhaltenshemmung und -regulation. Besonders ungeduldiges Warten, vorschnelle Antworten sowie ein permanentes Dazwischenreden gehören zu den Begleiterscheinungen der Impulsivität. (Vgl. Döpfner et al., 2011, S. 25f)

Bei der Symptomatik der Hyperaktivität wirken die Kinder motorisch sehr unruhig in ihrem Verhalten und zeigen einen ständig starken Bewegungsdrang. Sie sind zappelig und lassen sich auch nur schwer durch Aufforderungen und Ermahnungen beruhigen. Insgesamt fehlt es ihnen an innerer Ausgeglichenheit und sie zeigen zudem eine hohe Redefreudigkeit. (Vgl. Kovacs & Kaltenthaler, 2006, S. 12; Döpfner et al., 2011, S. 25ff)

In der folgenden Tabelle werden die beschrieben Symptom-Kriterien nach den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 (siehe Punkt 2.3) genauer beschrieben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Unaufmerksamkeit

1. Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten
2. Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrechtzuerhalten.
3. Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn ansprechen.
4. Führt häufig Anweisungen, anderer Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund von oppositionellem Verhalten oder Verständnisschwierigkeiten).
5. Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren.
6. Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben).
7. Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z.B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug).
8. Lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken.
9. Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.

Impulsivität

1. Platzt häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt wurde
2. Kann häufig nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist (bei Spielen oder in Gruppensituationen).
3. Unterbricht und stört andere häufig (platzt z.B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein).
4. Redet häufig übermäßig viel (ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren).

Hyperaktivität

1. Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum
2. Steht häufig in der Klasse oder in anderen Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.
3. Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben).
4. Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen.

Tabelle 1: Symptom-Kriterien der hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV (Döpfner et al., 2013, S. 1f)

Es ist wichtig zu beachten, dass eine ADHS nur vorliegt, wenn die beschriebenen Symptome über eine längere Zeitspanne, in einem überdurchschnittlich ausgeprägten Maße sowie in unterschiedlichen Lebensbereichen gezeigt werden. Zudem sollten sie bei den Kindern zu einer deutlichen Beeinträchtigung in der sozialen und schulischen Funktionsfähigkeit führen, denn alleinige Unaufmerksamkeit und Impulsivität sowie vereinzelte Hyperaktivität sind bei vielen Kindern zu beobachten, worin aber nicht direkt ein Krankheitswert besteht. (Vgl. Kahl, 2007, S. 4)

Durch die Beeinträchtigung der drei Leitsymptome kommt es bei betroffenen Kindern zudem zu Problemen in der familiären und institutionellen Umgebung (z.B. Schule). Daraus ergeben sich weitere sogenannte Sekundärprobleme. Nach Stump (2002) zählen dazu u.a. Wahrnehmungs- und Lernschwierigkeiten, Schwierigkeiten im sozialen Verhalten sowie Probleme mit dem Selbstwertgefühl (vgl. S. 15ff). Erstere beschreiben Kinder, die eine gestörte Wahrnehmungsqualität im visuellen und auditiven Bereich zeigen. Diesen Kindern fällt das Selektieren und Filtern unterschiedlicher Reize sehr schwer, wodurch der Prozess der Wahrnehmung nur verlangsamt oder fehlerhaft funktioniert. Aufgrund dessen kommt es zudem häufig zu Lernschwierigkeiten bei den betroffenen Kindern. (Vgl. ebd., S. 15) Das Sekundärproblem Schwierigkeiten im sozialen Verhalten charakterisiert Kinder, denen es schwer fällt, ihre Reaktionen auf Eltern, Lehrer und Mitschüler angemessen zu dosieren. Zudem können sie sich nur schwer an geltende Regeln, wie sie z.B. im Unterricht vorherrschen, halten, wodurch sie oft in eine soziale Außenseiterposition geraten. (Vgl. ebd., S. 19) Probleme mit dem Selbstwertgefühl entstehen vor allem dadurch, weil die Kinder sich selbst als „anders" wahrnehmen und schließlich auch erkennen, dass sie langsamer, unbeliebter und ungeschickter als ihre Mitschüler sind. Dieses Problem versuchen die Kinder dann oft durch überhebliches Verhalten auszugleichen. (Vgl. ebd., S. 20)

Es treten weiterhin komorbide Störungen gemeinsam mit ADHS auf. Komorbidität meint das häufige und zeitgleiche Auftreten von mindestens zwei Störungsbildern. Bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose ADHS weisen etwa 2/3 der Betroffenen mindestens eine weitere komorbide psychische Störung auf. (Vgl. Schramm, 2016, S. 24) Schramm (2016) fasst in der nachfolgenden Übersicht die Arten der Störungen sowie die Häufigkeitsangaben, die aus verschiedenen Studien zur Komorbidität bei ADHS im Kindes- und Jugendalter stammen, zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Häufigkeit und Art der Begleiterscheinungen von ADHS (komorbide Störungen) (vgl. Schramm, 2016, S. 24)

2.3 Klassifikation

Um ADHS diagnostisch einordnen zu können, existieren derzeit zwei Klassifikationssysteme. In Europa bekannt ist das Klassifikationsschema International Classification of diseases (Internationale Klassifikation der Krankheiten), kurz ICD-10, der World Health Organization (WHO). Demgegenüber steht das Amerikanische Klassifikationsschema Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen), kurz DSM-5, der American Psychiatric Association (APA). (Vgl. Schramm, 2016, S. 18)

Beide Klassifikationssysteme nutzen ähnliche Kriterien für die Charakteristik von ADHS, unterscheiden sich allerdings in ihren einzelnen Bezeichnungen sowie in der Verknüpfung der Kriterien (vgl. Döpfner et. al., 2000, S. 1). Nach der Klassifikation ICD-10 wird ADHS als Hyperkinetische Störung bezeichnet, während nach dem DSM-5 der Begriff Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verwendet wird. Letzterer hat sich international stärker durchgesetzt, auch weil die verhaltensorientierte Definition der Erkrankung hier mehr verdeutlicht wird, während bei dem Begriff Hyperkinetische Störung eine eher spezielle neurobiologische Bewegungsstörung enthalten ist. (Vgl. Steinhausen, 2009, S. 17) Im Folgenden werden die einzelnen Klassifikationssysteme näher erläutert.

2.3.1 ICD-

Laut der International Classification of Diseases (ICD-10) können die sogenannten hyperkinetischen Störungen durch folgende Merkmale beschrieben werden (Lang, 2003, S. 11):

1. Ein früher Beginn - vor dem Alter von sieben Jahren muss ein syndromspezifisches Verhalten vorliegen
2. Die Kombination von überaktivem, wenig modulierten Verhalten mit deutlicher Unaufmerksamkeit und Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen
3. Es muss eine situationsunabhängige und zeitstabile Verhaltenscharakteristik vorliegen, d. h. die Symptome sollen länger als sechs Monate und in mehr als einem Bereich (deutliches Leiden im sozialen, schulischen oder beruflichen Bereich) in Erscheinung treten
4. Die Intelligenz liegt > IQ 70
5. Auch im Erwachsenenalter wird eine hyperkinetische Störung diagnostiziert

Zudem nimmt die ICD-10 folgende Einteilung der hyperkinetischen Störungen vor (vgl. Schramm, 2016, S. 21):

- Einfache Aufmerksamkeits- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0), für die die Kriterien aus allen drei Symptombereichen Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität erfüllt sein müssen

- Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1), bei der neben den Genannten auch Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens gegeben sein müssen

Im Falle, dass beide Störungen zusammen auftreten, wird die Kombinationsdiagnose hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens gestellt. Laut dem ICD-10 muss die vorliegende Problematik bereits vor dem 6. Lebensjahr aufgetreten sein. (Vgl. Döpfner et al., 2000, S. 4)

2.3.2 DSM-5

Das DSM-5 arbeitet mit einer „Verhaltens-Symptomliste, in der die für die jeweiligen Kardinalsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität typischen Verhaltenssymptome aufgezählt sind" (Lang, 2003, S. 9). Im Vergleich zur ICD-10 nimmt die DSM-5 anhand dieser Liste eine Einteilung der Störung in drei Kategorien vor (vgl. Schramm, 2016, S. 21):

- Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität / Impulsivität (Mischtyp), in der alle drei Symptombereiche gegeben sein müssen

Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (vorwiegend unaufmerksamer Typ), für die lediglich die Kriterien aus dem Bereich Unaufmerksamkeit erfüllt sein müssen.

- Hyperaktivitäts-, Impulsivitätsstörung ohne Aufmerksamkeitsstörung (vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ), für die die Kriterien aus den Bereichen Hyperaktivität und Impulsivität erfüllt sein müssen

Demnach erlaubt das DSM-5 eine Trennung nach Subtypen der ADHS. Das beruht auf neueren empirischen Erkenntnissen. Zudem können nach der DSM-5, im Vergleich zur ICD-10, Mehrfachdiagnosen bzw. getrennte Diagnosen gestellt werden. In der Neuerscheinung des DSM-5 (vorher DSM-4), die 2015 veröffentlicht wurde, geht hervor, dass die Problematik vor dem 12. Lebensjahr aufgetreten sein muss. Im Vergleich zur ICD-10, die das 6. Lebensjahr angibt, vergibt das DSM-5 weniger konservativ die Diagnose ADHS. (Vgl. Schramm, 2016, S. 22; Döpfner et al., 2000. S. 4)

In der folgenden Abbildung werden die Klassifikationssysteme bildlich gegenübergestellt, um die prägnanten Unterschiede zu verdeutlichen. Es handelt sich bei dem DSM-4 um die ältere Erscheinung des Klassifikationssystems, welches aber keine signifikanten Unterschiede zum DSM-5 aufweist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Kriterien für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV (Döpfner et al., 2013, S. 3)

2.4 Ursachen

Obwohl die Forschungen über ADHS bereits sehr fortgeschritten sind, ist es der Wissenschaft bisher nicht gelungen, eine bzw. mehrere eindeutige Ursachen zweifelsfrei ausfindig zu machen. Sicher scheint nur zu sein, dass es viele Faktoren gibt, die zur Ausbildung dieser psychischen Störung beitragen. Es gibt demnach mittlerweile zahlreiche Forschungsergebnisse, Studien und Diskussionen unterschied-
licher Autoren, die sich mit den verschiedenen Ursachen auseinandergesetzt haben und sich uneinig gegenüberstehen. Dabei unterscheiden sich ihre Argumente grundlegend voneinander. Ein weit verbreiteter Ansatz ist das multifaktorielle Entstehungsmodell, welches besagt, dass genetische, neurobiologische und neuropsychologische, psychosoziale sowie ökologische Faktoren bei der Entstehung von ADHS zusammenwirken (vgl. Vernooij, 1992, S. 32). Dieses Modell besagt, dass die Krankheit bei mehr als der Hälfte der Betroffenen auf genetische und exogene[3] Ursachen zurückzuführen ist. Dabei werden die genetischen Ursachen, mit einem Anteil von mehr als 20%, als Hauptursache angesehen (Vgl. Lauth & Minsel, 2009, S. 27) Dennoch ist davon auszugehen, dass besonders bei Kindern die Sozialisation sowie das psychosoziale Umfeld große Auswirkungen auf das Verhalten haben, sodass auch diesem Blickwinkel besondere Achtung geschenkt werden sollte. Untersuchungen haben ergeben, dass insbesondere die Hirnfunktion bei Kindern mit ADHS Auffälligkeiten zeigen. Dabei arbeiten Hirnregionen, die stark unter dem Einfluss der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin stehen anders als es normal der Fall ist. (Vgl. Philipsen, 2015) Um genauer zu beschreiben, was sich im Gehirn der Betroffenen abspielt, welche Rolle das soziale und natürliche Umfeld spielt und welche Funktion die Gene dabei haben, wird im Folgenden näher erläutert. Dabei wird auf die unterschiedlichen Faktoren des multifaktoriellen Entstehungsmodells Bezug genommen.

2.4.1 Genetische Faktoren

Das ein gewichtiger Grund der ADHS bei der genetischen Veranlagung eines Betroffenen liegt, belegen unterschiedliche Studien, wie die Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien. Sie ergaben, dass enge Familienmitglieder, wie Geschwister oder Eltern, „ein etwa 3-5fach erhöhtes Risiko [haben] ebenfalls an ADHS zu erkranken" (Bundesärztekammer, 2005, S. 21). Zudem leiden biologische Eltern (18%) häufiger an ADHS als Adoptiveltern (3%) (vgl. ebd., S. 21). Auch bei eineiigen Zwillingen konnte im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen eine erhöhte Übereinstimmung der Erblichkeit von ADHS festgestellt werden (vgl. Gawrilow, 2009, S. 19). Lang (2003) beschreibt den Ansatz der genetischen Faktoren wie folgt:

Dieses lässt auf eine genetische Mitverursachung von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen schließen, auf eine so genannte genetische Disposition. Keinesfalls wird eine Störung genetisch direkt „vererbt", sondern biologische Dispositionen, die die Ausbildung einer Störung begünstigen. Molekulargenetische Ansätze spekulieren, ob nicht bestimmte Dopamin-Transportergene neurobiologische Grundlagen „schaffen", welche zur Symptomatik von ADHD führen können. (Lang, 2003, S. 20)

Demnach kann eine gewisse Neigung zu ADHS in den Genen liegen, wird jedoch nicht automatisch vererbt. Ob und wie stark diese psychische Störung auftritt, ist von noch weiteren Ursachen bzw. Umständen abhängig und wird in den weiteren Punkten erläutert.

2.4.2 Neurobiologische und neuropsychologische Faktoren

Verschiedene neurobiologische bzw. neuropsychologische Faktoren werden für die psychische Störung „ADHS" verantwortlich gemacht. Die Gehirne der Kinder können Veränderungen und Dysfunktionen aufweisen. Dabei sind die Betroffenen von einer Beeinträchtigung der neuronalen Netzwerke geprägt. (Vgl. Eitle, 2006, S. 18)

Verschiedene neuroanatomische Netzwerkstrukturen erscheinen als weniger leistungsfähig, vor allem in der Verbindung zwischen Thalamus und dem kortikal-striatalen Netzwerk sind Abweichungen feststellbar. Außerdem lässt sich durch verschiedene, neuartige bildgebende Verfahren zeigen, dass der Blutfluss im Bereich des frontalen Kortex und der Basalganglien unter Anforderung im Vergleich zu unauffälligen Kindern an diesen Stellen vermindert ist. (Lang. 2003, S. 19)

Insbesondere der Botenstoff Dopamin ist von der Störung betroffen. Dieser gewährleistet normalerweise den synaptischen bioelektrischen Impulsübergang zwischen Neuronen und ist im Fall von einer ADHS gehemmt. So können Impulse, wie Wahrnehmung, Stimmung und Wachheit nicht ausreichend kontrolliert werden. Da Dopamin besonders für die Kontrolle der Aktivität und der Aufmerksamkeitsleistung verantwortlich ist, sind Betroffene in diesen Bereichen stark eingeschränkt. (Vgl. Eitle, 2006, S. 18)

Aus neuropsychologischer Perspektive verfügen Kinder mit ADHS über eine eingeschränkte Selbstregulationsfähigkeit (vgl. Lang, 2003, S. 22). Eine Vielzahl von neuropsychologischen Befunden belegen eine Einschränkung der exekutiven Funktionen bei den Betroffenen. Insbesondere das Arbeitsgedächtnis, Reaktions-
hemmungen, Flexibilität im Verhalten und Denken sowie die Planung und Organisation sind darin enthalten. (Vgl. Döpfner et al., 2000, S.13)

Dieses Defizit wird vor allem in Situationen deutlich, wenn verlangt wird, eine Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben und längerfristige Belohnungen zu erreichen, d. h. detaillierter betrachtet ist nicht allein die Inhibitionskontrolle als vielmehr die Sensitivität für Belohnungen gestört. Das impulsiv-vorschnelle Verhalten stellt dementsprechend ein eher ungünstiges Suchen nach Belohnung dar und ist vor allem auf möglichst rasche Bedürfnisbefriedigung ausgelegt - einen Aufschub erleben aufmerksamkeitsgestörte Kinder so aversiv. Es können als Folge dessen keine adäquaten Verhaltensregulationssysteme, Selbstbelohnungssysteme und eine hinreichende Selbstkontrolle aufgebaut werden. (Lang, 2003, S. 22)

2.4.3 Psychosoziale Faktoren

Neben den genetischen und neurobiologischen sowie neuropsychologischen Faktoren werden besonders im pädagogischen Bereich psychosoziale Faktoren für ADHS verantwortlich gemacht. Hier wird ADHS insbesondere mit gesellschaftlichen und familiären Situationen in Verbindung gebracht. Demnach sollen die psychosozialen Faktoren das Ausmaß des Krankheitsbildes von ADHS mitbestimmen, indem sie die Symptomatik verstärken oder auch abschwächen. Beispielsweise wird ADHS durch eine unadäquate Interaktion des Kindes mit seinen Eltern bzw. Bezugspersonen negativ beeinflusst. (Vgl. Hanne-Behnke, 2008, S. 24) Andererseits können genetisch belastete Kinder in positiven pädagogischen bzw. sozialen Beziehungen ihre ADHS-Ausprägung in einem gewissen Maße kompensieren, indem sie durch Eltern und Lehrer bzw. Erzieher zielgerichtet gefördert werden (vgl. Schlack et al., 2007, S. 828). Lang (2003) beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen:

Aufmerksamkeitsgestörte Kinder zeigen weniger Verhaltensschwierigkeiten, wenn sie unter direkter Anleitung stehen und rasche, direkte Rückmeldungen über ihr Verhalten bekommen, im Umkehrschluss bedeutet ein Mangel dessen eine Manifestationsbegünstigung der Störung. Das ungünstige Verhalten der betroffenen Kinder wird von Bezugspersonen oftmals vor allem bestraft und im Gegenzug positiv gezeigtes Verhalten, erwünschte Verhaltensweisen eher selten belohnt und selten unterstützt. So besteht ein erhöhtes Risiko, dass sich negative Interaktionsmuster zwischen den Kindern mit ADHD und ihren Bezugspersonen etablieren []. (vgl. Lang, 2003, S.21)

Außerdem können „ungünstige familiäre Bedingungen" (Lang, 2003, S. 22), wie z.B. Depressionen oder Alkoholmissbrauch der Eltern, das Störungsbild von ADHS mit beeinflussen. Demnach prägt die Umgebung, in der ein von ADHS betroffenes Kind aufwächst, den Verlauf und die Intensität der Störung sowohl positiv als auch negativ (vgl. ebd.). Aufgrund dessen kann festgehalten werden, dass das elterliche Umfeld sowie Pädagogen und auch andere Kinder nicht direkt Auslöser dieser Störung sind, diese aber beeinflussen können.

2.4.4 Ökologische Faktoren

Die ökologischen Faktoren schließen unter anderem die psychosozialen Ursachen mit ein, da auch diese von der sozialen Umgebung gesteuert werden. Dennoch werden, wie in 2.4.3 beschrieben, auch weitere ökologische Faktoren als sekundärer Auslöser angesehen. So haben nach Vernooij (1992) die ökonomisch-kulturellen Bedingungen einen Einfluss auf den Verlauf einer ADHS. Zu den Ursachen, die sich negativ auf das Verhalten der Kinder auswirken, zählen z.B. ein niedriger Sozialstatus der Familie und beengte Wohnverhältnisse. (Vgl. ebd., S. 40). So wurde in der KiGGS Studie (2014) eruiert, dass Kinder, deren Eltern einem niedrigeren sozialen Status angehören, häufiger die Diagnose ADHS gestellt bekommen, als Kinder, deren Eltern einem höheren sozialen Status angehören (vgl. Schlack et al., 2014, S. 822).

Als weiterer äußerer Faktor können auch Allergien ein hyperaktives Verhalten bei Kindern hervorrufen. Rapp (1996) nennt unerkannte Allergien, z.B. auf Nahrungsmittel oder Pollen, die Auswirkungen auf psychische Störungen, wie ADHS, haben können (vgl. ebd., S. 173ff). Außerdem lösen Allergien auch Stresssituationen aus, worauf der Körper mit einer Cortisolproduktion reagiert. Dies beeinflusst u. a. die Stimmung eines Menschen. (Vgl. Brisch, 2015, S. 155) Laut dem heutigen Erkenntnisstand leiden allerdings nur 5% der Kinder mit einer Nahrungsmittelallergie an einer Hyperaktivitätsstörung (vgl. Flick, 1998, S: 57).

Zuletzt können außerdem prä- bzw. perinatale Faktoren auf die Ausprägung einer ADHS Einfluss nehmen. Dazu zählen vor allem Alkohol-, Nikotin- oder Drogenmissbrauch während der Schwangerschaft sowie Sauerstoffmangel während der Geburt. Vor allem Frühgeburten, mit einem Gewicht von unter 1500 g, entwickeln zu 60% eine ADHS. (Vgl. Ruf et al., 2015, S. 10)

Betrachtet man alle Faktoren zusammen, so lässt sich festhalten, dass sie in unterschiedlicher Kombination auftreten und so die Grundlage dieser psychischen Störung bilden.

2.5 Diagnostik

Bei der Diagnostik steht im Wesentlichen die Erfassung der klinischen Symptomatik sowie ihr Verlauf in unterschiedlichen Lebenssituationen im Vordergrund. Dabei werden unterschiedliche Informationsquellen betrachtet und genutzt. Somit setzt sich die Diagnose ADHS „wie ein Mosaik aus vielen verschiedenen Steinen zusammen, die genau zueinander passen müssen" (Ancker, 2008, S. 23). Da diese psychische Störung auf mehreren verschiedenen Ursachen beruht, ist auch die Diagnostik ein komplexes Gerüst. Äußert sich der Verdacht einer ADHS, werden in erster Linie zunächst Eltern bzw. Erziehungsberechtigte und Pädagogen des Kindes herangezogen, um eine klinische Exploration durchzuführen. (Vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 13) Es handelt sich hierbei um ein gezieltes Untersuchungsgespräch mit den Eltern (bzw. gesetzlichen Vertreter) und Pädagogen (Lehrer, Erzieher) des Kindes, bei dem Häufigkeit, Beständigkeit und Ausmaß der vorliegenden Symptome erfragt werden. Weiterhin werden hier familiäre Beziehungen sowie die schulischen Bedingungen geklärt, bevor es zusätzliche Verhaltensbeobachtungen geben wird. (Vgl. Döpfner et al., 2000, S. 39) Bei sogenannten Verhaltensbeobachtungen wird das Verhalten des betroffenen Kindes während verschiedener Untersuchungssituationen, wie Spiel oder Unterricht, begutachtet und beurteilt (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 20). „Die klinische Exploration dient zudem der Differenzialdiagnostik und sie ermöglicht auch die Erfassung verschiedener koexistierender Störungen []" (Bundesärztekammer, 2005, S.13). Dabei geht es insbesondere um die Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen, die der ADHS- Symptomatik sehr ähnlich sind. Da es sich bei der Diagnostik von ADHS um einen umfangreichen Prozess handelt, ist eine einzelne Untersuchung nicht ausreichend. Vielmehr wird eine multiaxiale Diagnostik empfohlen, bei der die psychische Störung auf sechs unterschiedlichen Achsen dargestellt wird (klinisch-psychiatrisches Syndrom, umschriebene Entwicklungsstörungen, Intelligenzniveau, körperliche Symptomatik, assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände und globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus). (Vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 13) Zudem darf eine solche Diagnostik ausschließlich von Experten, wie Ärzten und Psychologen, durchgeführt werden und bedarf einer klinischen Verlaufskontrolle, die die Wirksamkeit einer Intervention (siehe Punkt 2.6) nach einem gewissen Zeitraum anhand der Veränderungen der ADHS-Symptomatik überprüft (vgl. ebd., S. 20).

Für eine genaue Einteilung von ADHS dienen als Basis die Klassifikationssysteme ICD- 10 oder DSM-IV (vgl. Punkt 2.3). Auf Grundlage dieser, zeigt Döpfner et. al. (2000), in Anlehnung an die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Leitlinien zur klinisch-psychologischen Diagnostik auf (vgl. S. 39). Diese beinhalten:

- Exploration der Eltern/ der Pädagogen
- Exploration des Kindes mit hyperkinetischer Störung
- Standardisierte Fragebögen für Eltern/ Kind/ Pädagogen
- Testpsychologische Untersuchung
- Körperliche Untersuchung
- Verlaufskontrolle

Die Leitlinien zeigen die wesentlichen Bereiche der Diagnostik. Die Exploration sowie die Verlaufskontrolle bilden dabei die Diagnosestandards, welche in jedem Fall durchgeführt werden müssen. Andere Untersuchungen wie Fragebögen und psychologische sowie körperliche Tests können zudem genutzt werden, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Dies liegt im Ermessen des Arztes oder Psychologen. (Vgl. Döpfner et al., 2000, S. 39f) Fragebögen zur Fremd- und Eigenbeobachtungsbeurteilung werden zusätzlich zur Exploration eingesetzt, „die u. a auch das Lehrerurteil auf differenzierte Art und Weise mit einbeziehen. Hierbei geht es meistens um eine exakte Problemanalyse von bestimmten kritischen Situationen und Verhaltensweisen" (Lang, 2003, S. 26f). Mit testpsychologischen und körperlichen Untersuchungen können genauere Rückschlüsse auf die Störungsschwerpunkte der Betroffenen gezogen werden, sodass „nicht nur für die therapeutische Arbeit, sondern auch für den schulischen Alltag wichtige Ansatzpunkte gefunden werden [können], um den aufmerksamkeitsgestörten Schüler adäquat zu fördern" (Lang, 2003, S. 27).

Weiterhin ist anzumerken, dass für die Diagnose ADHS folgende Kriterien zutreffen sollten, um Fehldiagnosen auszuschließen (vgl. Portmann, 2003, S. 27ff):

- die Symptome sind bereits vor dem 6. Lebensjahr aufgetreten (nach dem DSM-5 vor dem 12. Lebensjahr)
- die Symptome sind bereits über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vorhanden
- die Symptome treten in mindestens 2 verschiedenen Lebenssituationen auf

In der nachfolgenden Abbildung ist ein Entscheidungsbaum dargestellt, welcher für die Diagnostik von ADHS genutzt wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Entscheidungsbaum für die Diagnose ADHS (Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V., 2009, S. 18)

2.6 Therapie

Eine immer häufiger gestellte Diagnose ADHS führt dazu, adäquate therapeutische Maßnahmen zu finden. Wurde die Störung ADHS von einem Fachmann zweifelsfrei nachgewiesen, können infolgedessen unterschiedliche Therapieformen Anwendung finden. Diese können in verschiedenen Ansätzen und in Kombination erfolgen, sollten aber immer auf den Einzelfall abgestimmt sein. (Vgl. Portmann, 2003, S. 35ff) Dennoch kann auch die beste Therapie ADHS nicht gänzlich heilen. Es ist hingegen möglich, die Symptome der Betroffenen zu lindern. Neuhaus beschreibt das Ziel einer Therapie folgendermaßen: „Therapieziel, mit welchen Ansätzen auch immer, kann nur sein, das Kind kompetent zu machen im Umgang mit sich selbst und die erziehende Umgebung kompetent zu machen im Umgang mit dem Kind" (Neuhaus, 1996, Seite 86). Demnach soll das Kind in erster Linie zur Selbstständigkeit erzogen und handlungsfähig gemacht werden, um in der Gesellschaft bestehen zu können. Außerdem ist es bei einer Therapie wichtig, auch das soziale Umfeld, wie Eltern und Pädagogen, im richtigen Umgang mit den Betroffenen zu schulen. So sollen vor allem die Sekundärprobleme der Kinder (siehe 2.2) verringert werden. (Vgl. ebd.) Nach der Bundesärztekammer (2005) sind die Psychoedukation, die Psychotherapie sowie die medikamentöse Behandlung als wesentliche Elemente einer Therapie anzusehen. Zudem wird auf eine notwendige multimodale Intervention hingewiesen. Dabei werden weitere Behandlungsmaßnamen parallel zur ADHS-Therapie eingesetzt, da oftmals komorbide Störungen vorliegen, die zeitgleich behandelt werden müssen. (Vgl. ebd., S. 25) Weitere Therapiemöglichkeiten sind u.a. Verhaltenstherapie, Logopädie, Ergotherapie, Spieltherapie, Psychomotorik oder Familientherapie.

Im Folgenden werden die wesentlichen Therapiemöglichkeiten nach Angaben der Bundesärztekammer (2005) näher erläutert.

2.6.1 Psychoedukation

Bei der Psychoedukation handelt es um eine Aufklärung über die typischen Verhaltensmerkmale, Schwierigkeiten und Ursachen von ADHS, die sich gezielt an das Kind selbst sowie an seine Eltern (bzw. Erziehungsberechtigte), Geschwister und Lehrer/Erzieher richtet. Im Vordergrund steht das Verständnis dafür, dass ADHS als eine Handlungsbeeinträchtigung angesehen wird (vgl. Lang, 2003, S. 28). Diese Art der Therapie ist eingebunden in die psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen und setzt eine erzieherische sowie behandlungsorganisatorische Kooperation aller Beteiligten voraus (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 25). Die Psychoedukation ist somit als Beratung anzusehen, in der alle Fragen und Sorgen des Kindes sowie des sozialen Umfeldes geklärt werden können. Sie umfasst ein Elterntraining und die Analyse der vorherrschenden Familiensituation und kann zudem ein Lehrertraining beinhalten, „um eine generalisierende Wirkung der Therapie zu erlangen" (Lang, 2003, S. 28). Somit wirkt die Psychoedukation als eine Art Kompetenzerweiterung im Umgang mit ADHS. (Vgl. Matthäus & Stein, 2016, S. 33)

2.6.2 Psychotherapie

Die psychotherapeutischen Ansätze basieren hauptsächlich auf verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, die genutzt werden, um Verhaltensstörungen zu verringern. Diese bauen auf der Psychoedukation auf und können umfeld- oder kindzentriert erfolgen (vgl. Döpfner et al., 2007, S. 35). Sie lassen sich danach unterscheiden, „wer im Mittelpunkt der Intervention steht" (Döpfner et al, 2013, S. 23). Besonders hilfreich sind direkte verhaltenstherapeutische Interventionen mit dem Kind und mit der Schule sowie ein gezieltes Eltern-Training (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 26). Schulische Intervention ist verbunden mit einem Lehrertraining, „welches dem Lehrer psychologisches, pädagogisch-didaktisches Wissen vermittelt, wie Schüler mit ADHD[4] am besten vom Unterricht profitieren können" (Lang, 2003, S. 28). Bei einer Therapie mit dem Kind selbst werden durch speziell kognitive Techniken vor allem Selbststeuerungsfertigkeiten und Planungsfertigkeiten vermittelt (vgl. ebd.). Durch Selbststeuerungsfertigkeiten, die als Instrument das Selbstinstruktionstraining nutzen, sollen Kinder mit ADHS lernen, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren bzw. zu steuern. Bei den Planungsfertigkeiten, die das sogenannte Selbstmanagement-Verfahren verwenden, sollen Kinder vor allem durch Einhalten bestimmter Regeln und Normen lernen, sich selbst als positiv zu betrachten und sich zu belohnen. (Vgl. Döpfner et al., 2007, S. 38f)

Außerdem werden operante Therapieverfahren angewandt, die das Ziel haben, nicht vorhandenes Verhalten der Kinder zu entwickeln und die Häufigkeit dessen zu erhöhen bzw. zu stabilisieren. Das Kind verhält sich demnach in einer bestimmten Weise, um eine positive Reaktion zu erreichen oder um negative Konsequenzen zu vermeiden. Hierfür gibt es verschiedene Verstärker-Techniken, wie die Time-Out-Technik und die Response-Cost-Technik, die besonders in der Institution Schule genutzt werden. Verstärker die zu positiven Konsequenzen führen, werden „positive Verstärker" genannt, die die zu negativen Konsequenzen führen „negative Verstärker". Bei der Time-Out- Technik wird dem Kind nach einem unerwünschten Verhalten ein möglicher positiver Verstärker, wie Zuwendung, Lob, Anerkennung, entzogen. Aufgrund dessen wird es für kurze Zeit aus dem aktuellen Umfeld herausgenommen und in eine reizarme Umgebung gebracht. Das Response-Cost-System ist ein Belohnungssystem, bei dem dem Kind ein vereinbarter positiver Verstärker (z.B. Aufkleber) nach einem unerwünschten Verhalten entzogen wird. Bei einer negativen Verstärkung hingegen erfolgt die Verstärkung durch das Wegfallen von negativen Konsequenzen. Diese Methoden stellen nur eine Auswahl der Verfahren da, die am häufigsten Anwendung finden. Sie werden nicht als Bestrafung angesehen, sondern dienen eher der Besinnung bezüglich eines bestimmten Fehlverhaltens. (Vgl. Döpfner et al., 2007, S. 42ff)

Dennoch ist die positive Wirksamkeit einer solch verhaltenstherapeutischen Intervention auf die Kernsymptome von ADHS nicht nachweisbar. Es kann aber von einer positiven Entwicklung der sozialen Fertigkeiten ausgegangen werden. (Vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 26)

2.6.3 Medikamentöse Behandlung

Eine Indikation für eine medikamentöse Behandlung liegt vor, wenn „mit [] allgemeinen symptomatischen Maßnahmen nach einigen Monaten keine befriedigende Besserung erkennbar ist und eine deutliche Beeinträchtigung im Leistungs- und psychosozialen Bereich mit Leidensdruck bei Kindern/ Jugendlichen und Eltern und Gefahr für die weitere Entwicklung des Kindes bestehen [...]" (Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V., 2009, S. 9). Um ADHS medikamentös zu behandeln kommen vorrangig Präparate aus der Gruppe der Psychostimulanzien, wie Methylphenidate und Amphetamine, sowie Präparate aus der Gruppe der Nicht-Stimulanzien, wie Atomoxetin, zum Einsatz. Die größte nachweisliche Wirksamkeit in der Behandlung von ADHS haben die Wirkstoffe Methylphenidat, am bekanntesten unter dem Handelsnamen Ritalin®, sowie Atomoxetin, bekannt unter Strattera®, welches besonders in den USA und England bekannt ist. (Vgl. Döpfner et al., 2007, S. 35) Psychostimulanz Methylphenidat ist eine „zentralnervös anregend wirkende Stimulanz [und] führt bei über 70 Prozent der therapierten Kinder zu einer raschen und sicheren Verbesserung des Aufmerksamkeitsverhaltens und der Selbststeuerung des Kindes" (Lang, 2003, S. 27). Dieser Wirkstoff ähnelt dem körpereigenen Neurotransmitter Dopamin, da er als Kern Phenylethylamin enthält (vgl. ebd.). Methylphenidat wirkt im zentralen Nervensystem und verhindert dort die Wiederaufnahme des Transmitters Dopamin am synaptischen Spalt „durch eine Blockade der Dopamintransporter [...]" (Krause & Krause, 2009, S. 182). Außerdem fungiert Methylphenidat als indirekter Noradrenalin-Agonist (vgl. ebd.) Durch Bindung von Methylphenidat an die Wiederaufnahme-Transportproteine von Dopamin kommt es zu einer Steigerung der Aufmerksamkeit, Konzentration und Wahrnehmung. Somit beeinflusst Methylphenidat das dopaminerge System des Betroffenen und erhöht die Konzentration von Dopamin im zentralen Nervensystem. Nach Einnahme des Medikaments tritt nach ca. 30 Minuten die Wirkung ein, die ungefähr 4 Stunden anhält. Die tägliche Dosis von Methylphenidat für Schulkinder liegt in der Regel zwischen 0,3 bis 1 mg/kg Körpergewicht pro Tag, verteilt auf 1-3 Einzeldosen. (Vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 27) Dieses Präparat ist das verbreitetste und ein Medikament erster Wahl (vgl. ebd., S. 31). Medikament zweiter Wahl sind Präparate wie Amphetamin und Atomoxetin (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 31). Amphetamine wirken ähnlich wie Methylphenidate, da sie ebenfalls einen Phenylethylamin-Kern besitzen. Sie haben eine präsynaptische Wirkung und setzen Dopamin, Noradrenalin sowie Serotonin frei. (Vgl. Krause & Krause, 2009, S. 182; Döpfner et. al. 2007, S. 37)

Atomoxetin gehört zu den Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmern und ist im Vergleich zu Methylphenidat und Amphetamin keine Stimulanz. Somit beeinflusst Atomoxetin das noradrenerge System und erhöht die Konzentration von Noradrenalin im synaptischen Spalt. Es sorgt dafür, dass das Noradrenalin nicht wieder aufgenommen und abgebaut wird und bewirkt somit eine Anreicherung des Noradrenalins. Nach Einnahme von Atomoxetin konnte „eine über den Tag anhaltende signifikante Reduzierung sowohl der Kernsymptome der ADHS als auch eine Verbesserung von Depressivität und Maßen der psychosozialen Lebensqualität nachgewiesen werden" (Bundesärztekammer, 2005, S. 31). Atomoxetin hat den Vorteil einer 24-Stunden-Wirkung und kann sowohl bei Tic-Störungen und Schlafstörungen als auch Angststörungen, Depressionen und Autismus verwendet werden. Als Nachteil kann eine geringe Effektstärke sowie eine lang beurteilbare Wirkung, die erst nach 4-6 Wochen eintritt, genannt werden. (Vgl. Matthäus & Stein, 2016, S. 52) Der Wirkstoff Atomoxetin wird meist dann eingesetzt, wenn durch den Wirkstoff Methylphenidat keine Wirkung erzielt werden konnte bzw. wenn Nebenwirkungen aufgetreten sind.

Als allgemeine Nebenwirkung der genannten Medikamente können Husten, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Appetitverlust, Übelkeit, Müdigkeit oder Schlaflosigkeit verzeichnet werden. (Vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 32ff)

Die nachfolgende Übersicht fasst die in Deutschland zugelassenen Präparate für eine medikamentöse Behandlung von ADHS nochmals zusammen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Für die Behandlung von ADHS in Deutschland zugelassene Präparate (Gebhardt, 2015, S. 43)

3 ADHS in der schulischen Praxis

Im folgenden Kapitel wird ADHS im Kontext Schule betrachtet. Dazu werden zunächst grundlegende Bedingungen geklärt, bevor die auftretenden Kernsymptome einer ADHS in Unterrichtsituationen verdeutlicht werden. Weiterhin wird aufgezeigt, wie Lehrkräfte bei dem Verdacht einer ADHS handeln sollten und was die schulische Intervention für Möglichkeiten bietet.

3.1 Grundlegendes

Wie schon in der Einleitung erwähnt, ist ADHS heutzutage die am häufigsten diagnostizierte Verhaltensstörung bei Kindern und Jugendlichen. Die KiGGS Study Group ermittelte im Jahr 2014 in ihrer Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eine Prävalenz von 5-7 %. Jungen sind dabei bis zu 4 mal häufiger betroffen als Mädchen. Dies ergibt durchschnittlich ein Kind in jeder Klasse mit einer diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung. (Vgl. KiGGS Study Group et al., 2014) Hinzu kommt, dass sich ADHS vor allem im schulischen Kontext zeigt und die Betroffenen häufig Schwierigkeiten beim Lernen und im Sozialverhalten haben (vgl. Mackowiak & Schramm, 2016, S. 5). Damit einher gehen auch allgemein schlechtere schulische Leistungen, im Vergleich zu durchschnittlichen Schülern. 80% der 11-jährigen Kinder haben einen Leistungsrückstand von 2 Jahren im Lesen, Rechnen sowie in der Schriftsprache. Dadurch müssen bis zu 50% der Schüler mindestens ein Schuljahr wiederholen. Viele werden sogar der Schule verwiesen. (Vgl. Barkley, 1994, S. 11ff)

Im Hinblick auf die Inklusion in Deutschland ist es auch in Niedersachsen so, dass jeder Schüler mit jeder Art von Beeinträchtigung eine Regelschule besuchen kann. So lernen Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam und haben die gleichen Chancen auf Bildung, ungeachtet ihrer Stärken und Schwächen. Für Lehrkräfte gilt es daher, „eine heterogene Schülerschaft kompetent zu unterrichten und jedem/jeder Schüler/in gerecht zu werden" (Machowiak & Schramm, 2016, S. 5). Dennoch können und sollen Kinder mit ADHS in der Schule nicht behandelt werden wie andere Schüler. Dies stellt Lehrkräfte oft vor große Herausforderungen. Es besteht hier die Möglichkeit für Kinder mit besonderen Lernerschwernissen, nachgewiesenen gesundheitlichen Schwierigkeiten und erheblichen Verhaltensauffälligkeiten einen Zusatzbedarf zu beantragen. Die Voraussetzung dafür ist ein genehmigtes Förderkonzept. So kann ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung beantragt werden. Dieser kann Lehrkräfte im Unterricht entlasten und die Schüler individueller fördern und fordern. Eine weitere Möglichkeit Kinder mit ADHS in der Schule zu unterstützen ist der Nachteilsausgleich. Dieser verhindert, dass den Kindern aufgrund ihrer Beeinträchtigung keine Nachteile obliegen. Ein solcher Nachteilsausgleich kann folgende Sonderregelungen umfassen: (Vgl. Niedersächsischer Bildungsserver)

- verlängerte Arbeitszeiten bei Klassenarbeiten
- Bereitstellen/ Zulassen spezieller Arbeitsmittel
- mündliche statt schriftlicher Prüfung
- unterrichtsorganisatorische Veränderungen

Auf einen Nachteilsausgleich beseht gesetzlicher Anspruch. Dieser muss unter Vorlage eines Nachweises über die Beeinträchtigung ADHS an den Schulleiter gerichtet werden.

3.2 Kernsymptome und Unterrichtsverhalten im Grundschulalter

Mit dem Schuleintritt kommen meist die Symptome der von ADHS betroffenen Kinder zum Vorschein bzw. sie verschlimmern sich stark. Die Kinder sind den Anforderungen an Konzentration und Ausdauer nicht gewachsen und erfahren durch unterschiedliche Reize im Klassenzimmer eine Überstimulierung im Gehirn, was zu einer vermehrten Unruhe und Aktivität führen kann. Die Konsequenz sind Unkonzentriertheit und motorische Unruhe, die sich auf das Unterrichtsverhalten auswirken. Die Kinder stehen im Unterricht unerlaubt auf, reden dazwischen und haben durch ihre impulsive Art oft Konflikte mit Mitschülern. (Vgl. Ayres, 1998, S. 16) Schülern mit Aufmerksamkeitsdefiziten bereitet die Informationsaufnahme und
-verarbeitung große Schwierigkeiten, „da sie über basale Fähigkeiten der Aufmerksamkeitsherstellung- und Aufrechterhaltung nicht kontrolliert verfügen können" (Lang, 2003, S. 31). Aufmerksamkeitsgestörte Kinder wirken unorganisiert, faul und verträumt. Sie nehmen alle äußerlichen Störreize auf und reagieren darauf, wodurch sie ihre momentan zu erfüllende Arbeit nicht weiter ausführen und abbrechen. Der Unterricht fordert ihnen ein hohes Maß an Selbstorganisation, Konzentration und Ausdauer ab, welches sie nicht erfüllen können. (Vgl. ebd., S. 32)

Das ADHS-Kernsymptom Impulsivität verursacht bei Schülern u.a. ein vorschnelles Antworten, sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Bereich. Sie können sich nicht zurückhalten und reden ständig dazwischen oder stören anderweitig den Unterricht. In schriftlichen Aufgaben fallen sie durch vorschnelles und unüberlegtes Arbeiten auf, indem sie eine Aufgabe beginnen, wieder abbrechen, um sie dann doch wieder zu beginnen. (Vgl. ebd.) „Die mangelnde Impulskontrolle kann sich auch im sprachlichen Bereich auswirken, die Kinder sprechen oft zu laut, übermäßig viel und „verhaspeln" sich häufig beim Reden" (Lang, 2003, S. 32). Allgemein können Ungeduld und Unzufriedenheit zu impulsiven Wutausbrüchen führen, die nicht selten zu Konfliktsituationen mit Mitschülern führen oder auch ein In-Sich-Zurückziehen provozieren (vgl. ebd.).

Durch die Hyperaktivität beschäftigen sich die Kinder im Unterricht meist mit anderen Dingen als vorgesehen und können sich nur schwer an soziale Regeln halten. Lang (2003) beschreibt die Situation folgendermaßen:

Ständig scheinen die Schüler in Bewegung, selbst im Sitzen können sie eine große Unruhe produzieren: sie rutschen auf dem Stuhl hin und her, spielen mit Stiften auf dem Tisch oder „fuchteln" mit ihren Armen und „kippeln" mit ihrem Stuhl. (Lang, 2003, S. 32f)

Auch die Handschrift der Kinder leidet unter der Hyperaktivität, da sie in ihrer Feinmotorik weniger gut ausgebildet sind. So bleiben Zeilen unbeachtet und ein fließender Schreibverlauf kann nicht stattfinden. Allgemein kann die Motorik als unkoordiniert beschrieben werden. (Vgl. ebd., S. 33)

Durch die aufgeführten Kernsymptome einer Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung sowie deren Folgen für den Unterricht wird deutlich, dass sowohl die ADHS-Betroffenen, als auch die Lehrkräfte und Mitschüler, im schulischen Alltag vor große Problemsituationen gestellt werden, die sie versuchen müssen zu bewältigen.

3.3 Vorgehensweise der Lehrkräfte bei Verdacht auf ADHS

Lehrkräfte müssen sich der Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung bewusst sein, um einen Verdacht äußern zu können. Sind bei einem Kind die Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität im besonders auffälligen Maße festzustellen, ist der Lehrer zu einem angemessenen Handeln verpflichtet. Um den Anfangsverdacht zu stützen, ist eine differenzierte Verhaltensbeobachtung des betroffenen Kindes nötig, da so eine genaue Entwicklung des Verhaltensprozesses aufgezeichnet werden kann. Bevor die Eltern des betroffenen Kindes über den Verdacht informiert werden, ist vorab ein Austausch mit Lehrerkollegen wichtig, die einen solchen Verdacht bestätigen oder ablehnen. Im nächsten Schritt können Elterngespräche in die Wege geleitet werden, um Informationen über das Verhalten des Kindes zu Hause bzw. im Alltag zu gewinnen. Äußern auch die Eltern der betroffenen Kinder einen Verdacht sind ärztliche bzw. psychologische Untersuchungen notwendig. (Vgl. Imhof et al., 2011, S. 16) Imhof (2011) verdeutlicht die Rolle der Lehrkraft in solch einer Situation wiefolgt: „Wichtig ist, dass sich Lehrkräfte nicht zu einer Diagnose hinreißen lassen, sondern bei einer Beschreibung der beobachteten Einzelheiten bleiben. Eine Diagnose erfordert stets eine umfassende ärztliche Untersuchung, sie ist nicht Aufgabe der Schule" (Imhof et al., 2011, S. 16). Kommt es zu einer fachmännischen Untersuchung, werden die von der Lehrkraft dokumentierten Verhaltensbeobachtungen herangezogen. Außerdem kann es vorkommen, dass die Lehrkraft zusätzliche Gespräche mit den Ärzten führt bzw. weitere Einschätzungs- und Fragebögen auszufüllen hat. (Vgl. ebd.) Eine Lehrkraft ist somit eine Art Experte, wenn es um das Verhalten eines Kindes geht.

3.4 Schulische Intervention

Schulische Interventionen sind Maßnahmen, die im Rahmen des schulischen Alltags und vor allem im Unterricht genutzt werden, um die ADHS-Symptomatik bei den betroffenen Kindern zu vermindern. Insbesondere ein angemessenes „Lehrerhandeln und das Gestalten von Unterricht beeinflusst die Schulleistung von aufmerksamkeitsgestörten Schülern maßgeblich" in die positive Richtung (Lang, 2003, S. 67). Um den Verhaltensauffälligkeiten und speziellen Schwierigkeiten der Kinder entgegenzuwirken, können psychologische, pädagogische und didaktischen Prinzipien im Unterricht angewendet werden. Diese können, wie bereits in Punkt 2.6.2 beschrieben, operante Techniken, wie Verstärker-Systeme, beinhalten, welche besonders in der Institution Schule genutzt werden. Wichtig sind aber auch lehrerzentrierte Maßnahmen, wie die Weiterbildung, die Kooperation, eine allgemein gute Lehrer-Schüler-Beziehung sowie die Klassenführung. Außerdem haben schülerzentrierte Maßnahmen, insbesondere im Rahmen der Unterrichtsgestaltung, einen hohen Stellenwert, wenn es um die Realisierung einer angenehmen Unterrichtsatmosphäre geht. Auch ein intaktes Verhaltensmanagement ist dafür maßgeblich. Im Folgenden werden Maßnahmen vorgestellt, wie der schulische Alltag und der Unterricht mit ADHS-Kindern gestaltet werden kann.

[...]


[1] Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung

[2] In der vorliegenden Arbeit wird wegen des besseren Leseflusses durchweg die männliche Form benutzt, auch wenn bei jeglichen Formen sowohl weibliche, als auch männliche Personen gemeint sind.

[3] Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, erniedrigtes Geburtsgewicht, Infektionen und Toxine (z.B. pränatale Alkohol- oder Nikotinexposition), ZNS-Erkrankungen und -verletzungen, ungünstige psychosoziale Bedingungen (vgl. Bundesärztekammer, 2005, S. 22)

[4] Englische Bezeichnung für die Abkürzung ADHS (siehe 2.1)

Ende der Leseprobe aus 145 Seiten

Details

Titel
Kinder mit ADHS im Grundschulunterricht als Herausforderung für Lehrer
Untertitel
Eine empirische Studie
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
145
Katalognummer
V377092
ISBN (eBook)
9783668585263
ISBN (Buch)
9783960951414
Dateigröße
2352 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ADHS, Grundschule, Unterricht, Krankheitsbild, Ursachen, Diagnostik, Therapie, Unterrichtsorganisation, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität, Förderung, Kooperation, Qualitative Forschung, Qualitative Inhaltsanalyse, Transkription, Experteninterview, Lehrkräfte, Schulische Intervention
Arbeit zitieren
Jana Wiedemann (Autor:in), 2017, Kinder mit ADHS im Grundschulunterricht als Herausforderung für Lehrer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/377092

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