Das Janusgesicht der Großen Mutter. Eine Untersuchung der Grimmschen Märchensammlung


Hausarbeit (Hauptseminar), 1997

27 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Archetypenlehre C.G.Jungs

3. Das doppelte Gesicht der Großen Mutter

4. Die Große Mutter als Schicksalsmacht

5. Die bedrohliche Muter
5.1 Die Todesmutter
5.2 Die Mutter, die es gut meint

6. Die hegende Mutter
6.1 Die lebensfördernden Tiergestalten
6.2 Die allmächtige Herrin der Unterwelt

7. Zwischen Gut und Böse: Die Teufelin

8. Zusammenfassung

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ausschlaggebend für die folgenden Untersuchungen, die sich mit dem Prinzip des Weiblichen in den Grimmschen Märchen beschäftigen, wie es sich in den mannigfaltigen Erscheinungs­formen der Großen Mutter niederschlägt, war die Archetypenlehre von C.G.Jung. Dabei soll es sich weniger um eine tiefenpsychologische Märcheninterpretation handeln, wie sie z.B. Eugen Drewermann geliefert hat[1], als um eine vergleichende Untersuchung der archetypischen Motiven, die mit dem weiblichen Prinzip zusammenhängen. Jung hat darauf hingewiesen, dass die Märchenmotive, die in zahlreichen Abwandlungen parallel bei verschiedenen Völkern auftauchen, eine Manifestation des kollektiven Unbewussten sind. Als solche sind dann die Märchenmotive nicht isoliert zu betrachten, sondern in breiteren Zusammenhängen der Mythologie der griechisch-römischen Antike, aber auch der östlichen Kulturen, um nur die wichtigsten Bezugspunkte zu nennen, auf die sich die Archetypenanalyse stützt.

In der Grimmschen Märchensammlung begegnen wir einer Schar Gestalten, die dem Archetyp der Großen Mutter zuzuordnen sind. Da der Begriff des weiblichen Prinzips sehr umfangreich ist, soll er hier nicht in seinem ganzen Spektrum dargestellt werden. Weitgehend unberücksichtigt bleiben z.B. die Jungfrauen und Prinzessinnen, die als Verkörperungen der Anima in den Märchen eine durchaus wichtige Bedeutung haben. Unser Augenmerk wird sich vorwiegend auf die weiblichen Figuren richten, die das personifizierte Prinzip des Mütterlichen vertreten. Die zentrale Gestalt dieses Umfeldes ist die Große Mutter. Diese Bezeichnung scheint, unter allen verwandten Begriffen, wie z.B. Mutter Erde, Mutter Natur, die gute oder schlechte Mutter, am ehesten das auszudrücken, was das eigentliche Faszinosum dieses Archetyps ausmacht, nämlich den merkwürdigen Doppelcharakter dieser Gestalt. Natürlich ist die Große Mutter ein Abstraktum, das an sich nicht untersucht werden kann. In den Märchen kommen meistens Figuren vor, die einige positive oder negative Aspekte des Weiblichen darstellen.

Die Archetypenlehre Jungs wird uns in diese Problematik einführen; ein zweiter Grundstein sei mit den Erforschungen von Erich Neumann gelegt, die sich mit dem Archetyp des Großen Weiblichen in allen seinen Erscheinungsformen auseinandersetzen. Im folgendem werde ich mich dann bemühen, die weiblichen Figuren der Grimmschen Märchensammlung als Trägerinnen von elementaren archetypischen Vorstellungen zu zeigen - als Figuren, die mit den großen mythologischen Gestalten in einer Reihe stehen.

2. Die Archetypenlehre C.G.Jungs

Der Untersuchung der mütterlichen Gestalten in den Märchen der Brüder Grimm sei noch eine kurze Exkursion in die Jungsche Archetypenlehre vorausgeschickt[2]. Die Erkenntnisse, zu denen C.G. Jung auf dem Gebiet der Tiefenpsychologie gekommen ist, erleichtern uns wesentlich das Verständnis solcher urtümlichen literarischen Formen, zu welchen natürlich auch die Märchen gehören. Zwei Begriffe, die sich eng aufeinander beziehen, sind in diesem Zusammenhang von besonders großer Bedeutung, nämlich das kollektive Unbewusste und der Archetyp.

Das kollektive Unbewusste stellt die geistige Erbmasse der Menschenentwicklung dar, es ist „in allen Menschen sich selbst identisch und bildet damit eine in jedermann vorhandene allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur“. Es liegt in der Beschaffenheit dieser kollektiven Schicht der menschlichen Psyche, dass ihre Inhalte kaum bewusst gemacht werden können, was aber noch nicht bedeutet, dass sie sich auf die eine oder andere Weise nicht manifestieren können, sonst wäre ja das ganze Konzept nur eine hypothetische Vermutung. Die Existenz des kollektiven Unbewussten wird aber nicht bestritten, und es sind die Archetypen, bzw. archetypische Vorstellungen, die uns davon ein Zeugnis ablegen können. Die Archetypen, oder Urbilder, wie sie Jung anfangs nannte, stellen die Inhalte des kollektiven Unbewussten dar. Sie sind die vorbewußt vorhandenen, vererbbaren Strukturdominanten der Psyche, deren Ursprung zwar dunkel ist, die aber als Mythologeme, Sagen- und Märchenmotive, Motive der Religionsgeschichte, der Kunst und der Dichtung, der Träume, Visionen und Phantasien die ganze Menschheitsentwicklung begleiten. Es sollte noch hinzugefügt werden, dass es sich dabei nicht nur um statische Vorstellungen in der Form von Bildern und Gestalten handelt, sondern auch um dynamische Prozesse und Naturvorgänge wie Geburt und Tod, Sonnenauf- und unterging, den Reifungsprozess des Menschen usw.

Um dem Konzept des Archetyps gerecht zu werden, müssen wir noch zwei wichtige Aspekte festhalten. Die Archetypen an sich sind unanschaulich, und, ähnlich wie die Platonischen Ideen, nur in ihren Erscheinungsformen erfahrbar. Die Tatsache, dass es sich trotz der Vielfältigkeit und Wandelbarkeit der archetypischen Bilder immer um das gleiche Urbild handelt, ist dadurch bedingt, dass die Archetypen nämlich formal und nicht inhaltlich bestimmt sind, wobei die Form nicht als die äußere Gestalt, sondern eher als eine Funktion zu verstehen ist. So stehen dann solch unterschiedliche Märchengestalten wie z.B. ein Fisch, eine Wassernixe, eine Teufelin oder ein Kräutermütterchen alle für das hilfeleistende Prinzip (auch wenn manche Figuren Hilfe und Unheil zugleich bringen können). Die Unwesentlichkeit des Erscheinungsbilds ist dann besonders ersichtlich, wenn sich das Äußere nur als eine vorübergehende Form erweist.

Die Archetypen unterliegen in ihrer fast unendlich variablen Vielfalt einer bestimmten Hierarchie, so dass man von primären und sekundären Archetypen sprechen kann. Die Anzahl der primären Archetypen ist begrenzt, als typische Beispiele seien die Große Mutter, der Weise Alte oder das göttliche Kind angeführt. Sekundäre Archetypen der Großen Mutter wären dann z.B. die Königin, die Stiefmutter, die Hexe im Wald, oder auch die Kröte oder der Fisch. Da sich die Archetypen nicht nur auf anthropo- und theriomorphe Gestalten beschränken, kann man als Darstellung des Weiblichen auch Elemente und Gegenstände wie z.B. das Meer, der Brunnen, der Baum, der Kessel usw. betrachten. Wenn dieser Reduktionsvorgang konsequent durchgeführt wird, stehen am Ende dieser Kette (oder vielmehr an deren Anfang, da es hier um die Verfolgung des Ursprungs geht) Begriffe wie Chaos, Dunkelheit, das Empfangende schlechthin. Und hier liegt auch der wunde Punkt dieser Problematik, weil die Analyse der archetypischen Motive unter dem tiefenpsychologischen Gesichtspunkt die Gefahr läuft, alle Phänomene auf die urtümliche Auseinandersetzung zwischen Licht und Dunkel, bzw. Gut und Böse zurückzuführen.

Es ist offensichtlich, dass bei der Beschäftigung mit den archetypischen Gestalten in Märchen dieses Muster nur beschränkt von Nutzen sein kann, es ist aber keineswegs abwegig, es dabei im Hinterkopf zu behalten.

3. Das doppelte Gesicht der Großen Mutter

Wenn man überhaupt vom Charakter eines Archetypus sprechen kann, dann ist es in dem uns vorliegenden Fall besonders problematisch, und zwar aufgrund der gerade gegensätzlichen Wesenszüge, die die Große Mutter in sich vereinigt. Jung schreibt dem Mütterlichen die magische Autorität des Weiblichen zu, die Weisheit jenseits des Verstandes, das Gütige und Hegende, gleichzeitig aber auch das Geheime, Finstere, Verführende, Vergiftende und Angsterregende. Die Gegensätzlichkeit dieser Eigenschaften macht geradezu das Wesen der Mutter aus, die als die Liebende und die Schreckliche über das Schicksal ihrer Sprösslinge waltet, indem sie ihnen das Leben geben, aber auch nehmen kann. Diese Gegensätzlichkeit wird in unserer Zeit als ein nur schwer begreifbares Paradox empfunden, das sich aber allmählich auflöst, wenn wir seinen Ursprüngen nachgehen.

Erich Neumann erklärt in seinen Untersuchungen über den Archetyp der Großen Mutter[3], dass die paradoxe Gegensätzlichkeit in früheren Zeiten als Einheit erfahren wurde. Er spricht von einem „Urarchetypus“, der in der Frühphase der menschlichen Bewusstseinsentwicklung vor der Differenzierung in die einzelnen Archetypen entstanden ist, und der gleichzeitig positive und negative Eigenschaften in sich verbindet. „Erst in dem Prozess der Differenzierung der archetypischen Phänomene im Laufe der Bewusstseinsentwicklung wurden die gute und die böse Göttin meist als voneinander verschiedene Mächte verehrt“[4]. In den Darstellungen dieses Urarchetyps tritt oft der „unmenschliche“ Aspekt in den Vordergrund, so dass es die ungeheuren Gestalten sind, wie z.B. die Sphinx, die Harpyien, oder die Gorgonen, die sich in unseres Kulturbewusstsein besonders eingeprägt haben.

Der undifferenzierte Charakter des Urtümlichen macht sich auch in einer gewissen Doppelgeschlechtlichkeit der Großen Mutter bemerkbar. So treten in den Mythen und Sagen verschiedener Völker weibliche Figuren auf, die mit maskulinen Attributen wie Bart oder Phallus ausgestattet werden (z.B. die Hexen in Shakespeares Macbeth, die Fortuna barbata von Rom). In den Märchen sind die Repräsentantinnen dieses Archetyps in der Regel auf irgendeine Weise verunstaltet, sei es durch einen Buckel, einen großen Zahn, oder einfach durch das fortgeschrittene Alter. So gekennzeichnet sind nicht nur die bösen Hexen, bei denen die mangelnde Weiblichkeit ihre negativen Züge unterstreicht. Das eher abschreckende Äußere findet man auch in vielen positiven Muterfiguren wieder, wie z.B. Frau Holle, bei denen solche Makel zum einen auf die ursprüngliche Androgynität hinweisen können, zum anderen auf die moralische Ambivalenz, die sich noch in bestimmten dämonischen Zügen manifestiert.

Der Ursprung solcher ambivalenten Gestalten ist möglicherweise in dem Uroboros zu suchen, in dem Bild der sich in den Schwanz beißenden Kreisschlange. Sie ist das Symbol des Anfangszustandes, des gegensatzenthaltenden Ursprungs, in dem positive und negative, männliche und weibliche Elemente vermischt sind. Der Uroboros ist „das vollkommenste Beispiel des noch undifferenzierten Urarchetyps, aus dem sich die Figuren des Großen Vaters und der Großen Mutter herauslösen“.[5] Auf einer weiteren Entwicklungsstufe begegnen wir dann der furchtbaren Mutter (z.B. Gorgo) und der guten Mutter (z.B. Isis).

Diese schematische Einteilung sollte aber nur einer groben Orientierung dienen, da in der Welt der antiken Mythologie das Gute und das Böse nicht streng voneinander getrennt wurde. Es gibt zwar Gottheiten, die man eindeutig dem einen oder dem anderen Pol zuordnen kann, aber des Öfteren gehen Gütigkeit und Grausamkeit Hand in Hand. Grausamkeit ist vielleicht der Begriff, der auf die antiken Verhältnisse besser zutrifft als das Böse, welches für das Mittelalter von zentraler Bedeutung war. Dabei ist das Grausame oder Furchtbare nicht von der Warte unserer heutigen, christlich geprägten Auffassung, die die Grausamkeit als moralisch verwerflich beurteilt, anzusehen. Es ist vielmehr das Unvermeidliche, wogegen die antiken Helden anzukämpfen haben. Man könnte sagen, dass für die Antike eine gewisse moralische Indifferenz kennzeichnend ist; das Konzept der Moral und die Dichotomie von Gut und Böse ist eine Komponente, die erst mit dem Christentum, bzw. mit der christlichen Theologie hinzukommt. In dem Aufsatz „Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus“[6] schreibt C.G. Jung die moralische Entzweischneidung der Gottheit einer stärkeren Gefühlsentwicklung beim westlichen Menschen zu. Im Osten überwiegt dagegen die intuitiv-intellektuelle Einstellung auf Kosten von Gefühlswerten, und so ist dort (wie noch in der westlichen Antike) die ursprüngliche moralische Paradoxie der Götter beibehalten. Das christliche Gottesbild schließt jede Möglichkeit des Bösen aus, da damit aber das Böse nicht aus der Welt geschaffen wird, ist es der Teufel, der als Gottes Gegenspieler das Böse verkörpert. Auf eine ähnliche Weise wird das Bild der weiblichen Gottheit gespalten, indem der unantastbaren Gottesmutter Maria die Hexe gegenübergestellt wird. Sibylle Birkhäuser-Oeri schlägt vor, dass in dem ausschließlich positiven Bild der weiblichen Gottheit der Grund dafür liegen kann, „dass die europäischen Märchen die dunkle Seite der Urmutter kompensatorisch häufiger darstellen als die helle.“[7]

Der dunkle Aspekt des großen Weiblichen wird unterdrückt und auf die zu vernichtenden Hexen projiziert. Das Böse wird zwar symbolisch dem männlichen Teufel zugeschrieben, die Agenten des Bösen sind aber meistens die weiblichen Hexen. Das schlägt sich auch in den Märchen nieder, wo die Hexen in der Regel auch beseitigt werden, so wie es den Frauen ergehen sollte, die zur Zeit der Hexenverfolgungen als Hexen gebrandmarkt wurden. Gerade in ihrem negativen Aspekt liegt die Faszination der Muttergottheit. Es können etliche Hypothesen hinsichtlich des Ursprungs der todbringenden Seite der Großen Mutter aufgestellt werden. Man kann von dem Gedanken ausgehen, dass das Leben immer einen Keim des Todes in sich trägt, und dass diejenige, die das Leben spendet, auch unweigerlich für den Tod verantwortlich ist. Als Urheberin des Lebens gilt dabei die überpersönliche Große Mutter, die leibliche irdische Mutter wird nur als eine Vermittlerin des Lebens betrachtet. In diesem Sinne kann die Mutter Natur das Leben auch jederzeit zurückfordern. Da die biologische Mutterschaft unwesentlich ist, ist es dann auch bei der Beschäftigung mit den Grimmschen Märchen von geringer Relevanz, ob es die eigene Mutter oder die Stiefmutter ist, die z.B. in „Schneewittchen“ auf ihr Kind eine zerstörerische Wirkung hat. (In diesem und in ähnlichen Fällen ist es in der ursprünglichen Fassung immer die leibliche Mutter, die in der revidierten Ausgabe durch die Stiefmutter ersetzt wurde, weil der zerstörende Aspekt der Mutterschaft nicht mehr verstanden, bzw. unterdrückt und unakzeptabel wurde.)

In der antiken Mythologie finden sich nicht selten Fälle, wo die Mutter ihre Kinder zerstört. Die Motive einer solchen Tat sind unterschiedlich: Medeas Rach- und Eifersucht, Agaues dionysischer Rausch. Die Muttergestalten der antiken Mythologie, die ihre Kinder zerstören, legen davon Zeugnis ab, dass die Mutter-Kind Beziehung keineswegs so heilig war, wie es sich später durch das Maria-Jesus Vorbild etabliert hat. In den Märchen sind noch Reste von diesem zerstörerischen Zug der Großen Mutter zu finden, wenn es sich etwa um das Aussetzen der Kinder (oder gar ihre Tötung) aus Hungersnot handelt.

Die Beziehungen zwischen der Macht des Weiblichen und dem Tod sind in unserem heutigen Verständnis nicht leicht nachvollziehbar, wenn wir aber einen Blick in die Kulturgeschichte und in die Bewusstseinsentwicklung des Menschen werfen, können wir einige Bezugspunkte festhalten. In der zyklischen Zeitauffassung der Antike wurde der Tod als eine unabdingbare Voraussetzung eines weiteren Lebens wahrgenommen. Die Fruchtbarkeitskulte, mit denen die Gunst der Großen Mutter gewonnen werden sollte, waren zwangsweise blutig, weil daran geglaubt wurde, dass eine Befruchtung nur durch die Opferung des Blutes, in dem das Leben enthalten ist, zu Stande kommen kann.[8] Eine andere Verbindung zwischen der Frau und dem Tod bezieht sich auf die biblische Paradiesgeschichte und geht von der Überzeugung aus, Eva habe durch ihr Ungehorsam das Leiden und auch den Tod in die Welt gebracht; etwas überspitzt ausgedrückt, die menschliche Sterblichkeit haben die Frauen auf dem Gewissen. Es besteht aber auch eine immanente Verbindung zwischen Frauen und dem Tod. Nach einigen tiefenpsychologischen Untersuchungen wird „in den verborgenen Tiefen der männlichen Psyche (...) das Bild der Frau oft mit dem Bild des Todes gleichgesetzt“, was sich auch in Begriffen wie vagina dentata niederschlägt[9]

Gegen die Grimmschen Märchen wird manchmal der Vorwurf erhoben, sie seien zu grausam, wobei die Grausamkeit oft in Verbindung mit den Muttergestalten steht. Die oben aufgeführten, vorwiegend mythologischen Beispiele, die die furchtbare Seite des Urmütterlichen illustrieren, mögen einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Märchen leisten. Ohne die Mythologie als eine direkte Quelle der Märchen bezeichnen zu wollen, werden aus den bevorstehenden Vergleichen der Märchen- und Mythenmotive Parallelen ersichtlich, die einerseits für eine gewisse Beeinflussung der Märchen durch die Mythen, anderseits für die Autonomie der archetypischen Vorstellungen im menschlichen Bewusst- und Unbewusstsein, sprechen.

4. Die Große Mutter als Schicksalsmacht

Im Folgenden werde ich mich also mit den weiblichen Märchengestalten beschäftigen, die mit der Großen Mutter, bzw. mit einer ihrer zahlreichen mythologischen Erscheinungsformen verwandt sind. Auch wenn die Märchenfiguren kaum die übermenschlichen Dimensionen der mythologischen Gestalten erreichen, sind die Parallelen, die sich vielleicht auch nur spurenweise aufdecken lassen, als Reste der alten Mythen anzusehen. Nur in sehr geringem Maße lassen sich die Märchengestalten als equivalente oder Nachfolgerfiguren einer mythischen Figur bzw. Figurengruppe bezeichnen. Wenn es aber einen Fall gibt, wo auf beiden Gebieten eine vergleichbare Struktur vorliegt, dann ist es im Zusammenhang der Großen Mutter als Schicksalmacht der Fall. Die Schicksalbestimmung ist eines der wichtigsten Aspekte der Großen Mutter, weil sich darin die ursprüngliche Überlegenheit der weiblichen Gottheit manifestiert, die später unter dem Einfluss patriarchaler Strukturen abgelöst wurde.[10]

Die große Mutter gilt nicht nur als Spenderin des Lebens, das Leben wird von ihr auch weiter auf unausweichliche Weise bis zum Tode bestimmt. Die Schicksalsgottheit, die immer in weiblicher Form auftrat, nahm am häufigsten eine Dreigestalt an: die nordischen Nornen, die römischen Parzen, oder die griechischen Moiren, das sind die westlichen Varianten der dreifachen orientalischen Göttin, die gleichzeitig als Schöpferin, Erhalterin und Zerstörerin verehrt wurde[11]. Die Große Göttin wurde seit ältester Zeit als eine Trinität dargestellt, die mit dem Mond in einem bestimmten Zusammenhang stand. Die Dreizahl der Gottheit vereinigt die Aspekte der Jungfrau, der Mutter und der Greisin, die ihre symbolische Entsprechung in dem zunehmenden, vollen und abnehmenden Mond finden. Es ist kaum möglich, die ursprüngliche Dreifaltigkeit festzuhalten, die das Vorbild für die zahlreichen Trinitäten der Religion- und Kulturgeschichte geliefert hat (in der griechischen Antike war z.B. die Muttergottheit, die aus der Jungfrau Hebe, der Mutter Hera und der Greisin Hekate bestand, von grundlegender Bedeutung,); dieses Muster hat aber zweifellos auch andere Dreiergruppen geprägt, neben den schicksalsbestimmenden Moiren handelt es sich z.B. um die Gorgonen, Grazien, Horen usw.

[...]


[1] Eugen Drewermann: Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. Deutscher Taschenbuch Verlag München, 1992.

[2] In dem folgenden Überblick beziehe ich mich auf die Darstellung Jungscher Lehre von Jolande Jacobi: Komplex, Archetyp, Symbol. Zürich, 1945.

[3] Erich Neumann: Die Große Mutter. Der Archetyp des Großen Weiblichen. Rhein-Verlag Zürich, 1956.

[4] Op. cit. S.26.

[5] Op. cit. S.33.

[6] Erschienen in: „Eranos Jahrbuch“ 1938, abgedruckt in: C.G.Jung: Archetypen, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 1990, S. 75-106.

[7] Sibylle Birkhäuser-Oeri: Die Mutter in Märchen. Hg. Von Marie-Louise von Franz, Stuttgart, 1983, S. 29.

[8] Erich Neumann: Ursprungsgeschichte des Bewußtseins. Rhein-Verlag Zürich, 1949, S. 68f.

[9] Barbara G.Walker: Die Weise Alte. München, 1986. S. 22.

[10] Erich Neumann: Die Große Mutter. S. 238.

[11] Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen. Ein Lexikon. Deutscher Taschenbuch Verlag München, 1995, S. 1104.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Das Janusgesicht der Großen Mutter. Eine Untersuchung der Grimmschen Märchensammlung
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Institut für Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Grimms Märchen
Note
1,3
Autor
Jahr
1997
Seiten
27
Katalognummer
V37660
ISBN (eBook)
9783638369381
ISBN (Buch)
9783656757887
Dateigröße
559 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Janusgesicht, Mutter, Untersuchung, Grimmschen, Märchensammlung, Grimms, Märchen, Archetyp, Jorinde, Joringel, Grosse
Arbeit zitieren
Barbora Sramkova (Autor:in), 1997, Das Janusgesicht der Großen Mutter. Eine Untersuchung der Grimmschen Märchensammlung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37660

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