Goethes Urfaust am Theater. Spezifische Persönlichkeitsmerkmale der Hauptfigur


Facharbeit (Schule), 2010

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


I. Einleitung Begründung des Themas

Diese Facharbeit vergleicht die Darstellung von Goethes Urfaust und einer Theateraufführung desselben unter besonderer Berücksichtigung der Persönlich­keitsmerkmale der Hauptfigur.

Dieses Thema habe ich mir ausgesucht, weil mich der Faust von Goethe schon immer sehr interessiert hat und häufig für einige Erläuterungsbeispiele im Deutschunterricht verwendet wurde. So beschloss ich zu recherchieren und wurde auf die Theaterauf­führung des Urfaustes an den Städtischen Bühnen Münster aufmerksam. Daraufhin las ich den Urfaust sowie den Faust, der Tragödie I. Teil, und informierte meine Fach­lehrerin. Während der Deutschunterrichtsstunden erkannte ich Parallelen zu anderen Werken und Autoren, sodass ich meinen Facharbeitsgedanken an den Lerninhalten des Unterrichts anknüpfen konnte.

Schwerpunktmäßig werde ich mich mit den Erkenntnissen aus dem Interview mit dem Faustdarsteller befassen und diese auch in den Vergleich mit dem Prinzen von Homburg sowie dem Bezug zu Johann Wolfgang von Goethe miteinfließen lassen.

II. Hauptteil

1. Inhaltsangaben

1.1 Urfaust

Heinrich Faust ist ein Gelehrter, der alle vier Wissenschaften studiert hat. Er ist unzufrieden und verzweifelt, dass er nicht erkennen kann, was die Welt im Innersten zusammenhält[1] [2]. So beschließt er Magie anzuwenden, in der Hoffnung, den Sinn des Lebens finden zu können. Als ihm das nicht gelingt, will er sich das Leben nehmen2. Jedoch wird er von seinem Famulus Wagner gestört, der ihn in ein Gespräch verwickelt. Anschließend tritt Mephistopheles auf und spricht mit einem Studenten, der etwas von ihm über das Studium lernen möchte.

Danach tritt Mephistopheles erneut auf und will Faust das Lebensglück zeigen. Er versucht sein Glück mit Faust in Auerbachs Keller in Leipzig. Doch Faust ist gar nicht begeistert und will gehen.[3] Mephistopheles bittet ihn zu bleiben. So verwendet Faust Zur weiteren Belustigung der Gesellen einen Zaubertrick, der durch den Gesellen Siebei misslingt, und die Situation eskaliert. Durch einen Zauber von Mephistopheles gelingt es den beiden, aus der Kneipe zu entfliehen.

Daraufhin begegnet Faust Margarethe (Gretchen) das erste Mal und verliebt sich sofort in sie. Gretchen weist ihn jedoch zurück[4]. Faust verlangt sofort von Mephistopheles, ihm Gretchen bis heute Abend als Geliebte zu verschaffen, sonst werde er den Pakt um Mitternacht beenden.

Es gelingt Faust, Gretchen für sich zu gewinnen. Um mit ihr ungestört zu sein, besorgt Mephistopheles für Faust einen Schlaftrunk für Gretchens Mutter. Faust bringt Gretchen dazu, ihrer Mutter den Trunk zu geben und die Mutter stirbt. Gretchen wird in dieser Nacht schwanger.

Es vergehen einige Monate, bis sich Gretchen und Faust wiederesehen. Gretchen hat mittlerweile ein Kind zur Welt gebracht und es sogleich ertränkt. Es war ein uneheliches Kind und die Schande zu groß. So wird sie als Kindsmörderin angeklagt und zum Tode verurteilt. Als Faust von der Not Gretchens erfährt, will er sie mit Mephistopheles Hilfe aus dem Kerker befreien.

Im Kerker ist Faust erschüttert über Gretchens Zustand. Er fleht sie an, mit ihm zu kommen. Gretchen sieht ihre Strafe jedoch als ein gerechtes Urteil Gottes an und entscheidet sich für den Tod.

1.2 Prinz Friedrich von Homburg

Der Prinz Friedrich von Homburg schlafwandelt in der Nacht vor der großen Schlacht bei Fehrbellin. Er soll als Reiterführer mit seinem Heer in die Schlacht ziehen und träumt vom Sieg. Dabei wird er vom Kurfürsten, der Prinzessin Natalie von Oranien und anderen entdeckt. Der Kurfürst erlaubt sich einen Scherz mit ihm. Darauf entreißt der Prinz von Homburg seiner Geliebten Natalie einen Handschuh. Als er danach erwacht und den Handschuh vorfindet, ist er verwirrt. Deshalb überhört er den wichtigen Befehl des Kriegsrates, dass er den Feind erst angreifen soll, wenn es ausdrücklich befohlen wird. Er findet heraus, dass der Handschuh Natalie gehört und lässt ihn durch eine List unaufällig zu Boden fallen, damit sie ihn finden kann.

Als sich der Prinz von Homburg in der Schlacht befindet, glaubt er, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um anzugreifen, ohne den ausdrücklichen Befehl dazu erteilt bekommen zu haben. Er erkämpft damit den Sieg über Schweden.

Als der Kurfürst davon erfährt, lässt er den Prinz von Homburg zum Tode verurteilen, da dieser gegen das Kriegsgesetz verstoßen hat. Trotzdem bleibt er sehr optimistisch, weil er nicht daran glaubt zum Tode verurteilt zu werden. Doch dann wird ihm mittgeteilt, dass das Todesurteil bereits vom Kurfürsten unterschrieben wurde. Daraufhin entwickelt er eine unheldenhafte Angst gegenüber dem Todesurteil. Obrist Kottwitz bittet um Gnade für den Prinzen, wird jedoch abgelehnt. Durch ein Gespräch mit der Prinzessin Natalie erhofft sich der Prinz von Homburg eine letzte Chance. Natalie soll bei dem Kurfürsten um Gnade für ihn bitten. Der Kurfürst willigt ein. Er begnadigt ihn nur, wenn der Prinz von Homburg selbst der Meinung ist, dass sein Urteil zu Unrecht gefällt worden sei. Der Prinz von Homburg ist unzufrieden mit dieser Begnadigung und sein Heldengeist erwacht wieder. Er sieht das Todesurteil als gerechtfertigt an und will dem Kriegsgesetz, selbst als Prinz, treu bleiben, so wie es jeder andere Soldat auch getan hätte. In der Nacht vor seinem Todesurteil versucht der Graf von Hohenzollern auf den Kurfürsten einzuwirken und erinnert ihn an das Schlafwandeln des Prinzen.

Als der Prinz mit verbundenen Augen zu seinem Hinrichtungsort geführt wird, wird er überrascht. Der Kurfürst zerreißt das Todesurteil. Stranz, ein Offizier, nimmt ihm die Augenbinde ab und dem Prinzen wird ein Lorbeerkranz sowie eine goldene Kette, wie in seinem Traum, überreicht. Der Prinz fällt in Ohnmacht. Erst durch den feierlichen Kanonendonner erwacht er wieder.

2. Vergleich zu verschiedenen Werken

2.1 Der Charakter Fausts in Bezug zu einer Theateraufführung

Heinrich Faust ist ein Gelehrter, der alle vier Wissenschaften, „Philosophey, / Medizin und Juristerey / Und leider auch die Theologie“[5] studiert hat. Jedoch „war er nicht mit dem Wissen zufrieden“[6]. Er ist verzweifelt darüber, dass er nicht erkennen kann, „was die Welt / Im innersten zusammenhält“5 und wird deshalb von einer ständigen „Unruhe getrieben“6. Dieser Erkenntnisdrang „führt dazu, dass er das Leben verachtet“6 und einen Suizidversuch beginnt, der scheitert.

In der Charakteristik Fausts lassen sich viele Parallelen aus verschiedenen Epochen wiederfinden.

Faust verkörpert in erster Linie die Elemente des Sturm und Drang. Er ist ein Genie, das sich durch sein extremes Streben die Welt mit ihren Regeln und Gesetzen selbst erklären will, welche auf der Natur beruhen[7]. Somit verkörpert er das Element des Ursprünglichen, was sich auf die damaligen Naturwissenschaften bezieht. Deswegen „fürchtet er sich nicht vor dem Überschreiten der Grenzen der menschlichen Erkenntnis“[8]. Dabei überschneidet sich hier die Epoche des Sturm und Drang mit der Literaturepoche der Renaissance in der Person Fausts. In dieser Epoche tritt die Bildung in den Vordergrund, aber auch der Mensch als Individuum selbst. So bedeutet Wissen für Faust auch gleich Macht. Dies ist ein Merkmal der Aufklärung. Man muss es aus der Sicht von Faust so sehen, dass er Wissen und Macht mit der göttlichen Ebene auf eine Stufe stellt und somit den Slogan „Wissen ist Macht“, von Francis Bacon[9] anders verkörpert. Schließlich denkt Faust, dass er allwissend sei (z. B. bei dem Gespräch mit seinem Famulus bzw. Assistenten Wagner[10] ) und sich deshalb als ein „Ebenbild der Gottheit“10 bezeichnet. Dadurch kommt seine Überheblichkeit zutage. Diese stellt sich im Anfangsakt „Nacht“10 in Euphorie dar, welche Faust dann schnell in ein seelisches Tief reißt[11]. So steht das „hochgewölbte enge gothische Zimmer“10 im Widerspruch zu Faust. Der Raum verkörpert höchste Kunstansprüche, welche Faust durch seine Erkenntnisbeschränkungen nicht auszufüllen vermag. Jedoch wird durch die Enge des Zimmers sein eingeschränkter Blickwinkel der Erkenntnis verdeutlicht. Trotzdem lässt ihn der Raum nicht als Wissenschaftler erscheinen8. Der Raum ist nicht der typische Arbeitsbereich eines Wissenschaftlers, sondern hat durch die Gotik der deutschen Baukunst eher einen kirchlichen Charakter8, der höhere Mächte, zu denen Faust nun mal nicht gehört, symbolisiert. Faust selbst setzt sich zu hohe Ziele, die er nicht erreichen kann, weil er „nur“ ein Mensch ist10. Deshalb wird hier der extreme Zwiespalt deutlich, in dem sich Faust befindet und der als unlösbar erscheint. Einerseits ist er von sich und seinem Wissen voll und ganz überzeugt, aber sein Gefühl sagt ihm, dass er nicht alles wissen kann und es ihm an Lebensglück mangelt. Dadurch, dass er ein irdischer Mensch ist, ist sein Erkenntnisdrang sowie die Aufnahmekapazität seines Geistes beschränkt und nicht allmächtig. Demnach verkörpert er auch den Gedanken der Klassik, dass das Ideal und somit die Natur und ihre Naturwissenschaften bereits die Wirklichkeit seien[12]. Das weltliche Leben und dessen Genüsse werden ausgeschlossen. Es kommen Faust Zweifel, weil er seinen persönlichen Sinn des Lebens aus den Augen verloren hat. All seine Studien erscheinen ihm auf einmal sinnlos und er sieht sie als verlorene Zeit seines Lebens an. Er fühlt sich nicht vollkommen, was ihn verletzlich und zugleich gefühlskalt und einsam macht. Das Element der „In-sich-Gekehrtheit“[13] lässt sich wiederum auf die Epoche der Empfindsamkeit zurückführen. Faust ist stets „immer ein rationaler Denker gewesen“[14], der sich seiner Gefühle nie wirklich bewusst war, da er ebenfallsjede Form von weltlichen Genüssen ablehnte[15].

Mit dieser Exopsition[16] beginnt sein Wandel, was ebenfalls ein Element der Klassik ist12. Außerdem erklärt es auch, warum er den Pakt mit Mephistopheles eingegangen ist, den sich der Leser des Urfaustesjedoch nur selbst erschließen kann16. Goethe erwähnte ihn erst eindeutig im „Faust, der Tragödie I. Teil“[17]. Faust wollte sich über den Sinn des Lebens deutlich werden, weil er ihn nicht dauerhaft in seinen Lehrbüchern und Forschungen fand.

Von der „Niederdeutschen Bühne an den Städtischen Bühnen Münster e. V.“ ist der Wandel Fausts durch einfache Kulissen und Requisiten betont worden. Dadurch sollte erreicht werden, dass „sich das Publikum auf die Handlung fokussiert „und sich nicht von enorm aufwendigen Hintergrundkulissen ablenken lässt“14. Zudem wurden „Übergangs- und somit Erläuterungsszenen“ eingebaut, damit das Stück „volks­tümlichere Züge bekommt“14.

Vor dem Eingangsmonolog wurde für das Publikum eine Erläuterungsszene eröffnet. Diese beinhaltete Mephistopheles als „eine Art Moderator“, der sich in der Anfangs­und Schlussszene des Stücks in „einer Art Puppentheater“14 befand. Damit wollte man den Eingangsmonolog einleiten. Das Puppentheater spielt dabei eine zentrale Rolle in Goethes sowie in anderen Faustvariationen[18]. Darauf wollte man sich an der Niederdeutschen Bühne beziehen.

Das Studierzimmer Fausts steht nicht im Widerspruch zu seiner Persönlichkeit. Durch das trübe Licht auf der Bühne wollte man die selbstzerstörerische Stimmung Fausts für das Publikum untermalen[19].

Der Kleidungsstil Fausts unterstreicht wiederum Goethes Absicht in dem Urfaust. Der Darsteller (Ulrich Tamer) von Faust trug während des Stücks immer das selbe. Nur die Weise, wie der Darsteller die Kleidung trug, wurde verändert. Zuerst sah er verlottert aus, weil Faust sich nur auf seinen Erkenntnisdrang fokussierte und auf andere Dinge nicht allzu viel Wert legte. Durch den Pakt mit Mephistopheles und durch die Begegnung mit Gretchen fängt er an, Wert auf ein gepflegtes Äußeres zu legen19. Damit wird verdeutlicht, dass er an neuem Lebenswillen gewinnt und Zutritt zu seiner Gefühlswelt findet. Hier beginnt seine positive Veränderung. Trotzdem zieht dieser Wandel gleichzeitig auch negative Seiten mit sich, weil sich in der Person Fausts das Gute und Böse im Menschen vermischen[20].

2.1.1 Das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen

Faust wird durch Gretchen aus seinem seelischen Tief gerettet und lernt die leichte Lebensart durch Mephistopheles kennen, was aber erst durch Gretchen möglich ist. Mephistopheles versucht zwar sein Glück mit ihm in Auerbachs Keller, aber Faust sehnt sich nach einem tiefsinnigeren Wohlbefinden. Dadurch „gerät (er) zweimal ins Schwanken, ob er der Liebe Raum geben oder nur die Lust genießen soll“20. Dies zeigt sich bei Faust darin, dass er „aufbrausend und impulsiv“19 sowie rücksichtslos gegenüber Gretchen wird.

Gretchen „ist erst 14 Jahre alt und Faust könnte schon fast ihr Vater bzw. ihr Lehrer“19 sein.

Auf der Bühne wurde hingegen eine um ein halbes Jahr ältere Darstellerin (Margarethe Köckemann) als der Faustdarsteller gewählt19, was auch aus der Notwendigkeit heraus geschah.

Durch den Altersunterschied von Gretchen (die je nach Belieben auch Margarethe in dem Urfaust genannt wird) und Faust wird die Epoche des Sturm und Drang deutlich. Faust fällt es leicht, Gretchen

„...durch sein Wissen, seine Versprechungen und seine Umgangsformen zu gewinnen. Gretchen fühlt und erkennt ihre soziale und geistige Bescheidenheit gegenüber Faust und wird deshalb schnell sein Opfer.“20

Gretchen ist das Gegenbild von Faust, weil sie „sehr religiös, im Gegensatz zu Faust“19 ist. Es treffen „die große Welt des Wissens und eine kleinstädtisch geprägte von Familieninteressen und Ruhe“[21] orientierte Welt aufeinander. Größer könnte der Unterschied kaum sein. Faust verliebt sich sofort in Gretchen, als diese ihn bei ihrer ersten Begegnung mit den Worten zurückweist: „Binn weder Fräulein weder schön, / Kann ohngeleit nach Hause gehn“[22]. So wirkt sie auch auf der Bühne selbstbewusst und birgt zugleich auch ein Geheimnis in sich, was sie begehrenswert macht. Von diesem Auftritt an, wird „die Differenz zwischen beiden immer größer, Fausts Welt immer weiter, Gretchens Welt immer enger, um im Gefängnis zu enden“21.

Zunächst muss sich Faust damit zufrieden geben, in Gretchens Zimmer mithilfe von Mephistopheles zu gelangen. Faust betritt das „kleine reinliche Zimmer“22 und genießt es, dort zu sein. Er ist beeindruckt, welche Fülle in der Armut steckt und welche Seligkeit dieser Kerker mit sich bringt22. Durch die Bezeichnung „Kercker“22 wird hier bereits schon Gretchens unaufhaltbares Ende angedeutet.

In dem Bühnenstück wurde dieser Eindruck dadurch hervorgehoben, dass der Faustdarsteller „eine Minute lang auf dem Stuhl“ verharren und diesen Moment „ohne Text voll und ganz ausspielen“[23], sollte. Durch das karge Bühnenbild wurde zusätzlich die Armut verdeutlicht und durch ein helles Licht23 wurden die Geborgenheit und das Wohlbefinden unterstrichen. Die Bezeichnung des Kerkers wurde hingegen nicht weiter ausgespielt bzw. im Bühnenbild umgesetzt.

Faust findet immer mehr Gefallen an Gretchen und sieht sie anfangs „nur als Lustobjekt“21 an. Faust wird zum leidenschaftlichen Genie der Epoche der Aufklärung[24]. Seine Lust lässt ihn dabei zu unmenschlichen Mitteln greifen. Um eine ungestörte Nacht mit Gretchen zu verbringen, übergibt er Gretchen die vermeintlichen Schlaftropfen für ihre Mutter22, die daraufhin stirbt. Somit öffnet sich Faust zwar den weltlichen Genüssen, aber anstelle seiner Vernunft tritt seine grenzenlose Leidenschaft. Er denkt nicht über die Konsequenzen und seelischen Folgen, besonders für Gretchen, nach. Als Gretchens Mutter stirbt und sie ein uneheliches Kind von Faust bekommt, ist die Schande zu groß. Gretchen wird zur Kindsmörderin und ertränkt ihr Kind22.

Die Kindsmörderin gehört dabei zu den „Lieblingsfiguren des Sturm und Drang“21 und symbolisiert somit das weiblich unterdrückte Individuum in einer männlich dominierenden Gesellschaft[25]. Die Sympathie liegt eindeutig auf Gretchens Seite, weil sie von Faust immer mehr ins „persönliche Verderben“[26] getrieben wird. Von den Lesern sowie vom Publikum wird sie dadurch als Opfer wahrgenommen und die Leser/Zuschauer können sich besser mit ihr identifizieren25. So erscheint ihr vorhersehbarer Tod (als Konsequenz ihrer Straftat) als eine Erlösung25. Faust erkennt erst die einzig wahre Liebe, als es für Gretchen bereits schon zu spät ist, weshalb er in der Kerkerszene „völlig entsetzt“26 über ihren Zustand ist. Somit erfolgt für Faust in der letzten Szene scheinbar die Erkenntnis, welche Konsequenzen sein Handeln trägt, weil er mit letzter Kraft versucht Gretchen zu retten. Diese siehtjedoch ihren Tod als Rettung und Gerechtigkeit Gottes an[27].

2.2 Vergleich der Persönlichkeitsmerkmale von Faust und dem Prinzen Friedrich von Homburg

Faust und der Prinz Friedrich von Homburg (von Heinrich von Kleist) weisen ähnliche Persönlichkeitsmerkmale auf.

Gleich zu Beginn des ersten Auftritts sitzt Faust in einem für einen Wissenschaftler untypischen Raum[28]. Der Prinz von Homburg erscheint ebenfalls als untypisch, weil er schlafwandelt und „mit bloßem Haupt und offner Brust, halb wachend, halb schlafend, unter einer Eiche“[29] sitzt. Beide verkörpern vorerst die ideale Figur der Sturm-und- Drang-Zeit·[30], welche sich nachher mit Merkmalen anderer Epochen vermischen. So verkörpert z. B. der Prinz von Homburg zugleich auch die bürgerlichen Tugenden und Vorstellungen als Adeliger zur Zeit der Aufklärung und besitzt wiederum Makel, die den sittlichen Menschen auszeichnen. Somit lässt sich der Prinz von Homburg auch der Epoche derEmpfindsamkeit[31] zuordnen, die eine Abzweigung der Aufklärung ist. Durch die Verkörperung der Epoche wird der Prinz von Homburg menschlicher, was zur Zeit Kleists eine sehr kritische bzw. gewagte Darstellung war. Die Adeligen (zu Kleists Zeit) wurden normalerweise als „perfekt“ bzw. sehr „tugendhaft“ dargestellt. Somit wird der Prinz von Homburg zugleich auch ein Gegenbild der Ideale.

Der Prinz von Homburg sehnt sich, wie auch Faust, nach einer anderen Existenz in höheren Sphären[32]. Beide sind der Ansicht, dass sie nur diese höhere Existenzebene durch den Tod erreichen können, weil beide mit ihrem Leben unzufrieden sind. Faust will Selbstmord begehen, wird jedoch daran gehindert. Der Prinz von Homburg findet sich nach seinem positiven Wandel[33] mit dem Todesurteil ab und erhofft sich dadurch eine Erettung aus seinem streng festgelegten Leben, weil er sein Leben bereits schon von Anfang an verachtet. Dies lässt sich daran erkennen, dass er sich in Traumwelten flüchtet und schlafwandelt. Doch auch er wird durch die überraschende Begnadigung vom Tod abgehalten. Durch seine Ohnmacht33 symbolisiert er, dass er nur noch mehr zwischen der realen und seiner Traumwelt hin- und hergerissen ist.

Durch den Tod glauben Faust und der Prinz von Homburg, das Lebensglück finden und somit erzwingen zu können32. Nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass der Tod des Prinzen von Homburg fatale Folgen für die Gesellschaft hätte, weil er eine wichtige Verpflichtung gegenüber dem Vaterland hat. Bei Faust hingegen hätte der Selbstmord keine fatalen Folgen gehabt, weil er nur ein bürgerlicher Gelehrter ist und keine große Verantwortung gegenüber dem Vaterland hat[34]. Die Begründung dafür, dass sich beide für den Tod entscheiden, lässt sich in ihrer Identitätskrise finden. Diese erscheint aus ihrer Sicht als unlösbar. Deshalb verfallen sie der Verzweiflung. Sie haben zu hohe Wünsche bzw. zu hohe Ansprüche an sich selbst, die sie sich nicht erfüllen können. Somit fallen ihre Illusionen wie ein Kartenhaus ineinander zusammen und reißen sie in ein seelisches Tief. Je höher die Ansprüche sind, desto tiefer ist der Fall. Deutlich wird diese Identitätskrise auch dadurch, dass man weder Faust noch den Prinzen von Homburg mit ihrem Vornamen anspricht32. Faust wird erst in dem letzten Auftritt, im Kerker, oft bei seinem Voramen von Gretchen genannt[35], so wie es auch an der Niederdeutschen Bühne Münster deutlich dargestellt wurde. Gretchens letzten beiden Worte auf der Bühne lauten: „Heinrich! Heinrich!“[36]. Dadurch gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass Faust jetzt seine Identitätskrise überwunden und verstanden hat, was wahre Liebe ist, auch wenn es zu spät ist. Er wird nun als emotionaler Mensch wahrgenommen, der in Gretchen sein wahres Lebensglück gefunden hat. Auch Homburgs Sehnsüchte nach Liebe werden durch die Prinzessin Natalie von Oranien erfüllt. Sie istjedoch nicht diejenige, die seinen positiven Wandel hervorruft, stattdessen verneint der Prinz die Liebe zu Natalie[37]. Er will der Heiratspolitik und somit seinem Vaterland nicht mit seiner Verlobung im Wege stehen. Der positive Wandel wird erst durch die scheinbare Begnadigung des Kurfürsten hervorgerufen, der sehen will, „wie weit er's treibt“37, da der Prinz dem Kurfürsten indirekt als Versuchsobjekt dient. Erst danach rappelt er sich auf und lässt die Verzweiflung hinter sich, weil er eine indirekte Ablehnung gegenüber dem Kurfürsten hat37. Er will entweder nur durch ihn oder gar nicht begnadigt werden und es nicht selbst bestimmen. Somit scheint der Prinz von Homburg gegenüber dem Kurfürsten kurzfristitg zu dominieren. Genauso ist es auch bei der Faustinszenierung auf der Bühne. Schließlich glaubt Faust, „er sei der Boss und nimmt keine Rücksicht aufMephisto, z. B. als dieser ihm Schmuck für Gretchen besorgen soll. Jedoch ist Faust nicht der Boss, sondern meint es in manchen Szenen nur kurzfristig zu sein“[38].

Letztendlich sitzen jedoch Mephistopheles (weil er höhere Mächte und Fähigkeiten besitzt) und der Kurfürst (aufgrund seines Standes bei Gericht) am längeren Hebel. Das bedeutet also, dass Faust genauso abhängig von Mephistopheles, wie der Prinz von Homburg vom Kurfürsten ist.

Faust wird hingegen durch Gretchen immer mehr von seinen leidenschaftlichen Trieben beflügelt, die ihn rücksichtslos, eitel, impulsiv und arrogant werden lassen. Faust kostet die Genüsse seines neu gefundenen Lebensglücks über legale Grenzen hinaus aus[39]. Trotzdem verneint er sich im Gegensatz zu dem Prinzen von Homburg nicht. Mephistopheles' Versuche, ihn zu einer eigenen Verneinung zu bringen, scheitern, der Kufürst erreicht hingegen sein Ziel, dass der Prinz sich verneint.

Das Streben nach Erkenntnis und Leidenschaft lässt bei beiden die Vernunft in den Hintergrund treten, sodass Faust nicht die Konsequenzen für Gretchen und der Prinz von Homburg nicht die Konsequenzen für seine Krieger bedenkt. Bei dem Prinzen von Homburg lässt es sich dadurch erkennen, dass er durch das „Streben nach Ruhm in der Schlacht bestärkt (wird), was er zunehmend aggressiv zum Ausdruck bringt“[40]. Deswegen gleichen sich die Absichten des Pakts von Mephistopheles und Faust mit dem unüberlegten, jedoch erfolgreichen Angriff bei der Schlacht bei Fehrbellin. Beide erreichen vorerst ihre Ziele mit ihrem Handeln. Somit sind diese Situationen die Expositionen, die den weiteren Konfliktverlauf beider Lektüren bestimmen. So gleichen sich auch die seelischen Folgen für Gretchen, die durch Faust vorangetrieben werden, mit der Verurteilung des Prinzen von Homburg. Dieser trägt ebenfalls seelische Folgen, wie z. B. das Gefühl der Einsamkeit davon, auch wenn sein Ende gut ausgeht. Dies steht wiederum im Gegensatz zu dem Ende der Gretchentragödie.

3. Bezug zu dem Autor

3.1 Prägungen und persönliche Eigenschaften Goethes im Urfaust

Im Jahre 1775 erscheint der Urfaust[41] von Johann Wolfgang von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; f 22. März 1832 in Weimar41), mit dessen Arbeit er zuvor im Jahre 1773 begonnen hatte41. Schon früh hatte Goethe das Volksbuch des Dr. Faust gekannt und war mit dem Inhalt vertraut41. Dabei ließ er eigene Charakterzüge und Erfahrungen aus seinem Leben mit in den Urfaust einfließen, welche auch in seinen weiteren Faustvariationen zum Ausdruck kommen.

Im Jahre 1753 bekommt der junge vierjährige Goethe ein Puppentheater von seiner Großmutter geschenkt, welches für seine späteren Werke von besonderer Bedeutung wird41. Sein Interesse wird im Jahre 1770 erweckt, als er erneut die Bekanntschaft mit einem Puppenspiel macht:

„Die bedeutende Puppenspielfabel des andern (Faust, R. B.) klang und summte gar vieltönig in mir wider. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden“41.

Die Puppenspiele befassten sich mit dem Fauststoff und begannen dabei immer mit einem Monolog Fausts41, wie auch bei Goethes Urfaust. An den Niederdeutschen Bühnen Münster e. V. hatte man dessen Bedeutung durch die geänderte und belustigerende Anfangs- und Schlussszene hervorgehoben, damit die Zuschauer besser Notiz davon nahmen und sie es indirekt mit dem Fauststoff in Verbindung bringen konnten[42].

In dem oben genannten Zitat wird Goethes Erkenntnisdrang deutlich und dass er ebenfalls um sein Wissen wusste sowie das Gefühl des Umhergetriebenseins hatte. Diese Charakterzüge lassen sich auch bei Faust wiederfinden[43]. Demnach sah „Goethe seinen Faust nicht als überhöhte nationale Mythenfigur an, sondern als widersprüchlichen Menschen, der ebenso nach Erkenntnis drängte wie er Vernichtung brachte“41.

[...]


[1] s. Quelle 5), im Anhang. S.29.

[2] s. Quelle I, S.387 „Dass ich erkenne, was die Welt/ Im innersten zusammenhält“; S.388 „Warum ein unerklärter Schmerz / Dir alle Lebensregung hemmt“, S.400.

[3] s. Quelle 2), im Anhang. S.23, Z.395-397.

[4] s. Quelle I, S.407: „Binn weder Fräulein weder schön, / Kann ohngeleit nach Hause gehen“.

[5] s. Quelle I, S.387.

[6] s. Interview im Anhang. S.17, Z.94f.; S.19, Z. 197-199.

[7] s. Quelle 6), im Anhang. S.29, Z.713-717.

[8] s. Quelle III,S.115; 86.

[9] s. Quelle 10), im Anhang. S.34, Z.982 f.

[10] s. Quelle I, S.392-394; 391;387; 391: „GEIST. Du gleichst dem Geist, den du begreifst, /Nicht mir“.

[11] s. Quelle 16), im Anhang. S.40, Z.1297-1299.

[12] s. Quelle 7), im Anhang. S.32, Z.863-866; S.33, Z.890 f. „Veränderung des Einzelnen“.

[13] s. Quelle 12), im Anhang. S.37, Z.llll f.

[14] s. Interview im Anhang. S.20, Z.218-221; S.21, Z.269 f.; S.17, Z.84-87; S.69; 74 f.

[15] s. Quelle 16), im Anhang. S.41, Z.1302 f.

[16] s. Quelle III, S.45; 83.

[17] s. Quelle I, S.51 ff.

[18] s. Themenpunkt 3.1, S.ll.

[19] s. Interview im Anhang. S.21, Z.266-268; S.20, Z.210-215, 218; S.18,Z.112 f., 113 f., 128 f.

[20] s. Quelle III, S.47; 88; 92.

[21] s. Quelle III, S.92; 118; 90.

[22] s. Quelle I, S.407; 410; 433; 446.

[23] s. Interview im Anhang. S.18, Z.148-153; S.21, Z.265-268.

[24] s. Quelle 10), im Anhang. S.35, Z.998-1001.

[25] s. Quelle III, S.118; 79;93; 115

[26] s. Interview im Anhang, S.19, Z.165 f.; S.20, Z.229 f.

[27] s. Quelle I, S.447.

[28] wie bereits im Themenpunkt 2.1,S.3 ff. erkläutert.

[29] s. Quelle II, S.3 (Regieanweisung oben).

[30] s. Quelle IV, S.53.

[31] s. Quelle 11), im Anhang. S.36, 1066 ff.

[32] s. Quelle IV,S.54, 53.

[33] s. Quelle II, S.57,V.1351 ff.; S.76, Z.1850 ff.

[34] s. Quelle III, S.117.

[35] s. Quelle I, z. B. S.447: „Leb wohl, Heinrich“.

[36] s. Interview im Anhang. S.20, Z.250 f.

[37] s. Quelle U, S.41, V.924 ff.; S.5, V.64; z.B. S.29, V.617: „Nein,sag-! Wer bringt mir-?“, lässt auf eine unbewusste Ablehnung schließen.

[38] s. Interview im Anhang. S.17 f., Z. 101-106.

[39] wie bereits in Themenpunkt 2.1.1, S.6 ff. erläutert.

[40] s. Quelle IV, S.54.

[41] s. Quelle III, S.6; 9-14; 22; 30; 9; 25; 113.

[42] s. Interview im Anhang. S.17,Z.64 ff.

[43] s. Themenpunkt 2.1, S.3 ff.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Goethes Urfaust am Theater. Spezifische Persönlichkeitsmerkmale der Hauptfigur
Veranstaltung
Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert - unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung des Dramas
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
37
Katalognummer
V376073
ISBN (eBook)
9783668558076
ISBN (Buch)
9783668558083
Dateigröße
6534 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Urfaust, Goethe, Facharbeit, Abitur, Alexander-Hegius-Gymnasium, Realschule im Vestert, RiV, AHG, Niederdeutsche Bühnen Münster, Ulricht Tarner, Uli Tarner, Lisa Tretow, Sabine Brockmann
Arbeit zitieren
Lisa Tretow (Autor:in), 2010, Goethes Urfaust am Theater. Spezifische Persönlichkeitsmerkmale der Hauptfigur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/376073

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