Ästhetik und Geschichtsphilosophie um 1800. Zu Schillers "Die Götter Griechenlands" und Novalis' "Hymnen an die Nacht"


Bachelorarbeit, 2016

35 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Geschichtsphilosophie um 1800

3. Friedrich Schiller - Die Götter Griechenlandes
3.1 "Elegisch in der Empfindungsweise" - Gegenentwurf der seelenlosen Gegenwart
3.2 Kontrastierung der seelenlosen Gegenwart mit einer »idealischen« Vergangenheit

4. Friedrich von Hardenberg - Die Hymnen an die Nacht
4.1 Die Hymnen an die Nacht - strukturgebender Aufbau
4.2 Die V. Hymne an die Nacht - frühromantische Mittlerreligion?
4.3 Exkurs - Novalis' sechste Hymne an die Nacht

5. Ausblick - Weiterentwicklung eines religionsgeschichtlichen Theorems?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die nachfolgende Ausarbeitung zur »Ästhetik und Geschichtsphilosophie um 1800« untersucht die literarischen Auseinandersetzungen mit kontemporären geisteswissenschaftlichen Strömungen zur Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Das Werk zeitgenössischer Autoren scheint besonders durch die Wahrnehmung einer als ungenügend empfundenen Gegenwart und deren Kontrastbild einer idealen Zukunft beziehungsweise der retrospektiven Überhöhung einer »goldenen Vergangenheit« geprägt. Besonders der von Frankreich ausgehende Impuls der Querelle des Anciens et des Modernes - welcher in Deutschland maßgeblichen Einfluss auf die wahrgenommene Differenz der historischen Epochen ausübt - als scheinbar elementarer Streitfrage, welchen kulturellen und literarischen Vorbildern beziehungsweise Modellen der Vorzug gegeben werden solle, eröffnet einen Rahmen, der weiter zu untersuchen ist. Dieser Streit scheint jedoch eher einem allgegenwärtig erfahrbaren fundamentalen Krisenbewusstsein, welches aus den neuesten naturwissenschaftlichen sowie philosophischen Erkenntnisse erwächst, geschuldet. Die Misere der eigenen Zeitlichkeit, die modernem Gedankengut entwächst, wird als zentrale Thematik zeitgenössischer Autoren zu verarbeiten gesucht, indem diese sich unkonventioneller respektive antiquierter Sujets entsinnen, die über das bloße Faktum der Konsequenz der Streitfrage hin zur Ursache sowie Vorbild einer gewissermaßen allumfassenden Verarbeitungstendenz erhoben werden. In diese Tradition können auch die gewählten Werke der Untersuchung eingeordnet werden, die zu diesem Zweck im Folgenden der genauen Analyse und Interpretation bedürfen.

In einer ersten Annäherung soll jedoch zunächst das vorherrschende Gefühl selbigen Ungenügens näher charakterisiert werden, um daraus resultierend die zeitgenössischen Autoren Friedrich Schiller und Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, sowie deren gegenwartskritisch einzuordnende Gesinnung anhand der expliziten literarischen Verarbeitung zu untersuchen. Zuerst wird zu diesem Zweck eine textimmanente Interpretation der Götter Griechenlandes1 durchzuführen sein, um anhand dieses exemplarischen Werkes die literarische Verarbeitung Schillers zu charakterisieren. Selbiges Prinzip liegt der Interpretation der Hymnen an die Nacht2 zu Grunde, jedoch bietet es sich an die V. Hymne an die Nacht innerhalb der ihr eigenen Sonderstellung zu lesen, da sie sich als Antwort der Götter Griechenlandes, gar über diese hinaus verweisend, lesbar darbietet. Diese Hinwendung, und an dieser Stelle zu untersuchende Ausweitung eines literarischen Vorbilds, die Novalis' V. Hymne an die Nacht zu sein scheint, ist entscheidend für die Auswahl der beiden grundlegenden Texte der Primärliteratur. Gerade die literarisch ausformulierte Auseinandersetzung besagter Autoren erscheint interessant, da Novalis bereits vor der literarischen Gestaltung der Hymnen an die Nacht zu einer Apologie von Friedrich Schiller3 anhebt, die eine Beschäftigung mit vorgegebenem literarischem Gut andeutet. Im Gegensatz zu Novalis' Apologie lassen sich die Hymnen an die Nacht als eine literarisch modifizierte Antwort, welche die retrospektive Klage der Götter Griechenlandes zurückweist und zu einer geschichtsphilosophischen Betrachtung anhebt4, lesen. Um die These, dass die V. Hymne als spezifische Antwort auf die Götter Griechenlandes lesbar sei, bestätigen oder falsifizieren zu können, muss in einem vorherigen Schritt eine genaue Analyse und werkgetreue Interpretation der übrigen Hymnen erfolgen, um einen größeren literarischen Zusammenhang aufspannen zu können. Dabei erscheint es naheliegend, die ersten vier Hymnen als Wegbereiter zur Entfaltung der V. Hymne anzusehen, welche im Anschluss das Fundament einer dichten Analyse zur Untersuchung der literarischen Antwort Novalis' - hinsichtlich einer als ungenügend empfundenen Gegenwart - bilden.

Nach Amtmann-Chornitzer sind gerade Die Götter Griechenlandes sowie Novalis' Hymnen an die Nacht als "Zeugen einer neuen Geistesbewegung"5 zu interpretieren, weswegen diese als literarische Grundlage vorliegender Untersuchung herangezogen werden. Dies soll jedoch nicht in einseitiger Art und Weise geschehen, vielmehr erscheint es notwendig die verbindenen Elemente beider Texte zu untersuchen und nachzuzeichnen, um nachzuweisen, inwiefern gerade die Hymnen an die Nacht über ihr literarisches Vorbild hinauszuweisen scheinen. Zusätzlich ist es erforderlich zeitgenössische Autoren sowie literarisch-historische Ansätze zu nennen, die das literarische Werk Friedrich Schillers sowie Novalis' entscheidend geprägt haben. Da besonders die V. Hymne an die Nacht als literarische Antwort Novalis' auf die Götter Griechenlandes gelesen wird, sollen in einem anschließenden Ausblick beide Werke unter der übergeordneten Zeigeabsicht untersucht werden. Besonders der angedeuteten literarischen Bewältigung einer entfremdeten Gegenwart ist vorliegende Arbeit gewidmet, da sowohl die Götter Griechenlandes als auch die Hymnen an die Nacht auf einen zeitlich identischen Ausgangspunkt zurückführbar sind. Desweiteren soll auch der Fragestellung einer möglichen literarischen Ausweitung nachgegangen werden, die in den Hymnen an die Nacht erkannt werden kann. Um diesem Vorhaben entsprechen zu können, muss jedoch zuvor ein kurzer Überblick über die zeitgenössische Stimmung präsentiert werden, welche der folgende Abschnitt präsentiert.

2. Geschichtsphilosophie um 1800

Wie Dichter aller Zeiten, träumten auch jene des 18. Jahrhunderts den uralten Menschheitstraum vom ehemaligen Paradies. Gemeinsam, wenn auch auf eigene Art, schwärmten sie von einem goldenen Zeitalter, einem blühenden Arkadien, malten in ihren Dichtungen ein ideales, utopisches Bild der antiken Welt6.

Charakteristisch für die Zeit um 1800 ist ein starkes Gefühl des Ungenügens bezüglich der eigenen Zeit. Die verstärkte Reflektion moderner Entfremdungserfahrungen werden mit dem Entwurf eines ganzheitlichen idealen Zeitalters konfrontiert7. Dabei ist letzteres durch die "doppelpolig einander zugeordneten 'Vorzeit' und 'Zukunft'"8 charakterisiert. Ein "ideales, utopisches Bild der antiken Welt"9 wie es einleitend heißt, kann dabei auf das »utopische Totum« nach Bloch bezogen werden: "Es ist ein Fernziel ohne endgültige Festlegung, ein Zustand, der total anders als die bestehende Wirklichkeit ist"10. Novalis greift dies als "Folie seines utopischen Gegenentwurfs zur zeitgenössischen Wirklichkeit und seiner Kritik an ihr"11 auf. Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und den einsetzenden revolutionären Entwicklungen in Frankreich, deren Gedankengut auch auf Deutschland überspringt, wird die Sinnfigur des "Genius Griechenlands"12 assoziiert. Die einsetzende "Gräcomanie"13 greift den in Frankreich bereits ausklingenden Diskurs über die sogenannte Querelle des Anciens et des Modernes, der ästhetischen Diskussion über die antike Poesie erneut auf, welcher eine nachweisliche literarische Entfaltung der in dieser Ausarbeitung grundlegenden Autoren Schiller und Novalis erfahren hat. Während in Frankreich jene Streitfrage zugunsten der Moderne aufgelöst scheint, findet sich in Deutschland eine Bevorzugung der antiken Vorbilder, die auch die Stilfigur des "deutschen Idealismus"14 hervorbringt. Diese wird, im Unterschied zur Einflussnahme des antiken griechischen Archetyps auf andere europäische Völker, als eine "hoffnungslose Neigung zum Absoluten"15 charakterisiert, und erhält somit einen faden Beigeschmack, dessen Darlegung jedoch nicht Bestandteil der Ausarbeitung sein soll. Das Ideal gilt per definitionem als Vermutung "von etwas Vollkommenen und deshalb Erstrebenswerten"16. Da der Idealismus der Deutschen durch ein pessimistisches Lebensgefühl geprägt scheint17, schließt sich der naheliegende Gedanke an, dass die "Vorbilder einer idealen Vollkommenheit nicht im Leben, in der Wirklichkeit der Gegenwart, sondern nur in einer untergegangenen und vergangenen Welt zu finden sein können"18. Darin begründet liegt die starke Anziehungskraft des antiken Griechenlands, welche explizit in den Göttern Griechenlandes als auch in den Hymnen an die Nacht verarbeitet wird. Ausgehend von dieser Erkenntnis soll nun im Folgenden durch textgetreue Analyse der Götter Griechenlandes die Verarbeitung der als ungenügend empfundenen Gegenwart präsentiert und der literarisch formulierte, philosophisch-religiös erscheinende Gegenentwurf dargestellt werden.

3. Friedrich Schiller - Die Götter Griechenlandes

Friedrich Schiller, den ebenso wie Novalis eine Freundschaft mit den Brüdern Schlegel verbindet - weswegen eine Einflussnahme selbiger auf seine Werke naheliegend erscheint - setzt sich intensiv mit zeitgenössischem Gedankengut auseinander19. Besonders Bürgers Vigil der Venus und Wielands Grazien prägen seine Vorstellung eines antiken Griechenlands20, so dass sich bereits früh auf die literarische Verarbeitung eines "seit langem tradierten Mythos unbeschwert- idylllischen Lebens"21 verweisen lässt. Darüber hinaus gilt ebenfalls der Weimarer Aufenthalt 1787/88 als Anstoß der Beschäftigung mit der griechischen Antike22. Schillers geschichtsphilosophische Konzeption, die ein vergangenes Paradies zum Ausgangspunkt der entfremdet empfundenen Jetztzeit heranzieht, und gleichzeitig ein antithetisches Spannungsfeld christlicher Überlieferungen, als dem Geist der Neuzeit, gegenüber der antiken Kultur, dargestellt durch den "klassischen Griechenlandmythos"23, aufbaut, soll im folgenden Abschnitt durch werksgetreue Interpretation relevanter Stellen des Gedichts Die Götter Griechenlandes herausgearbeitet werden. Den damaligen Autoren dient die Antike "als Spiegel, in dem die Zeitgenossen sich und ihre Gegenwart erfassten und schmerzlich ihre Defizite entdecken mussten"24. Auch in Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung finden sich zahlreiche Verweise, die als Wegbereiter einer sehnsuchtsvoll-rückwärtig gewandten Betrachtung des antiken Griechenlands gedeutet werden können25. Im Anschluss gilt es nach Verbindungen und Einflüssen zu suchen, die in der Folgezeit Dichter wie beispielsweise Novalis in ihren Bann geschlagen haben, und ihrerseits zu einer Übernahme des alttradierten Mythos geführt haben, die in einem abschließenden Ausblick thematisiert werden sollen. Im folgenden

Abschnitt soll nun zunächst eine Interpretation der Götter Griechenlandes geschehen, die grundlegend für die Erarbeitung des religionsgeschichtlichen Entwurfes ist.

3.1 "Elegisch in der Empfindungsweise"26 - Gegenentwurf der seelenlosen Gegenwart Die erste Publikation der Elegie Die Götter Griechenlandes lässt sich im März 1788 auf Anregung Wielands in Der Teutsche Merkur wiederfinden. Die Elegie setzt "bei der Darstellung des Ideals ein und betrauert dessen nicht gegebene Realität"27, weswegen es sich anbietet Schillers Gedicht nachfolgend dementsprechend zu untersuchen, wobei der ersten Fassung der Götter Griechenlandes besonderes Augenmerk zuteilwerden soll. An einigen Stellen scheint es jedoch sinnvoll auch die zweite, spätere Fassung (1793), welche unter anderem der Kritik Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs geschuldet ist28, analytisch zu betrachten, um gewichtige Änderungen - so sie die Aufgabenstellung der vorliegenden Arbeit zu stützen vermögen - in den Fokus zu rücken.

Die Götter Griechenlandes gelten als zentrales lyrisches Zeugnis Schillers "klassische[r] Wende"29. Wielands Einfluss wird in der Forschung vor allen Dingen in der Klanggestalt des Gedichtes sowie bestimmter Verszeilen gesehen, die synonym für den "Einfluss eines rokokohaften Antikebildes"30 gedeutet sind. Des Weiteren gilt Wielands Werk Gedanken über die Ideale der Alten als grundlegend für Schillers Konzept "einer idealischen, die Wirklichkeit transzendierenden Kunst"31, die sich inhaltlich der klassizistisch gesehenen Antike bedient32 und auch in der strengen, ebenmäßigen äußeren Form des Gedichtes nachweisbar ist33. Der elegische Klang, zusätzlich gestützt durch einen eingängigen Rhythmus sowie eine "gefällige Sprachmelodie"34, konstituiert den formalen Aufbau. Selbiger umfasst 25 Strophen, ihrerseits aus acht fünfhebigen trochäischen Versen bestehend, welche in Kreuzreimversen niedergeschrieben sind. Auch der jeweils letzte Vers ist - mit Ausnahme der Strophen 4, 7, 13, 14, 17, 19 und 25 - "um eine Hebung elegisch verkürzt"35. In der später erschienenen zweiten Fassung sind die zuvor noch bestehenden metrischen Unregelmäßigkeiten gestrichen, der äußere Umfang auf 16 Strophen verkürzt, die zudem einer strengen Gliederung in elf »griechische« und vier »moderne« Strophen unterliegen36. Diese Änderung der zweiten Fassung lässt sich durchaus auf Schillers Weltverständnis beziehen, da jener dem Idealbild der Griechen ein "düsteres Bild der modernen Menschlichkeit"37 entgegenstellt, welches erst durch die letzte, sechzehnte Strophe, die als Versöhnung der Gegensätze fungiert, gelöst wird38. Nachfolgende Untersuchung wird sich nun zunächst der ersten Fassung bedienen. Auch der Titel dient der Entfaltung der zentralen Thematik der Götter Griechenlandes, indem er eine geographische und zeitliche Einordnung zulässt39. Inhaltlich offenbart sich eine sehnsüchtige Beschreibung und Hinwendung zu einer vergangenen, archaischen Welt, die Klaus Eggensperger wie folgt zutreffend zusammenfasst:

In his poem 'Die Götter Griechenlands', Schiller highlights the difference between an idealised classical Greek society conceived as an organic whole in harmony with itself, on one hand, and modern eighteenthcentury Europe, on the other, with its fragmentation and challenging materialism40.

Die Divergenz der anklingenden Kritik an einer »fremden« Gegenwart und der vergangenen Zeit, welche ganzheitlich als harmonisches Miteinander göttlicher und menschlicher Wesen erfahrbar ist41, erscheint als inhaltliches Herzstück des Gedichts. Die inhaltliche Thematik wird formal durch die einleitenden sechzehn Verse unterstützt, die der Beschreibung des vergangenen idyllisch anmutenden Zeitalters durch ausgewählte Adjektive wie »schön«, »glücklich«, »edel« oder »himmlisch« in einer beinahe lexikonartig erscheinenden Reihung, welche Einblicke in einen nahezu entrückten Zustand ermöglichen, verpflichtet sind. Der "Vorwurf des Versandens im gelehrten mythologischen Detail"42 erscheint an dieser Stelle unangebracht, vielmehr wird eine Assoziationskette entworfen, die einen Zugang zur Antike ermöglicht. Zusätzlich zu dieser zuerst bloß adjektivischen Reihung werden zweitens Namen der griechischen Mythologie angehäuft, welche ebenfalls Zugang in den tradierten Kontext bieten und gleichzeitig in Interaktion mit dem Titel agieren. Durch Wielands Einfluss wählt Schiller bewusst solche Bilder der griechischen Antike, welche die Intaktheit selbiger verdeutlichen43 und durch ihre Verwendung die Vorstellung einer zuvor ungeteilten Lebenssphäre evozieren44. Jene belegt zudem die Spannung des Abstands zwischen Antike und Moderne, die charakteristisch für Schillers Elegie ist - "ein dogmatisch verzerrtes, gefühlsarmes Christentum und die theoretische Kultur der Aufklärung bilden die zentralen Gegenstände der Gegenwartskritik, die die Elegie vor dem Hintergrund ihrer Verherrlichung des antiken Griechenland vorträgt"45.

Bereits der klagend vorgetragene Ausruf "Ach!"46 weist auf die retrospektive Sicht hin, welche Schillers markanter Verfahrensweise - die dem elegischen Dichter eigen sei - erzeugt47. Beißner allerdings entwirft einen Rahmen, der das Gedicht als "elegisch in der Empfindungsweise"48 betitelt. Dieser, der lyrischen Tradition verhaftete, seufzend ausgestoßene Laut bildet in der ersten Strophe den "Ausgangspunkt einer Gedankenwanderung in längst vergangene, herrliche Zeiten, in das goldene Zeitalter der Antike"49. Der durch das erste Wort des Gedichts - "Da"50 - eingeleitete Temporalsatz, der in Kombination mit dem Wort "noch"51 einen unwiederbringlich verlorenen Zustand beschreibt52, stärkt das wahrnehmbare Phänomen. Die im Präteritum gebrauchten Verben am Ende der Verszeile der ersten Strophen sowie die erneute Anführung der genannten Temporalbestimmung betonen, dass Vergangenes thematisiert wird53. Im Anschluss an die harmonisch präsentierte Vergangenheit folgt in der dritten Strophe eine Wende54. Der Kontrast zwischen belebter Vergangenheit und der seelenlos empfundenen Gegenwart wird durch eine retrospektiv erblickte Wiederbelebung der umgebenden erstarrten Dinge intensiviert55. Durch Spiel mit zeitlichen Adverbien wie den gegenübergestellten »jetzt« und »damals« sowie »einst«, und den Tempuswechsel wird ein zweipoliger Entwurf von harmonisch-ganzheitlicher Vergangenheit sowie "deprimierend anmutender Gegenwart"56 präsentiert. Dieses antithetische Prinzip gilt nach Keller als eine Grundform Schillers pathetischen Stils57, welche sich auch in jenem Werk niederschlägt, gar als strukturbildend im "tektonischen Aufbau des Gedichts"58 angesehen werden kann59. Einerseits schlägt sich dies in der "gegenstrebigen Fügung"60 der Makroebene ganzer Strophen, welche im Gegensatz zur bitteren Empfindung der »entseelten« Jetztzeit (17., 19.-25. Strophe) das Vergangene sehnsüchtig besingen (4.-10., 12., 16., 18. Strophe), nieder. Zusätzlich wird die antithetische Struktur in der direkten (3., 11., 13. Strophe) gegenüber einer indirekten Kontrastierung (1., 2., 14., 15. Strophe) der erwähnten Konstellation innerhalb der Mikroebene einer Strophe deutlich61. Die erste Strophe weist keine ausdrückliche Nennung des Gegenbildes des idealisiert dargestellten antiken Griechenlands auf, jedoch erscheint selbiges als gegenwärtig im Ton62. Der ausgeprägte Kontrast zwischen Vergangenem und Gegenwart entwirft durch "Worte wie Totenglocken: anders - anders"63 eine Atmosphäre von Trauer und Schmerz, der man sich nicht entziehen kann64. Gezielte grammatische und formale Bearbeitung prägen den bereits angesprochenen elegischen, sehnsüchtig klagenden Ton des Gedichtes. Die Verwendung des Präteritums, eine komparativische Beschreibung der vergangenen Zeit oder das anaphorisch gebrauchte "noch"65 stehen sinnbildlich für einen als Verlust empfundenen Zustand, welcher antithetisch dem Wohlklang jener Verse gegenüber steht, welche die mitunter rauschhaft empfundene von Göttern erfüllte Welt beschreiben66 und in den schließenden Ausruf "Venus Amathusia"67 gipfeln. Selbige gilt als Schirmherrin dieser ganzheitlich erfahrbaren Welt, als "Göttin der Ganzheit und Einheit, eine Brücke, die [...] wenigstens für Augenblicke das begrenzt Menschliche mit der Ewigkeit des Göttlichen zu verbinden vermag"68. Diese "innere Antithese"69 ist Demmer zufolge deckungsgleich mit der Griechenauffassung der Frühklassik und zugleich Grund des formal entworfenen Wechsels zwischen "hymnische[r] Feier und elegische[r] Klage"70. Ein "Abgleiten in den Affekt"71 wird lediglich durch die streng wirkende formale Gestaltung, das Präteritum sowie die im Komparativ gehaltene Reihung von Adjektiven verhindert, welche die »entseelte« Jetztzeit andeuten72 und letztlich doch wieder in eine Verdrängung des klagenden, retrospektiven Tons - durch ausführliche, euphemistische Schilderung der Vergangenheit - erneut die Erfahrung jener ganzheitlichen Welt in den Vordergrund stellt, gipfelt73. Ein weiteres Indiz für die Ablösung der sehnsüchtigen Klage nach einer vergangenen goldenen Zeit durch die Hoffnung einer harmonische Verschmelzung, gleichbedeutend mit der Etablierung eines hymnisch anmutenden Tons, wird durch die Verwendung des Komparativs erbracht, welcher ab der siebten Strophe in Form gesteigerter Adjektive sowie Adverbien einsetzt74. In der zehnten Strophe erreicht die Vergegenwärtigung der vergangenen Zeit durch den Tempuswechsel ihren Höhepunkt, die idealisierte Darstellung wird zum Klimax hin entwickelt, der elegische Ton, gleichsam die elegische Empfindung verdrängt75. Der Gott des Weines, Dionysos respektive Bacchus, erscheint im Gefolge eines Freudenzuges. Frühwald attestiert, dass in jener "Darstellung des Freudengipfels das schärfste Bewußtsein [sic!] des Verlustes evoziert"76 wird. Die »Schillerschen Komparative« scheinen das Preislied der Vergangenheit in eine Erlösungssehnsucht zu verwandeln77. Auffallend ist die markante Zäsur an dieser Stelle, die das Gedicht exakt in der Mitte teilt78. Die zunächst kulturgeschichtlichen, ab der neunten Strophe anthropologischen Komparative bedingen den in der elften Strophe angeführten Vergleichspunkt79. Neben das bunte Treiben und Lärmen des im Zuge des Dionysos folgenden Festes und den rauschhaften Empfindungen tritt nun eine "traur'ge Stille"80. Diese steht einleitend und gleichbedeutend für die als kalt, finster und freudlos empfundene Jetztzeit81. Das kontrastierende Element wird aufs Neue in der Konfrontation der antiken Götter und des »deus absconditus« entfaltet82. Der klagend-elegische Ton, der bis dato durch Erhöhung positiver Merkmale der menschlichen Existenz utopisch gemahnendes Vergangenes betrauert, tritt in veränderter Ausprägung erneut zu Tage. Eingeleitet durch das Adverb "damals"83 werden der idealisiert angepriesenen Vergangenheit die widrig erscheinenden Aspekte der Gegenwart in einem Verhältnis der bis dato Nicht-Existenz84 gegenübergestellt, so dass Amtmann-Chornitzer konstatiert: "Das Gefühl der Unzufriedenheit mit der Gegenwart verdrängt nun jenes des Wohlgefallens an der Antike, welches bisher vorherrschte"85. Eine Steigerung des elegischen Klangs ist die Folge des Perspektivwechsels. Bis zur neunzehnten Strophe überwiegt, durch "Aneinanderreihung mythologischer Bilder, die das Vergangene immer eindringlicher, überwältigender und damit auch gegenwärtiger"86 schildern, ein sehnsüchtiges Verhaften in der Vergangenheit. Dies wird durch den elegischen Ton des Gedichts verstärkt, es scheint, als sei selbiger "die einzige Möglichkeit, das verlorene Griechenland und dessen mythische Welt gegenwärtig werden zu lassen"87.

[...]


1 Vgl. FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke

2 Vgl. SAMUEL/MÄHL, / Novalis. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel ; 1 2

3 Vgl. NOVALIS, in: Schiller, Zeitgenosse aller Epochen, S. 114

4 Vgl. NOVALIS/BALMES, / Novalis. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel ; 3, S. 73

5 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 10

6 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 9

7 Vgl. AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 9

8 MÄHL, 7, S. 318

9 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 9

10 SEEBER HANS ULRICH, in: Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, S. 18

11 HEINRICH, 9, S. 45

12 HEINRICH, 9, S. 45

13 HEINRICH, 9, S. 81

14 BUTLER, S. 10

15 BUTLER, S. 10

16 BUTLER, S. 11

17 Vgl. BUTLER, S. 36

18 BUTLER, S. 37

19 SCHMIEDT/GRIMM, S. 111

20 Vgl. BUTLER, S. 198

21 SCHMIEDT/GRIMM, S. 111

22 Vgl. AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 41

23 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 10

24 EGGENSPERGER, Pandaemonium Germanicum 2005, S. 65

25 Vgl. z. B. FRIEDRICH SCHILLER, in: Philosophische Schriften und Gedichte, S. 333 5

26 BEISSNER, 14, S. 138f.

27 ALT, S. 216

28 STOLBERG FRIEDRICH LEOPOLD, in: Schiller, Zeitgenosse aller Epochen

29 LUSERKE-JAQUI/SCHILLER, 2595, S. 201

30 FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 254

31 BROKOFF JÜRGEN, in: Schiller-Handbuch, S. 263

32 Vgl. BROKOFF JÜRGEN, in: Schiller-Handbuch, S. 263

33 Vgl. KELLER, S. 161

34 ALT, S. 261

35 BROKOFF JÜRGEN, in: Schiller-Handbuch, S. 263

36 DEMMER SYBILLE, in: Klassik und Romantik, S. 37

37 LÜTGERT, Bd. 6, S. 138

38 Vgl. GROßE WILHELM, in: Klassik-Rezeption, S. 36

39 Vgl. SCHMIEDT/GRIMM, S. 117

40 EGGENSPERGER, Pandaemonium Germanicum 2005, S. 63

41 Vgl. FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 190

42 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 21

43 Vgl. ALT, S. 262f.

44 Vgl. BROKOFF JÜRGEN, in: Schiller-Handbuch, S. 263

45 ALT, S. 264

46 FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 190

47 Vgl. FRIEDRICH SCHILLER, in: Philosophische Schriften und Gedichte, S. 352

48 BEISSNER, 14, S. 138f.

49 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 19

50 FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 190

51 FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 190

52 Vgl. GROßE WILHELM, in: Klassik-Rezeption, S. 36

53 Vgl. GROßE WILHELM, in: Klassik-Rezeption, S. 37

54 Vgl. FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 190

55 Vgl. AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 20

56 SCHMIEDT/GRIMM, S. 117

57 Vgl. KELLER, S. 87f.

58 BROKOFF JÜRGEN, in: Schiller-Handbuch, S. 263

59 Vgl. FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 256

60 BROKOFF JÜRGEN, in: Schiller-Handbuch, S. 263

61 Vgl. BROKOFF JÜRGEN, in: Schiller-Handbuch, S. 263

62 Vgl. FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 256

63 BUTLER, S. 203

64 Vgl. BUTLER, S. 203

65 FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 190

66 Vgl. FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 256

67 FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 190

68 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 23

69 FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 256

70 DEMMER SYBILLE, in: Klassik und Romantik, S. 39

71 FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 258

72 Vgl. FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 258

73 Vgl. AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 21

74 Vgl. FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 191 9

75 Vgl. FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 191

76 FRÜHWALD WOLFGANG, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, S. 258

77 Vgl. WIESE, S. 408

78 Vgl. MULTHAMMER MICHAEL, in: Verteidigung als Angriff, S. 265

79 Vgl. LUSERKE-JAQUI/SCHILLER, 2595, S. 202

80 FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 192

81 Vgl. AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 26

82 Vgl. LUSERKE-JAQUI/SCHILLER, 2595, S. 202

83 FRIEDRICH SCHILLER, in: Friedrich Schiller: Werke, S. 192

84 Vgl. AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 27

85 AMTMANN-CHORNITZER, 111, S. 27

86 GROßE WILHELM, in: Klassik-Rezeption, S. 40

87 ALT, S. 265

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Ästhetik und Geschichtsphilosophie um 1800. Zu Schillers "Die Götter Griechenlands" und Novalis' "Hymnen an die Nacht"
Hochschule
Universität Trier  (Fachbereich II)
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
35
Katalognummer
V375827
ISBN (eBook)
9783668524958
ISBN (Buch)
9783668524965
Dateigröße
1046 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Die Götter Griechenlands, Novalis, Schiller, Hymnen an die Nacht
Arbeit zitieren
Ferdinand Pusinelli (Autor:in), 2016, Ästhetik und Geschichtsphilosophie um 1800. Zu Schillers "Die Götter Griechenlands" und Novalis' "Hymnen an die Nacht", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/375827

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