Spiegelungen des Ignis sacer in der Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altars


Ausarbeitung, 2017

107 Seiten, Note: Nicht benotet


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Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung und Fragestellung

B. Ilaupttcil

Kapitel A: Beschreibung der Krcuzigungsdarstellung des Altars

Kapitel Al: Bildbeschreibung des li. Seitelflügels mit dem hl. Sebastian

Kapitel A2: Bildbeschrcibung des re. Seitenflügels mit dem hl. Antonius

Kapitel B: Der heilige Antonius. Leben und Bedeutung

Kapitel C: Der Antoniterorden und Isenheim

Kapitel D: Das Antoniusfeuer oder „Ignis sacer“

Kapitel E: Kreuz und Kreuzigung, Bedeutung und Entwicklung

Kapitel F: Johannes der Täufer, Ikonologie

Kapitel G: Maria Magdalena, Rolle im Leben Jesu

Kapitel H: Maria. Mutter Jesu, liturgische Bedeutung und ihre veränderte Darstellung in Grünewalds Kreuzigung

Kapitel I: Der heilige Antonius in der Kunst nach Grünewald, am Beispiel einer Darstellung von Felicien Rops aus dem Jahr 1878

C. Schlußteil : Zusammenfassung

D. Quellenangaben

E. Literatur

F. Bildnachweise

Λ. Einleitung

Es soll in dieser Arbeit versucht werden , die besondere Bedeutung des Isenheimer Altars für die Bild- und Kunstgeschichte auch späterer Generationen herauszuarbeiten vor der Folie, daß auch Künstler des 20. Jahrhunderts wie z.B. Pablo Picasso bei der Arbeit an „Guemica“ sich längere Zeit mit Mathis Grünwalds Isenheimer Altar befasst hat.

Die ungeheure Komplexität und Größe des Werks als auch die kaum überschaubare Men­ge an Literatur erfordern im Rahmen dieser Thematik die Beschränkung auf einen Teilaspekt des Altars , hier die Kreuzigungsdarstellung.

Es soll zunächst kurz eingegangen werden auf die wenigen , bekannten Daten des Künstlers Matthias Grünewald, auf die Bedeutung des Ortes Isenhcim für den Antoniterorden, der schon deutlich vor der ersten „Krankenhaus“-gründung in Deutschland - 1530 die „Heilig­Geist-Hospitale“ in Nürnberg und Lübeck sich als Hospitalordcn um Kranke im weitesten Sinne gekümmert hatte.

Es soll dann kurz der Aufbau und die Größenverhältnisse des Gesamtretabels besprochen werden. Weiterhin kann kurz die Historie des Altars erwähnt werden.

Im folgenden Hauptteil wird zunächst an die Bedeutung des heiligen Antonius des Großen für die Geschichte des europäischen Mönchstums erinnert werden, mit dem Akzent auf der Askese in der Wüste, die Bedeutung von Wüste im Heimatland des Antonius -Ägypten- und der anderen Bedeutung von Wüste im neuen Testament bei den Wüstenaufenthalten des Johannes des Täufers und des Christus.

In einem weiteren Teil wird die Bedeutung des Antoniterordens in Europa und die Bedeu­tung des „Antoniusfeuers“ für den Hospitalordcn besprochen werden müssen, da nur so klar werden kann, welche Bedeutung von „Heilung“ und „Heil“ im Sinne von Seelenheil die Betrachtung des geschlossenen Retabels für die Patienten und Ordensbrüder unter Ein­schluß der Darstellung des heiligen Sebastians und des heiligen Antonius hatte. Nicht um­sonst wird im geöffneten Retabel - nur am Patronatsfest des Antonius geöffnet- wieder beiderseits der nicht von Grünewald stammenden Plastiken , die den Antonius flankiert vom heiligen Augustinus und Hieronymus zeigen- zwei „Episoden“ aus dem Leben des heiligen Antonius gezeigt. Die linke, welche den Besuch des Antonius beim heiligen Paulus darstellt ist mehr „kirchenhistorisch“ erwähnenswert, während die rechte Darstellung ein Ereignis thematisiert, welches diachron die gesamte Kunstgeschichte hindurch ein wesentliches Sujet der Kunst bis zu Max Emst, Max Beckmann und Salvatore Dali war, und besonders im 19. Jahrhundert nicht nur durch Gustave Flauberts 1874 erschienenen „Die Versuchung des heiligen Antonius“ auch die Literatur beschäftigte und Dinge wie das dämonische Weib ,welches neben anderen Dämonen den Heiligen „versucht“: ein Thema , das durch die ungeheure Bedeutung der Syphilis im 19. Jahrhundert neue Bedeutung erhielt, eine ähnliche Bedeutung hatte diese auch schon 1495 erlangt, so daß Dürer 1496 seine damals weit verbreitete Graphik des „Syphilitikers“ schuf. Auch beim Sacco di Roma 1527 spielte die sexuell übertragbare Seuche der Lues eine der­artige Rolle, daß die Erkrankung in Italien „die französische Krankheit“ genannt wird, weil sie durch frz. Söldner beim Einmarsch in Rom verbreitet wurde.

In der Phase der „decadence“ des französischen Autors Joris-Karl Huysmans beginnt, durch diesen initiiert, nach seinem Besuch des Altars in Colmar die Rezeptionsge­schichte Grünwalds im 19. Jahrhundert : „Man verläßt Grünewald und bleibt auf ewig in seinem Bann.“ Die „Zeit“ 52/200 l(Achatz von Müller) erwähnt Huysmans als Meisterfantasten der Schwarzen Romantik:“Mit seine gewalttätigen Apotheosen und wahnwitzigen Beinhausvisionen beschlagnahmt und bezwingt er uns, ein Barbar des Genies wild, freimütig und erkünstelt“. Was bei einem Huysmans, der „A rebours“ schrieb, ein Kompliment bedeutet, weil sein Protagonist des wichtigsten Werks, der adelige, dekadente Aesthet des Esseintes die These vertritt, daß alles Künstliche dem Natürlichen vorzuziehen sei. Das „A rebours“ wurde als eine Art Bibel der Dekadenzdichtung, des Symbolismus in der Literatur und l'art pour l'art zu einem Kultbuch. Durch Huysmans begann die Rezeptionsgeschichte der Malerei Grünewalds, neben den oben schon erwähnten Künstlern schrieb Paul Hindemith die Oper „Mathis der Maler“, sein Libretto war in den ersten Entwürfen direkt von Huysmans beeinflußt. Hindemith nannte den Schlußsatz aus der Symphonie Mathis der Maler denn auch: „eine Versuchung des Hl. Antonius“. Nicht zu vergessen sei der Nazi-Reichsleiter des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ für den der Isenheimer Altar auch ein Beleg für die „semitische Infiltration“ Europas war, was nicht Wunder nimmt, wenn man die Aversion des A. Rosenberg gegen alles „Expressionistische“ in der Kunst berück­sichtigt: ich denke hier an die Fassungen der Versuchung des Hl. Antonius von Max Beckmann (1936/37), Otto Dix (1939/1944) oder des Surrealismus eines Max Emst (1945) oder S. Dali (1945).

Im folgenden Hauptteil wird die Kreuzigungsdarstellung thematisiert und der Bildauf­bau sowie die Farbgebung besprochen werden müssen, die dargestellten Figuren in ihrer theologischen Bedeutung, auch zueinander, erwähnt werden müssen. Das wird auch für die heiligen Sebastian und Antonius gelten vor dem Hintergrund der Passions­frömmigkeit des Spätmittelalters . Bei der Thematisierung der Kreuzigungsdarstellung wird eingegangen werden müssen, auf möglich Darstellung von Symptomen des Antoniusfeuers bei den erwähnten Personen, insbesondere beim Inkarnat des gestor­benen Christus, aber auch der Körperhaltung der drei Figuren links unter dem Kreuz, also Johannes (Jünger) und Maria als auch Maria Magdalena sowie ihrer und Christi Händedarstellung, soweit sie nicht allgemein verständliche mittelalterliche Ausdrucks­formen sind.

Man wird nicht herumkommen um eine Besprechung der Marienmystik eines Bernhard von Clairv aux und ihrer Ausformungen im Spätmittelalter in Sinne eines Andachtsbildes - hier von gigantischem Ausmaß -wobei die Problematik des Andachtsbilds nicht in extenso verhandelt werden soll, dabei kann schon hinterfragt werden, ob diese Kreuzigungsdarsteliung nicht für den moribunden Menschen des Spätmittelalters ein „Andachtsbild“ war, wobei dieser Ausdruck ..Andachtsbild“ selbst eine Interpretationsschöpfung des 19. Jahrhunderts ist.

Der Ausdruck E. Panofskys „imago pietatis“ beinhaltet ja mehr als nur eine Darstellung der Kreuzigung. Die Passionsfrömmigkeit zu Zeiten eines Grünewald bedarf der Erwähnung in Zeiten der Pest mit der Entstehung der Kreuzgänge und der Passionsspiele.

In einem weiteren Kapitel muß das Wort „Kreuz“ und „Kreuzigung“ auch historisch weiter abgeklärt werden müssen, weil das deutsche Wort Kreuz nicht der Bedeutung des Wortes Kreuz in den lateinischen Sprachen kongruent ist. Auch die Bedeu­tung der Todesstrafe durch die Kreuzigung ist zu besprechen, weil die Kreuzi­gung eine besondere Form der Todestrafe darstellte und diese gerade bei Grünewald die tiefste Form des Todeserleidens als demütigendste Form sichtbar wird.

Welche Rolle spielt Johannes der Täufer in spätmittelalterlicher Kunst als der „Vor­läufer Christi? Stellt Grünewald ihn nur als Vorläufer so explizit dar, oder will er die Rolle als Wüstenanachoret betonen und damit die „Vorgängerschaft“ zum heiligen Antonius? Um diese Fragen beantworten zu können, muß in dem Kapi­tel genauer auf die Rolle des Täufers , auch in seiner Beziehung zu Jesus , beachtet werden.

Die Rolle Mariens in ihrer Beziehung zu Christus und ihre Rolle in der Passions­geschichte ab Bernhard von Cluny und ihre Beziehung zum Gläubigen als Co-Rcdcmtrix wird besprochen werden. Diese Rolle erscheint besonders wichtig, weil Grünewald die Darstellung Mariens mit einigen Fragezeichen versieht; die­se werden im Kapitel über Maria zunächst verifiziert werden.

Ein nicht zu vernachlässigendes Kapitel wird die Rolle der Maria Magdalena in der Passionsgeschichte sein, da auch hier Grünewald deutlich von den Darstellungen eines A. Dürers oder Lukas Cranach d. Ä. abweicht, die als Holzschnitte einige wenige Jahre im Umlauf waren. Zudem spielte die Rolle der sexuellen Sünderin in den Jahren einer hochvirulenten Syphilisepidemie ab 1495 eine wichtige Rolle im Verhältnis der Kirche zur sündigen Erkrankung der Gläubigen.

Im letzten Kapitel soll anhand eines Kunstwerks von 1878 die Bedeutung des Iscn- heimer Altars nochmals herausgestellt werden, welche sowohl die Kreuzigung als auch die Versuchung des heiligen Antonius in einem Bild vereint und sich so er­heblich von früheren und späteren Bildnissen des Themas unterscheidet.

Hier soll jetzt zunächst kurz auf die wenigen bekannten Fakten des Lebens des Malers Matthias Grünewald eingegangen werden: seine Namens- und Lebensdaten sind noch immer Gegenstand der Forschung. Er wird mit den Namen Mathis Nithart-Gothart, auch mit Mathis Gothart-Nithart bezeichnet. Sein Geburtort liegt wohl im Mittel­fränkischen um 1475 und sein Todesdatum scheint mit 1528-1532 im Bereich Halle an der Saale zutreffend. Sein heutiger Name stammt vom „deutschen Vasari“ Joachim von Sandrart, auf die vielen Namen , die ihm im Laufe der Geschichte zugeordnet wur­den soll nicht eingegangen werden. Ein eigentlicher Lehrer kann ihm ebensowenig zugeordnet werden wie eine von ihm gegründete Malschule. Er war Zeitgenosse von den deutschen Malern Albrecht Dürer (1471-1528), Lucas Cranach d.Ä. (1472-1553), Hans Holbein d.Ä. (ca. 1460-65 bis 1524), Hans Holbein d. J.( 1497-1543) und Hans Baldung Grien (1484/5- 1545) und den italienischen Malern Leonardo da Vinci (1452-1519), Michelangelo Buonarotti (1475-1564), Raffaelo Santi (1483-1520) und Tiziano Vecellio (1488-1576) und den Flamen Hieronymus Bosch (14537-1516), Jan Gossaert (1478/88- 1532 und Quinten Massys (1466-1530), wobei anzunehmen ist, dass Grünewald sicherlich einige Werke der genannten deutschen Zeitgenossen gekannt haben dürfte, vielleicht auch einiges der Flamen und Italiener seiner Zeit.

Er hebt sich jedoch von allen diesen dadurch ab, daß er nur religiöse Sujets bear­beitet hat und die lukrative Portraitkunst nie ausgeübt hat.

Gesichert ist allerdings, daß er als er nach 1516 in den Dienst des Albrecht von Bran­denburg trat, er oberster Kunstaufseher in dessen Residenzstadt Halle an der Saale wurde und dort auch als Wasserkunstmacher tätig war. Es gilt als gesichert, daß er 1526 aus dem Hofdienst ausschied. Er starb 1528 in Halle/Saale.

Welche Bedeutung die vorreformatorischen Auswirkungen der Bauernkriege, hier die Bundschuhbewegung auf die religiöse Malerei Grünewalds gehabt haben mag, kann hier nicht behandelt werden. Diese Bewegung von Bauern in den Jahren von 1493-1517 in Süddeutschland, hatte auch theologische Forderungen, wie z.B. Abschaffung der Ohrenbeichte und Verteilung der Kirchengüter an das Volk, die nicht spurlos an einem Antoniterkloster vorbei gegangen sein dürften, insbesondere da das Jahr 1501 ein Hunger- und Pestjahr war.

Im Gegensatz zu anderen Malern seiner Zeit, wie z.B. Dürer, der fast alle seine Kunst­werke mit dem bekannten AD signierte, stand Grünewald hier noch in der mittelalter­lichen Tradition, dass der Künstler hinter seinem Werk zurücktreten sollten, es also nicht als sein Werk signierte. Aus eben diesem Grunde sind die meisten der heute Grünewald zugeschriebenen Werke nicht signiert, so daß nach strengster Auslegung eigentlich nur der Isenheimer Altar ein genuines Werk Grünewalds zu sein scheint. Allerdings ist Kopp-Schmidt,G. (1) der Auffassung, daß verschiedene Hände an den einzelnen Tafeln, aber auch in den unterschiedlichen Flügeln mitgearbeitet hätten. Dafür spräche nach ihrer Meinung die heterogene Struktur des ausgeführten Malerei. Sic begründet die Vielhändigkeit auch mit der Dauer der Fertigstellung des Retabels, da auch Hans Baidung Grien für sein Freiburger Retabel, der in seiner Freiburger Werkstatt mit Gesellen und Lehrlingen tätig war, eine Zeit von 1512-1515 benötigte. Das Freiburger Retabel ist zudem in den Ausmaßen deutlich bescheidener, als das Isenheimer Werk.

Dieses wurde nach heutiger Auffassung wohl in der Zeit von 1512-1516 erstellt, wobei es Forscher gibt, die der Auffassung sind, daß die Kreuzigungsdarstellung evtl, schon 1506 gemalt worden sei. Der Altar, der heute im Museum Unterlindcn in Colmar zu sehen ist, wurde für die Kirche des Antoniterklosters in Isenheim, welches ca. 1300 gebaut wurde, gestaltet. Über die Bedeutung des Antoniter- ordens wird später im Hauptteil eingegangen werden. Der Altar hatte einen von Martin Schongauer (ca. 1445-1491) gemalten Vorgänger, den Orlicr-Altar, ge­nannt nach dem Präzeptor Jean d'Orlier. Schongauer gilt als bedeutendster Graphiker vor A. Dürer, er stellte bereits Druckgraphik in größerer Zahl her und und sein malerisches Hauptwerk . die Madonna im Rosenhag (ca. 250 x 165 cm), ist ebenfalls im Musee d'Unterlinden in Colmar ausgestellt.

Der Altar, der Hospitalfunktion des Antoniterklosters entsprechend, darf wohl als charismatischer Mittelpunkt sowohl der theologischen Aspekte als auch der heilung- und heilsbringenden Funktion angesehen werden. In seiner ersten Form mit dem aus früherer Zeit stammenden gotischem Schnitzwerk erreichte dieser wohl eine Höhe von ca. 8 Metern und ca. 7 Metern Breite. Die Wirkung allein dieser Ausmaße muß wohl mit der ungeheuren , fast expressionistisch zu nennenden Farbigkeit einen kaum nachvollziehbaren Eindruck auf den spätmit­telalterlichen Patienten gemacht haben, in einer Zeit deren Passionsfrömmigkeit heutigen Menschen befremdlich anmuten mag. Zudem darf die Wirkung farbiger Bilder für den Menschen der damaligen Zeit nicht unterschätzt werden, der außer einer seltenen Druckgraphik und den gewohnten theologischen Dar­stellungen aus seiner Dorfkirche kaum Bilder kannte und die Bilderflut unserer Zeit wohl schwer bewältigt hätte.

In der Zeit, in der der Altar entstand, war der Ordenspräzeptor ein Franzose aus Savoyen, der bereits erwähnte Jean d Orlier ,dem ein Piemonteser namens Guido Guersi folgte, welcher 1516 starb als der Altar fertiggestellt war. Der Isenheimer Konvent setzte sich überwiegend aus Franzosen von vornehmer Abkunft und meist akademischer Ausbildung zusammen.(1) Im Hauptteil wird dieses Faktum besonders erwähnt werden- die angenommenen Leistungen in chirurgischer Amputationskunst wären sicher ohne akademische ,auch anatomische Kennt­nisse nicht möglich gewesen- da auch die Ordensgeschichte auf französische Wurzeln verweist.

Beide Ordensoberen legten großen Wert auf hohe künstlerische Qualität bei der Ausführung, so wurde bereits bei der Erstfassung im Rahmen der Erweiterung und Neuausstatung des Kirchenbaus ab 1470 der überragende Meister Martin Schongauer verpflichtet, auch die ausdrucksstarken Plastiken des vollständig geöffneten Retabels (auch 2. Öffnung) stammen aus hervorragender Hand des Straßburger Bildhauers Nielas Hagcnauer (ca. 1445-1460 bis vor 1538), auch Nielas Zimmerlin, der gesichert als Schöpfer des Hochaltars des Münster in Straßburg gilt. Der originale Zustand der gesamten Holzkonstruktion des Isenhcimer Altars ging in den Wirren der französischen Revolutionen von 1789­1799 verloren, so daß die heutige Aufstellung der Bildwerke nur einen sehr ungenügenden Eindruck des ursprünglichen Glanzes in der Antoniterkirche vermitteln kann. Zudem ist die frühere Aufstellung in einem Raum des ehe­maligen Dominikancrinnenklosters in Colmar denkbar schlecht gewählt in einem Raum mit diversen anderen Kunstgegenständen: der Altar hätte einen großen hohen Raum mit guten Eichtverhältnissen verdient, in dem die einzelnen Öff­nungswerke einen eigenen Raum zur Verfügung hätten.

Das Isenheimer Retabel setzt sich in seiner ursprünglichen Form aus den drei Haupt­aspekten zusammen:

Da ist zunächst das geschlossene Retable zu erwähnen, welches wohl in dieser Form im Advent und während der Fastenzeit hinter dem Lettner sichtbar wurde. Es stellt im großen Mittelteil die Kreuzigung dar, die später beschrieben werden wird als auch im linken Klappflügel den heiligen Sebastian und im rechten Flügel den hei­ligen Antonius (Eremit). Das Bildnis der Grablegung ist Thema auf der Predella.

Die Mittelstellung (Erste Öffnung) zeigte im linken Bereich die Ankündigung des Engels an Maria , zur Mitte gefolgt vom Engelskonzert, zur rechten Mitte dann die Geburt Christi, auf diese ganz rechts dann die Auferstehung Christi. Diese Öffnung erfolgte wohl zu Weihnachten, Ostern und zu den Marienfesten, den Symbolen von Freude und Hoffnung.

Die durch die Doppelreihe von Altarflügeln geschützten Skulpturen wurden nur sichtbar am Patronatsfest des heiligen Antonius, dieser thronte zwischen dem heiligen Augustinus links und dem heiligen Hieronymus rechts.

Der linke Flügel zeigt den Besuch des heiligen Antonius beim heiligen Paulus, der rechte Flügel die Versuchungen des heiligen Antonius.

Auf der Predella erscheinen die Sculpturen in fünf Fenstern von Christus in­mitten der zwölf Apostel.

Die folgenden 3 Seiten werden durch farbige Abbildungen in der gerade geschil­derten Reihenfolge sein.

Wobei kurz einzugehen sein wird auf die kunsthistorische Bedeutung der Grüne- waldschen Darstellung der „Versuchung des heiligen Antonius“, weil diese eine Art Recours auf die „Kreuzigung“ darstellt: So wie Christus am Kreuz mit Gott haderte als er „mein Gott, warum hast Du mich verlassen ?“ sprach ,so haderte der heilige Antonius in dieser Versuchungsdarstellung mit Christus (auf einem kleinen Zettel ): „Wo warst Du, guter Jesus, warum bist Du nicht erschienen, um meine Wunden zu heilen?“ Eben dies dürften auch Worte gewesen sein, die am Antonius­feuer Erkrankte im Verlaufe ihrer Erkrankung immer wieder unter Qualen mit ihrem Herrgott gehadert hatten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Versuchung zeigt Antonius im Kampf mit einem Heer von Dämonen und Ungeheuern, er wird von diesen körperlich als auch akustisch verletzt, getreten, gebissen , an den Haaren gezogen. Andere Darstellungen - das Thema war im 15. und ló.Jh. sehr beliebt- zeigen seinen Kampf mit dem Dämon der Fleischeslust, einem Teufel in Gestalt eines lüsternen nackten Weibes. Am linken unteren Rand erscheint eine Figur, die immer wieder interpretiert wurde als Darstellung eines am Antoniusfeuer Erkrankten, wozu allerdings die amphibienähnlichen Füße nicht ganz passen; wohl aber die Erscheinungsformen seines Integuments, welches über­sät ist mit sämtlichen möglichen Hauteffloreszenzcn, die allerdings auch an Dürers Syphilitiker von 1496 erinnern.

В. HAUPTTEIL

Kapitel A: Beschreibung der Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altars einschließlich der Bildnisse der Hl. Sebastian und Antonius

Wohl selten ist eine Bildbeschreibung wegen der hochgradig differenten Größenver­hältnisse so schwierig wie bei der Kreuzigung des Isenheimer Altars, weil der Gesamt­eindruck des Werks, so wie ich es vor Jahren in Colmar erlebte, kaum in Abbildungen in Büchern nachvollzogen werden kann, was der ungeheuren Größe dieser Darstel­lung geschuldet ist. Die Kreuzigungsdarstellung ist das Zentrum des geschlossenen Retabels, wohl die Alltagspräsentation. Das Zentrum des Bildes bildet das grob behauene Holzkreuz,leicht exzentrisch gelegen, mit dem wohl schon toten Christus, Das Kreuz endet in einem rundlichen Holz , auf einer braunen , mit Steinen durch­setzten Erde, die so nicht sicher als Golgatha auszumachen ist. Daß die klassischen Attribute des Ortes Golgatha hier fehlen , scheint beabsichtigt, da ja auch durch die „Anwesenheit“ des Täufers kein historisch reines Geschehen thematisiert wird, sondern der Opfertod Christi mit all seiner grausamen Passion als zeitloses, für immer heilsgeschichtliches Geschehen, welches die Erbsünde des Menschen für alle Zeiten auslöscht, dank der Güte Gottes. Den etwas kleineren Raum rechts neben dem Kreuz nimmt Johannes der Täufer ein. der ja zu Zeiten der Kreuzigung Christi bereits lange durch Herodes getötet worden war. Vor seinem rechten Fuß steht das Lamm mit dem Kreuz und der Wunde, aus der das Blut in den darunter stehenden Kelch fließt. Den linken Raum neben dem Gekreuzigten nehmen die Figu­ren ein , die auch in den Evangelien als bei der Kreuzigung anwesend beschrieben wurden. Rechts von Christi Beinen kniet die händeringendc Maria Magdalena, vor sich das Salbgefaß, auf dem wohl die Zahl 1515 sichtbar sein sollte. Ihr Rücken und ihr Gewand sind neben der Kopfhaltung nach dorsal gebogen; dort wird Platz für die weiß gekleidete Maria, die in stiller Trauer wohl eben das Bewußtsein verlor und deshalb von dem Lieblingsjünger Johannes mit beiden Armen aufgefangen wird. Die Farbe Weiß für die Tunika Mariens ist ungewöhnlich, vielleicht wollte Grüne­wald hier durch ihre ungeheure Trauerleistung schon andeuten, daß durch ihre Pas­sion schon auch ihr Leichentuch „bereitet“ sei.

Im Hintergrund ist der Himmel schwarzbraun verdunkelt. Aus dieser generellen Fin­sternis von Erde und Himmel stechen die hellen Gewandteile wie das zerschlissene Lendentuch Christi, die für die Muttergottes ungewöhnliche weiße Kleidung Mariens, das weiße Lamm und das Weiß des aufgeschlagenen Buches ,welches der Täufer in seiner linken Hand hält, wie von besonderen Lichtquellen beleuchtet hervor.

Das blutrote Gewand des Täufers, der schon in der byzantinischen Ikonologie mit Kamelfellumhang gezeichnet wurde, steht dem ebenfalls blutrot bekleidetem Jünger farblich gegenüber. Farblich in einem schwachen rot-rosee Gewand , über dem ihre deutlich mehr als hüftlangen , mittelblonden Haare ähnlich drapiert erscheinen, wie der ungeheure Faltenwurf ihres Kleides kniet Maria Magdalena , das Haupt mit einem rötlich-weißlichen Kopftuch verhüllt nieder.

Auffällig differieren die Größenverhältnisse der einzelnen Figuren, so ist Christus am Kreuz in etwa so groß wie die beiden Krankenheiligen Antonius und Sebastian, während der Täufer und Maria mit Johannes und Maria Magdalena deutlich kleiner sind als Christus.

Das Kreuz Christi besteht aus grob behauenem Holz , wobei eine Fixation des Quer­balken so nicht sichtbar wird , sondern wohl von der Rückseite her vorgenommen erscheint. Oberhalb des Kreuzungspunktes der Balken hängt eine Holztafel mit schwarzen Buchstaben auf weißem Grund mit dem bekannten INRI, was allgemein übersetzt wurde mit Jesus von Nazareth, König der Juden.

Das übersteigert dargestellte Leiden Christi am Kreuz, dessen geschundener Leib den Betrachter, hier die am Antoniusfeuer Erkrankten, die sich Heilung und Seelenheil als Beter vor dieser Kreuzigung erhofften, sollte andererseits ermahnen, daß von Gott auferlcgte Los ebenso anzunehmen wie Christi. Dieser Leib Christi, der teilweise schon an Verwesungsfarben ebenso erinnert wie an das Absacken der Leichenfleckcn an den tiefsten Punkt der Schwerkraft, hier Christi Füße, die durch die Nagelung wie gebrochen wirken, dieser Leib , der keine Spur des Martyriums Christ ausläßt, zeigt jede Grausamkeit, die Christus erleiden mußte. Das beginnt mit der Dornenkrone, die so tief in die empfindliche Kopfhaut eindrang, daß die Blutspuren auf das gesamte Inkarnat fielen und dort antrockneten. Auch ist es keine echte geflochtene Krone, son­dern aus groben Domenästen gewirkt, die bei Bewegungen abbrachen und sich als Einzeldomen in die Haut darunter einbohrten, wie noch an jedem Körperteil sichtbar. Andere Domen stammen wohl auch von der voraus gegangenen Gicßelung Christi.

Hier ist die Dornenkrone keine Krone mehr als Herrschaftssymbol,sondern eben durch die Auflösung des Flechtwerks nur noch Marterinstrument, so daß sie eben so wie die Nägel, die Lanze etc. zu den „Amia Christi“ zu zählen ist. Auch der Rumpf Christi ist übersäht von Spuren der Züchtigung mit domenreichen Ruten, die generell einer Kreuzigung vorausgingen und als besonders schmachvoll galten, da die Ruten ein Phallussymbol waren.

Die geschlossenen Augen, die verraten, daß die Augäpfel schon dehydriert verkleinert erscheinen , die zusammen mit dem geöffneten Mund , der schmerzverzogen,den aufge­dunsenen Lippen mit einer borkig dehydrierten Zunge noch im Tode die Qualen erahnen lassen, sind von ungeheurer Ausdrucksstärkc, der sich der Betrachter nicht entziehen kann. Dieser, von der Totenstarre wohl schon wieder befreite Kopf, hängt zwischen den weit nach oben ausladenden Anne nach rechts unten. Die Arme , deren Musku­latur unter dem dünnen Integument deutlich wird, sind maximal extensiert, sicher auch zumindest links aus der Pfanne luxiert und zeigen wie 2 fleischliche Pfeile auf die ans Holz genagelten Hände. Diese weisen himmelwärts mit ihren Handflächen, dabei sind alle Finger beider Hände kelchartig abduziert, als wenn sie etwas von oben empfan­gen wollten. Bei Matt. 26,36-46 betet Jesus ..“laß diesen bitteren Kelch an mir vor­übergehen“. Jetzt stellt Grünewald seine beiden Hände dar, als wollten diese wie Kel­che Gottes Willen entgegennehmen. Daß er dabei nicht berücksichtigt, daß eine der­artige Extension nicht bei einem derartig alten Leichnam möglich ist, zeigt eine un­geheure Tiefe der Interpretation , um die Gläubigen anzusprechen.

Andererseits war die Handhaltung Christi dem Gläubigen bekannt als „extensio manuum“, deren Bedeutung der Gläubige aus dem 2. Buch Moses (Vers 10-13) kannte: Solange Mose im Kampf der Israeliten gegen die Amelikiter die Hände im Gebet extendierte, siegten die Israeliten; sobald er sie sinken ließ, verloren sie das Gefecht. Wie Field,R.S. (3) berichtet gab es einen um 1450-70 entstandenen auch kolorierten Holzschnitt mit den „Neun Gebetshaltungen des heiligen Domeni- kus. Diese Darstellungsweise kann den Gläubigen sowohl an seine selbst erlebten krankheitsbedingten Muskelkrämpfe erinnern als auch an den alten Bund des Alten Testaments, der jetzt durch Christi Opfertod zu einem neuen Bund wurde.

Auch an dem bis zu den Hüften nackten Körper wird ein geschundener Körper sicht­bar, dessen Muskulatur plastisch hervorragt, wie auch die Rippen unter der Haut. Die unter der Haut ohne Unterhautfettgewebe sichtbare Muskulatur wirkt abschnittsweise, besonders gut sichtbar an den Armen, die wegen des Körpergewichts wohl schon zu Lebzeiten aus den Gelenken luxiert waren, wie maximal verkrampft, was Grünewald wohl an Patienten mit Antoniusfeuer gesehen haben muß, und was Folge einer Ver­giftung mit den Mutterkomalkaloiden ist. Auch die maximal abduzierten Finger ver­weisen auf die Krampfneigung durch das Antoniusfeucr. Der Oberkörper ist leicht nach rechts torquiert, so daß die Thoraxwunde nur seitlich blutend sichtbar wird. Um die Hüften sieht der Betrachter ein verschlissenes , weißliches Lendentuch, das vorne verschlungen ist und mit seiner Zerrissenheit ein weiteres Zeichen einer tiefen menschlichen Demut zeigt, die der Mensch gewordene Gottes­sohn hier dem Betrachter - dem gläubigen Kranken des Antoniterordens - anem­pfiehlt. Auch die unter dem Lendentuch dargestellten Beine sind wie das übrige Inte­gument mit Zeichen der Qualen übersäht und enden in den Füßen, die mit nur einem Nagel am Holz fixiert sind. Die grünlich-schwärzliche Farbe und die Deformationen auch der Zehen, des totalen Abrisses der Außenbänder des Sprunggelenks, nebst dem dort auf das Holz herunter gelaufenem , rotem Blut deuten weitere Qualen an, die nicht unbedingt nach Grüncwalds Deutung in den Evangelien erwähnt gewesen sein müssen: auch das noch rote, mehr arteriell als venös wirken­de Blut auf dem Sockel geht nicht kongruent mit der Farbgebung der Füße, solcher Kunstgriff diente der gewünschten dramatischen Wirkung auf den Betrachter, der ja vielleicht nicht selten an seinen unteren Extremitäten, die Spuren von Amputation und schwärzlichen Nekrosen durch die infarzierten Areale bemerkte, welche schon nach geringster physikalischer Beanspruchung zu bluten anfingen. Es sind also überall in dieser Grünewaldschcn Kreuzigungsdarstellung Spuren seines Wissens um die Symptomatik des Antoniusfeuers sichtbar, dies nicht nur an Christi Leib, son­dern auch an den neben dem Kreuz befindlichen Figuren, die jetzt beschrieben werden sollen. Insgesamt kann man in der Zeit um 1500 ein zunehmendes Interesse an der genauen Beobachtung von Krankheitssymptomen feststellen: nicht nur Dürers Dar­stellung eines Syphilitikers von 1496 weist daraufhin, sondern auch die Darstellungen des heiligen Rochus, der überwiegend nördlich der Alpen gegen Pest und Lepra an­gerufen wurde, wurde gern mit naturalistisch gestalteter Wunde seines Oberschenkels gemalt. Aber auch in Venedig gründete sich schon 1477 nach der Pest eine Bruder­schaft, die sich nach dem hl. Rochus von Montpellier nannte, der sich der Pflege von Kranken gewidmet hatte. Aus dieser ging dann später die Grande Scuola di San Rocco hervor, deren Bilderzyklus von 56 Gemälden in den Jahren 1564-1568 von Jacopo Tintoretto in Venedig gestaltet wurde.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Jetzt sei zunächst der auf dem steinigen , braunen Boden barfuß in seltsamer Fußstellung stehende Täufer erwähnt: seine Füße weisen mit ihren Spitzen in einem 90 Gradwinkel auseinander. Im Gegensatz zu Christus ist seine Haut an den sicht­baren Stellen unversehrt, obwohl er sich in der Wüste so manche Verletzung zuge­zogen haben wird. Er ist in eine rote Decke eingehüllt, die eigentlich nicht dem Ty­pus Kamelfell entspricht, wie es in der maniera graeca üblich war. Grünewald wähl­te diesen Kunstgriff um den Farbkontrast zum roten Gewand des Jüngers Johannes herstellen zu können. Der rechte Arm ist erhoben und im Ellenbogengelenk abge­winkelt, um die Handhaltung mit dem „Deutefinger“ im hellen Inkarnat vor dem abgedüsterten Himmel besonders plastisch zu gestalten: der Arm wirkt so wie ein Schwanenhals. Auch hier weist die Überstreckung des Zeigefingers auf eine Ver­krampfung der Muskulatur hin, die dem an Antoniusfeuer leidendem Betrachter wohl vertraut war und er so immer wieder vom eigenen Leid zum Geschehen der Passion geführt werden konnte. Der von Krankheit befallene, sündhafte Leib war ja schon seit Jesaja 1,6 den Patienten als Strafe Gottes für die Sünden des Volkes wie der Individuen bekannt:“ Von der Fußsohle bis zum Haupt ist nichts Gesun­des an Euch, sondern Beulen und Striemen und frische Wunden , die nicht gereinigt noch verbunden noch mit Öl gelindert sind“. So konnte sich der Isenhei- mer Patient wiedererkennen. Zwischen Arm und Kopf des Täufers erscheint in blutroten lateinischen Lettern der „Spruch: Er muß wachsen, ich aber muß ab­nehmen“ , der indirekt daraufhinweist, daß ja auch Johannes der Täufer ein aus der Wüste kommender Prediger vor Christus war und deshalb in der Ortho­doxie auch Johannes der „Vorläufer“ genannt wird. Der Kopf des Täufers ist ernsten Blickes auf Christus gerichtet, streift aber auch die Zweierfigur Mariens und des Johannes. Er ist vollbärtig mit gepflegtem Bart, aber etwas ungepflegt wirkendem Haupthaar, welches teilweise zottig wirkend seinen Kopf wie ein Pilz umgibt. Der linke Arm, von dem lediglich die Finger sichtbar werden, hält das alte Testament, welches in der Reinheit der weißen Farbe geradezu aufleuch­tet. Der Täufer ist der letzte Prophet des alten Testaments, also des „alten Bun­des“, der mit dem Finger auf den „neuen Bund“ weist.

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Zu Füßen des Täufers setzt Grünewald das Lamm Gottes: es erinnert an den Ausruf des Täufers , als er Jesus am Ufer des Jordans erblickte: „Siehe , das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“ Hier fließt das Blut des Lam­mes in einen Kelch, und derart wird Eucharistie thematisiert, von der sich der vor Kreuzigung betende Isenheimer Patient erhofft, Heil und Heilung zu erlangen.

Auffallend wie schon bei Johannes dem Täufer und Christus am Kreuz sind auch die Größe der Hände und Finger bei Maria und Jünger Johannes, aber auch bei Maria Magdalena. Das Hervortreten dieser Fingergestik wird gesteigert durch ihren roten oder schwarzer Hintergrund. Dazu passend überrascht die Körperhaltung , der wohl von der Emotionalität ihrer Trauer bewußtlos gewordene Maria, die im Rücken ge­beugt nur durch den überlangen Arm des Johannes vor dem rückwärtigem Sturz be­wahrt wird. Auch hier wird von Grünewald die „Möglichkeit“ eines epileptischen Anfalls durch das Antoniusfeuer ins Bild gesetzt, sodaß der Patient sich in die Trauer der Co-Redemtrix Maria hinein versetzen kann. Gleichzeitig erwähnt Grünewald mit der extremen Blässe ihres Gesichts die Blutarmut, welche im Gefolge von Stumpf­infektionen bei der Mutterkomalkaloidvergiftung oder der Lepra mutilans auf­treten kann, andererseits thematisiert er auch eine stille Art von Trauer mit der ein­samen Träne auf Marias Gesicht, die stark im Widerspruch zum verzweifelten Hän­deringen steht, das sich deutlich mit den in sich geschlossenen Händen von den wie anklagend gespreizten Fingern der Maria Magdalena abhebt. Ihr weißlich gold- durchwirktes Gewand mit dem darunter cremfarbigen Tuch, welches auch ihr Ge­sicht und Haupt einhüllt, steht hier farblich als Symbol ihrer lilienfarbenen Unschuld und kontrastiert deutlich zum roten Umhang des Licblingsjüngers Johannes, kann aber auch als eine Art Vorgriff auf ihren eigenen Tod und ihr Leichentuch sein, da sie nun ihren Lebensinhalt verlor und der von Christus ihr anempfohlene neue Sohn diesen nicht ersetzen kann. Das Gesicht des Johannes spiegelt den Verlust, sein Gesichtsausdruck ist von tiefster Trauer gezeichnet, mit geschlossenen Augen als wolle er die Wirklichkeit ausblenden und einem geöffneten Mund , dem klagen­de Worte eines unermeßlichen Verlustes entweichen. Auch sein linker Ann umfaßt die klagenden Hände Mariens , als wolle er auch daran teilnehmen. Mit dieser Dar­stellung am Kreuz greift Mathis Grünewald auf die etwas gestört zu nennende Sohn-Mutter-Beziehung zurück, wie sie bei Johannes 2.4 beschrieben ist: „Was willst du von mir, Frau, meine Stunde ist noch nicht gekommen“.Bei Joh. 19, 25-27 : „Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter :Frau siehe Dein Sohn! Und er sagte zu dem Jünger: Siehe Deine Mutter! Hier ist Christus schon bei seiner heilsgeschichtlichen Aufgabe, er ist nicht mehr die geschundene Leiche am Kreuz.

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Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Spiegelungen des Ignis sacer in der Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altars
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Kunstwissenschaft)
Veranstaltung
Jenseits der Epochengrenzen. Ansätze zu einer alternativen Bild- und Kunstgeschichte
Note
Nicht benotet
Autor
Jahr
2017
Seiten
107
Katalognummer
V374905
ISBN (eBook)
9783668510203
ISBN (Buch)
9783668510210
Dateigröße
25453 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Autor erklärt aus medizinischer Sicht, dass Mathias Grünewald die Symptome der Vergiftung mit mutterkornalkaloiden kannte und diese Symptome in der Kreuzigung des isenheimer Altars verwendet hat. Der Autor war Facharzt für Urologie, war 1978 als Senior Lecturer an der ältesten Universität Neu-Seeland berufen und hat nach Ende seiner medizinischen Tätigkeit an der RU Bochum 2006 den Bachelor in Kunstgeschichte erworben und war in den letzten 10 Jahren ca. 40 mal in den wichtigsten Museen Italiens, um die italienische Renaissance und Barock an Originalen zu studieren.
Schlagworte
Isenheimer Altar, Grünewald, Colmar, Kreuzigung, Ignis sacer
Arbeit zitieren
Dr. Hanspeter Moser (Autor:in), 2017, Spiegelungen des Ignis sacer in der Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altars, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374905

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