Identitäts- und Belastungsherausforderungen von Jugendlichen mit einem psychisch kranken Elternteil. Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit


Hausarbeit, 2017

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Forschungsergebnisse und thematischer Einstieg

2. Lebensbewältigungstheorie
2.1 Zentrale Begriffe und Überlegungen
2.2 Konkretisierung der Theorie bezogen auf meine Fragestellung

3. Identitätskonstruktionen
3.1 Zentrale Begriffe und Überlegungen
3.2 Konkretisierung der Theorie bezogen auf meine Fragestellung

4. Salutogenese
4.1 Zentrale Begriffe und Überlegungen

4.2 Konkretisierung der Theorie bezogen auf meine Fragestellung

5. Resilienz
5.1 Zentrale Begriffe und Überlegungen
5.2 Konkretisierung der Theorie bezogen auf meine Fragestellung

6. Möglichkeiten und Grenzen innerhalb der Sozialen Arbeit

7. Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis für das Theorieprojekt

Einleitung

In meinem beruflichen Kontext werde ich häufig mit den Bewältigungsaufgaben von Jugendlichen mit einem psychisch erkrankten Elternteil konfrontiert. Hierbei stellt sich mir die Frage, wie diese jungen Menschen mit den Belastungen und Anforderungen, welche an sie täglich gestellt werden, zurechtkommen. Mit dem Theorieprojekt wird das Ziel verfolgt, neue Erkenntnisse zu dieser Thematik zu erlangen, die in der praxisbezogenen Sozialen Arbeit anwendbar sind.

Die „ Identitäts- und Belastungsherausforderungen von Jugendlichen im Alter von 13-18 Jahren mit einem psychisch kranken Elternteil. Möglichkeiten und Grenzen innerhalb der Sozialen Arbeit“ werden anhand von vier Theorien explizit beleuchtet:

1.Lebensbewältigungstheorie nach Böhnisch, 2.Identitätskonstruktionen nach Keupp, 3.Resilienz nach Rönnau-Böse, Fröhlich-Gildhoff und 4.Salutogenese nach Antonovsky.

Die Fragestellung, welche erarbeitet wurde, lautet:

Wie verläuft die Identitätsentwicklung von Jugendlichen im Alter von 13-18 Jahren mit einem psychisch kranken Elternteil und welche Belastungsherausforderungen haben diese Jugendlichen zu bewältigen, wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen in der Unterstützung dieser Jugendlichen im Kontext der Sozialen Arbeit?“

Der deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (dbsh) definiert Soziale Arbeit folgendermaßen: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Definition und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen“ (dbsh 2016). Die Autor_innen benennen als die ethischen Grundlagen die „Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt“ (dbsh 2016). Als Ziel der Sozialen Arbeit sehen die Autor_innen die Befähigung und Ermutigung der Menschen, dergestalt, „dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein“ (dbsh 2016).

Die oben genannten vier Theorien werden in diesem Theorieprojekt zuerst anhand ihrer allgemeinen Überlegungen und Konzepte dargestellt, um sie im zweiten Schritt mit der Fragestellung in Beziehung zu setzen.

Kapitel 1 enthält Forschungsergebnisse zu Kindern und Jugendlichen mit einem psychisch kranken Elternteil und den thematischen Einstieg. In Kapitel 2 wird die Lebensbewältigungstheorie nach Böhnisch mit ihren zentralen Begriffen und Konzepten dargestellt. Zum Ende dieses Kapitels wird ein konkreter Bezug der Theorie auf die Fragestellung insbesondere mit Blick auf mögliche Belastungsfaktoren von Jugendlichen mit einem psychisch kranken Elternteil erfolgen. Nach der Vorstellung der Theorie der Identitätskonstruktionen nach Keupp wird diese in Kapitel 3 in Bezug auf die Identitätsentwicklung von Kindern psychisch kranker Eltern diskutiert. In Kapitel 4 wird die Salutogenese nach Antonowsky erläutert und es werden erste theoriegeleitete Schlussfolgerungen darüber gezogen, welche Faktoren einem Belastungserleben der o. g. Jugendlichen entgegenwirken können. In Kapitel 5 erfolgt ein Überblick über das Konzept der Resilienz nach Fröhlich-Gildhoff und Rönau-Böse und die hieraus ableitbaren Implikationen für die betroffenen Jugendlichen werden diskutiert. In Kapitel 6 werden die Möglichkeiten und Grenzen der Soziale Arbeit aufgeführt. Das Theorieprojekt wird mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick abschließen.

1. Forschungsergebnisse und thematischer Einstieg

Epidemiologische Studien deuten auf eine hohe Inzidenz und Prävalenz psychisch erkrankter Eltern hin. So fanden Wiegand-Grefe, Mattejat und Lenz (vgl. 2011, S.17), dass ungefähr 3 Millionen Kinder innerhalb Deutschlands im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung erlebten sowie 175.000 Kinder pro Jahr die Erfahrung machten, dass ein Elternteil wegen einer psychischen Erkrankung stationär psychiatrisch behandelt werde. Die Autor_innen et al (vgl. ebd., S.17) weisen darauf hin, dass bei Kindern mit psychisch kranken Eltern die Gefahr bestehe, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sei das Risiko – je nach Grunderkrankung der Eltern – um das Zwei- bis Zehnfache erhöht. Im Einzelfall, so der Gesundheitsbericht der Stadt Münster (vgl. 2015, S.7), könne das Erkrankungsrisiko auch bei 50% liegen, je nach genetischem Risiko, sozialen Belastungsfaktoren sowie Resilienzfaktoren.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe (AGJ) berichtet, dass sich die Lebensphase Jugend in den letzten Jahrzehnten verändert sowie ausdifferenziert habe (vgl. AGJ 2016, S.1). Jugend bedeute heute, früher als eigenständiges Individuum mit eigenen Gestaltungsmöglichkeiten- und Freiheiten wahrgenommen zu werden (vgl. AGJ 2016, S. 1). Stelling, Habers und Jungbauer sehen Kinder psychisch kranker Eltern hier besonderen Entwicklungsaufgaben ausgesetzt (vgl. 2008, S.759), da die fortbestehende Verantwortlichkeit für die erkrankten Eltern eine verzögerte räumliche Ablösung vom Elternhaus zur Folge habe (vgl. Stelling, Habers und Jungbauer 2008, S. 768). Die betroffenen Kinder fühlten sich häufig zu Hause gebraucht und wollten ihre Eltern nicht im Stich lassen (vgl. Stelling, Habers und Jungbauer 2013, S.766).

Auch der Gesundheitsbericht der Stadt Münster (vgl. 2015, S.4) verweist auf die spezifischen Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen psychisch kranker Eltern. Diese Jungen und Mädchen seien mit ihren Sorgen und Fragen sehr häufig alleine. Die psychische Erkrankung werde mit viel Energie als Geheimnis innerhalb der Familie bewahrt. Dadurch seien diese Kinder meist über einen längeren Zeitraum elterlichen Verhaltensweisen ausgesetzt, welche sie häufig nicht einordnen sowie nicht verarbeiten können (vgl. Gesundheitsbericht Münster 2015, S.4). Da psychische Erkrankungen mit einem Tabu belegt seien, werde der offene Umgang mit der Erkrankung erschwert und dies verstärke wiederum die soziale Isolierung der Kinder (vgl. ebd., S.4). Der Alltag der Kinder sei mit ausgeprägten Schuld- und Verantwortungsgefühlen dem erkrankten Elternteil gegenüber belastet (vgl. Gesundheitsbericht Münster 2015, S.4). „Hinzu kommen Störungen im [×] Ablöseprozess, wenn der Rückgriff auf eine emotional sichere und kontinuierliche Eltern-Basis nicht gegeben ist“ (Siemer-Eikelmann 2008, zitiert in Gesundheitsbericht der Stadt Münster 2015, S.4).

2. Lebensbewältigungstheorie

2.1 Zentrale Begriffe und Überlegungen

Böhnisch (vgl. 2016, S.11) hebt hervor, dass Menschen in schwierigen Lebenskonstellationen meist zu Adressat_innnen der Sozialen Arbeit gehören. Entsprechend ist sein Konzept der Lebensbewältigung als Theorie-Praxismodell konzipiert (vgl. ebd., S.11). Einen Vorteil dieser Theorie-Praxisverbindung des Bewältigungskonzepts sehen Böhnisch und Schröer (vgl. 2013, S.69) darin, dass durch diese Verbindung eine zentrale Handlungsaufforderung abgeleitet werden könne. Sozialpädagogische Theorien seien nicht nur theoretisch zu verstehen, vielmehr lasse sich hieraus auch ein methodisches Vorgehen darüber ableiten, welcher Zugang sich aus dem Konzept der Lebensbewältigung heraus empfehle (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S.69). Böhnisch (vgl. 2016, S.11) legt dar, dass anhand des Modells Hypothesen darüber systematisiert werden könnten, wie ein Mensch belastet sei und wie er oder sie in dieser jeweiligen Situation reagiere. Aus der Hypothesenbildung seien dann wichtige Ansätze für die Praxis der Sozialen Arbeit ableitbar.

Böhnisch (vgl. 2016, S.11) stellt in seinem Modell drei Dimensionen vor, die psychodynamische Dimension, die soziodynamische/interaktive Dimension sowie die Gesellschaftliche Dimension. Die Mehrdimensionalität seines Modells stelle die Möglichkeit gelingender Bewältigung dar, indem es die Chance der Thematisierung, des Sich-Mitteilen sowie das Ansprechen innerer Hilflosigkeit und Ohnmacht möglich mache. Gemäß Böhnisch mache diese Mehrdimensionalität des Konzeptes eine besondere Qualität des Ansatzes aus, indem man immer wieder gezwungen sei, die Hintergrundbedingungen anhand psychosozialer Arbeit zu diskutieren. Hieraus folgend könnten auch die Möglichkeiten und Grenzen des sozialpädagogischen Handelns reflektiert werden (vgl. 2016, S.11).

Böhnisch (2016, S.20) versteht unter Lebensbewältigung „das Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenskonstellationen“. Filipp führt an (2008, S. 20, zitiert in Böhnisch 2016, S.20), „Lebenssituationen und-konstellationen werden dann als kritisch bezeichnet, wenn die bisherigen eigenen Ressourcen der Problemlösung versagen oder nicht mehr ausreichen und damit die psychosoziale Handlungsfähigkeit beeinträchtigt ist“.

1. Psychodynamische Dimension

Böhnisch (2016, S.20) erläutert: Die psychodynamische Handlungsfähigkeit „ist ein Konstrukt im Magnetfeld des Selbstwertes“. Der Mensch sei handlungsfähig, wenn er sozial anerkannt sowie wirkungsvoll sei und sich in seinem Selbstwert gestärkt fühle. Jedes Individuum strebe nach Handlungsfähigkeit, dies mache sich besonders in schwierigen Lebenssituationen bemerkbar und werde über sie „freigesetzt“. Wenn es einem Menschen nicht gut gehe, erwache in ihm der Selbstbehauptungstrieb, der sich als Grundantrieb des Menschen bemerkbar mache (vgl. Böhnisch 2016, S.20,21). Dadurch, dass der Grundantrieb derart stark und lebensnotwendig sei müsse „ Handlungsfähigkeit - also Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit“ (Böhnisch 2016, S. 21) unbedingt gesucht werden. Sollte dies, so Böhnisch, nicht mit sozial übereinstimmendem Verhalten möglich sein, werde auf abweichendes Verhalten zurückgegriffen. Böhnisch postuliert, antisoziales aber auch destruktives Verhalten sei Bewältigungsverhalten (vgl. 2016, S.21). Es sei ein Ausdruck von Hilflosigkeit und die Unfähigkeit, sich mit sich selbst auseinandersetzen zu können. Entsprechend müsse es als Hilferuf erkannt und nicht als negativer Akt bewertet werden (vgl. Böhnisch 2016, S. 30). Der mit Hoffnung verbundene Akt des Auf-sich-aufmerksam-Machen sei ein Grundantrieb antisozialen Verhaltens (vgl. Böhnisch 2016, S.31). Dies sei keine bewusste Handlung, so Böhnisch (vgl. 2016, S.21), sondern sie müsse abgespalten werden, um sich nicht mit seinem gestörten Selbst auseinandersetzen zu müssen.

Der Autor (vgl. ebd., S. 21, 24) unterscheidet zwischen eineräußeren und einer Innere Abspaltung. Bei deräußeren Abspaltung stehe im Zentrum des Geschehens das „bedrohte Selbst in seiner Hilflosigkeit“ (Böhnisch 2016, S. 21). Der Autor (ebd., S.21) bezeichnet den Begriff „des Selbst als inneren, personalen Pol der Identität“ [×××]. Hier stellt sich die Frage: Wer bin ich, wie ist meine eigene Wahrnehmung in Bezug auf andere und wie spüren ich mich selbst (vgl. Böhnisch 2016, S.21).

Der Autor (vgl. ebd., S.21) postuliert, dass das Selbst sich zwischen sozialer Anerkennung, Selbstwert und der damit verbundenen Selbstwirksamkeit bewege. Böhnisch (2016, S.21) versteht unter Selbstwirksamkeit die „eigenen Erwartungen, soziale Situationen im Griff zu haben und entsprechende soziale Resonanz dafür bekommen zu können“. Bekomme das Individuum zu wenig Anerkennung und sei dies verbunden mit wenig bis keiner Selbstwirksamkeit, führe dies zur Hilflosigkeit des Selbst (vgl. Böhnisch 2016, S.21) und ein körperlich-somatischer Druck könne entstehen. Hier sei Entlastung möglich, indem man sich jemandem anvertraue. Im Bewältigungsmodell nach Böhnisch (vgl. 2016, S.21) wird dies als Thematisierung beschrieben. Darunter versteht der Autor nicht nur das gemeinsame Gespräch, sondern auch den sozial-interaktiven Akt des Mitteilens sowie das Anknüpfen an Freundschaften und soziale Netzwerke. Die innere Hilflosigkeit müsse vom Individuum angesprochen und thematisiert werden (vgl. Böhnisch 2016, S.22). Könne die Hilflosigkeit aus verschiedenen Gründen nicht thematisiert werden, werde sie abgespalten (vgl. Böhnisch 2016, S.22).

Bei der inneren Abspaltung handelt es sich laut Böhnisch (vgl. 2016, S.24) um die Abspaltung der Hilflosigkeit, welche sich nach innen richtet. Der Autor spricht hier von Autoaggression, also Gewalt gegen sich selbst auszuüben (vgl. Böhnisch 2016, S.24). Selbstverletzende Verhalten werde dazu eingesetzt, um auf sich aufmerksam zu machen (vgl. Böhnisch 2016, S.25). Dieses Phänomen zeige sich hauptsächlich bei Mädchen und Frauen und manifestiere sich in Essstörungen, Medikamentenmissbrauch sowie Depressivität (vgl. Böhnisch 2016, S.24).

2. Die soziodynamische / interaktive Dimension, Bewältigungskulturen

Innerhalb der soziodynamischen / interaktiven Dimension werde das Bewältigungsverhalten von den Bewältigungskulturen der persönlichen sowie sozialen Beziehungen beeinflusst (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S.31). Hierzu zählen nach Böhnisch und Schröer (vgl. 2013, S.31) die Familie, die Peergroup, die Institution Schule, der Arbeitsplatz sowie die Internet-Gemeinschaft. Innerhalb dieser Gruppen entscheide sich, ob und wie es möglich sei, kritische Lebenskonstellationen thematisieren zu können (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S.31).

Böhnisch und Schröer (vgl. 2013, S.31) erläutern, dass sich soziale Handlungsfähigkeit als Ausdruck von Selbstwirksamkeit und Anerkennung in spezifischen Milieukontexten entwickle. Die Wechselwirkung zwischen sozialer Umwelt und den Bewältigungsdynamiken könne über das Milieu dargestellt werden. Somit sei das Modell der Bewältigungskulturen ein Zugang, der nicht bei dem Individuum stehenbleibe, sondern soziale Handlungsfähigkeit beschreibe. Gerade in kritischen biografischen Lebenssituationen sehe das Individuum Handlungsfähigkeit in regressiven Milieus (vgl. Raitelhuber, Schröer 2013, zitiert in Böhnisch, Schröer 2013, S.31). In gewaltnahen Bewältigungslagen, so Böhnisch und Schröer, entwickelten sich (antisoziale) Agency-Prozesse (vgl. 2013, S.31). Die Wichtigkeit der Differenzierung der verschiedenen Formen von Handlungsfähigkeit werde hier sehr deutlich. Ein regressives Bewältigungsverhalten sei in geschlossenen Milieus zu beobachten. Demgegenüber sprechen die Autoren von einem offenen Milieu, wenn dort ein erweitertes Bewältigungsverhalten zu beobachten sei. Diese unterschiedlichen Milieus der Bewältigung beeinflussten sich gegenseitig im sozialen Austausch.

3. Gesellschaftliche Dimension, Lebenslagen und Bewältigungslagen

Böhnisch und Schröer (vgl. 2013, S.40 ff) führen an, dass Soziale Arbeit und die Sozialpolitik ein gemeinsames Ziel verfolgten, nämlich die Verbesserung prekärer Lebenssituationen und ungleiche Lebenschancen. Während sich die Sozialpolitik an den sozialen Strukturen orientiere, fokussiere sich die Soziale Arbeit auf den Menschen. Die Sozialpolitik verschaffe sich ihren Zugang zu den Lebensverhältnissen über die quantitative und qualitative Sozialberichterstattung, bspw. über Sozialstatistiken, Armuts-, Gesundheits-, Gleichstellungs- sowie Altersberichte. In unterschiedlichen Kontexten werde danach gefragt, so die Autoren (ebd., S.40), „wie die sozialstrukturellen Bedingungen die Lebensverhältnisse und Lebenschancen beeinflussen, welche Ermöglichungen und Verwehrungen also in diesen Verhältnissen gegeben sind, welche Verwirklichungsmöglichkeiten die Menschen vor dem Horizont sozialer Gerechtigkeit haben und wie dies sozialpolitisch beeinflusst werden kann“. Um diese Fragen beantworten zu können, stehe das Konzept der Lebenslagen zur Verfügung (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S.40). Böhnisch und Schröer (vgl. 2013, S.40) sehen das Lebenslagenkonzept für die eigene Arbeit als Brücke zur Sozialpolitik. Die Autoren (vgl. ebd., S.45 ff) erläutern, dass die Soziale Arbeit nur eingeschränkt sozialkulturell intervenieren könne und meist nur personenbezogen agiere. Ein weiter Schritt sei notwendig, um den sozialpädagogischen Zugang zur Lebenslage herzustellen. Die Soziale Arbeit könne die sozialen und kulturellen Spielräume soweit pädagogisch wechselseitig beeinflussen. Schließe man diese sozialen und kulturellen Spielräume nach dem Prinzip des Möglichen und Nicht-Machbaren auf, erfasse man sozialpädagogisch die Bewältigungslage (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S.45) . Wenn die Adressat_innen ihre Hilflosigkeit nicht ausdrücken oder thematisieren könnten, entstehe nach dem Bewältigungsmodell einerseits der Zwang zur Abspaltung, also antisoziales, nach außen gerichtetes Verhalten oder andererseits selbstdestruktives, nach innen gerichtetes Verhalten (vgl. ebd., S.45). Über die Dimension der Bewältigungslagen lasse sich nicht nur der sozialpädagogische Zugang zu Lebenslagen finden, sondern es könne in der Bewältigungsperspektive vor allem auf die Handlungsfähigkeit in prekären Lebenslagen Einfluss genommen werden (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S 46).

Exkurs: Jugend

Jugend sieht Böhnisch als sich historisch wandelnde gesellschaftliche Konstruktion. Sie müsse, je nach Biografie der Jugendlichen, unterschiedlich bewältigt werden (vgl. Böhnisch 2017, S.120 ff). Die Bewältigungslage Jugend sei gekennzeichnet durch die Spannung zwischen früher Selbstständigkeit sowie länger andauernder ökonomischer Abhängigkeit. Jugendliche seien heute einem höheren sozialen Druck ausgesetzt als vor einigen Jahren, „die soziale Spaltung der Gesellschaft bilde sich schon in der Jugend ab“ (Böhnisch 2017, S.121 ff). Junge Menschen mit wenig Selbstwert, mangelnder Anerkennung und begrenzten bis keinen Möglichkeiten, sozial wirksam zu werden, machten auf sich aufmerksam, indem sie sozial auffällig werden oder aber antisoziales Verhalten zeigen würden. Hierdurch sei es möglich, dass sie zu Adressat_innen der Jugendhilfe werden.

Für viele junge Menschen sei die frühere geschützte Jugendzeit zu einem offenen und dadurch bedrohlichen Bereich der Selbstbehauptung und Konkurrenz innerhalb der Generationen geworden (vgl. Böhnisch 2017, S.123). Hierbei seien die neuen Formen der Übergänge für die Jugendlichen besonders kritisch (vgl. Böhnisch 2016, S.157). „Dieser Übergang ist durch Offenheit und Ungewissheit gekennzeichnet und enthält Bewältigungsfallen “ (Stauber/Walther 2013, zitiert in Böhnisch 2016, S.157).

„Der Triebdurchbruch der Pubertät lockert die vorher in der Familie gebildeten psychischen Strukturen auf und schafft damit die Voraussetzung für eine nicht mehr auf den familiären Rahmen bezogene Umstrukturierung der Persönlichkeit“ (Erdheim 1988, S. 193, zitiert in Böhnisch 2017, S.125). Jugendpädagogisch werde dieser Prozess der Ablösung von der Familie sowie das eigenständige in die soziale Welt Gehen als zentrales Moment für die Herausbildung des Selbst und der Persönlichkeit angesehen. „Jugend muss von den Jugendlichen stärker individuell ‚bewältigt‘ werden, die Chance, dass Jugend gelingt, und das Risiko des Scheiterns in und an der Jugendphase liegen dicht beieinander und sind biografisch unterschiedlich verteilt“ (Böhnisch 2017, S.128).

2.2 Konkretisierung der Theorie bezogen auf meine Fragestellung

Böhnisch nimmt in seiner mehrdimensionalen Theorie der Lebensbewältigung zwar nicht konkret Bezug auf Jugendliche in spezifischen Entwicklungsmilieus wie z. B. bei psychischer Erkrankung. Dennoch ist seine Theorie global anwendbar. So beschreibt er die generellen Schwierigkeiten, mit denen Jugendliche konfrontiert sind, bspw. die Prozesse der Ablösung von der Familie in der Pubertät. Er setzt sich also mit generelle Belastungsfaktoren auseinander, die auch auf Jugendliche psychisch kranker Eltern übertragbar sind. So benennen Stelling, Habers und Jungbauer (vgl. 2008, S.759) die Ablösung vom Elternhaus für Jugendlicher mit einem psychisch kranken Elternteil ebenfalls als einen relevanten Belastungsfaktor. Gemäß dem Konzept der psychodynamischen Handlungsfähigkeit wäre in einer solchen kritischen Lebenssituation entweder mit sozial übereinstimmendem oder aber mit abweichendem Verhalten zu rechnen, um sich als sozial anerkannt und wirksam erleben zu können.

Eine Möglichkeit, sozial übereinstimmenden Verhaltens wäre für die betroffenen Jugendlichen die von Stelling, Habers und Jungbauer (vgl. 2008, S.766) herausgestellte Verantwortungsübernahme gegenüber dem erkrankten Elternteil. Sollte das Thematisieren der Hilflosigkeit nicht möglich sein, wäre gemäß der Theorie von Böhnisch mit Abspaltung und sozial abweichendem Verhalten zu rechnen (vgl. Böhnisch 2016, S. 22). Im Falle von Jugendlichen mit psychisch kranken Eltern wäre Abspaltung gerade deswegen zu erwarten, weil die gesamte Familienkonstellation mit Geheimnissen belegt ist. (vgl. Gesundheitsbericht Münster 2015, S.4: Psychische Erkrankung werde mit viel Energie als Geheimnis innerhalb der Familie bewahrt). Bestätigung für eine solche Dynamik ergibt sich aus Untersuchungsergebnissen, die ein deutlich erhöhtes Auftreten depressiver Symptome bei Jugendlichen von erkrankten Eltern beschreiben (vgl. Lenz, 2014, S.23, 40). Auch die geschlechtsspezifische Differenzierung von Böhnisch (vgl. 2016, S. 24) korrespondiert mit Untersuchungsergebnissen zu Kindern psychisch kranker Eltern, die während der Pubertät bei Mädchen ein erhöhtes Auftreten von depressiven Symptomen, also innerer Abspaltung, fanden als bei Jungen (vgl. Lenz, 2014, S.31).

Bezogen auf Kinder psychisch kranker Eltern zeigt sich jedoch auch, dass Böhnischs strikte Trennung von sozial übereinstimmendem und sozial abweichendem Verhalten nicht durchgehend anwendbar ist. Die Verantwortungsübernahme von Jugendlichen mag als sozial übereinstimmendes Verhalten gewertet werden, es stellt sich hier jedoch auch die Frage, ob es langfristig nicht eine Form der inneren Abspaltung darstellt bzw. ins selbstschädigende Verhalten mündet, so z. B. im Falle der so genannten Parentifizierung (d. h., Kinder übernehmen dem erkrankten Elternteil gegenüber die klassische Elternrolle zuungunsten ihrer eigenen Bedürfnisse. „Die Langzeitfolgen der Parentifizierung reichen von Depressivität einem fragilen Selbstwertgefühl, Ablösungs- und Identitätsproblemen bis hin zu suizidalem Verhalten“ (Lenz, 2008, S.31).

Gemäß der soziodynamischen / interaktiven Dimension wird das Bewältigungsverhalten von den Bewältigungskulturen der persönlichen sowie sozialen Beziehungen beeinflusst (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S.31). Bei Kindern psychisch kranker Eltern wäre zu erwarten, dass insbesondere der soziodynamischen Dimension eine besondere Bedeutung in der Bewältigung von Belastungen zukommt. Stelling, Habers und Jungbauer (vgl. 2008, S.764) postulieren, zentrale Bewältigungsressourcen dieser Jugendlichen seien Vertrauenspersonen im privaten sozialen Umfeld. Die betroffenen Jugendlichen suchten vornehmlich das Gespräch mit gleichaltrigen Peers (vgl. Stelling, Habers und Jungbauer, 2008, S.764). Folgt man der Theorie der Lebensbewältigung, so entscheide sich innerhalb dieser sozialen Referenzgruppe, ob und wie es möglich ist, kritische Lebenskonstellationen thematisieren zu können (vgl. Böhnisch, Schröer 2013, S.31).

Kinder psychisch kranker Eltern sind Belastungen nicht nur im direkten familiären Zusammenleben ausgesetzt, vielmehr entstehen Belastungen auch in Zusammenhang mit der räumlichen Abwesenheit eines erkrankten Elternteils (vgl. Wiegand-Grefe, Mattejat und Lenz, 2011, S.17). Hieraus ergibt sich, dass externe Hilfen für die betroffenen Jugendlichen nicht nur in Bezug auf etwaige individuelle Probleme der Jugendlichen selbst bzw. der Eltern-Kind-Beziehung zu erwarten sind, sondern dass auch die praktische Versorgung der Jugendlichen in deren jeweiligem sozialen Umfeld zu gewährleisten ist. Das Modell von Böhnisch bietet in seiner Mehrdimensionalität für die Konzeption und Durchführung dieser Hilfen eine fundierte Grundlage, da es neben der psychodynamischen Dimension auch die interaktive sowie die gesellschaftliche Perspektive beleuchtet. Soziale Handlungsfähigkeit bezieht sich nicht nur auf das familiäre Umfeld, sondern schließt das Verhalten im erweiterten sozialen Umfeld ein. Insbesondere bei einer stationären Unterbringung eines erkrankten Elternteils eröffnet sich somit für die betroffenen Jugendlichen durch die Inanspruchnahme von externen Hilfen die Möglichkeit von erweitertem Bewältigungsverhalten und einer Milieuöffnung.

3. Identitätskonstruktionen

3.1 Zentrale Begriffe und Überlegungen

Die Autor_innnen et al (vgl. Keupp et al. 2013, S.60) begreifen Identitätsarbeit als aktive Passungsleistung eines Individuums unter den Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft. Identität sei das ganz persönliche Konzept einer Person, in welchem sie eigens gemachte Erfahrungen interpretiere und die ihr als Basis alltäglicher Identitätsarbeit diene (vgl. ebd., S.60).

Im Prozess der Identitätsarbeit entstünden subjektive Konstruktionen, die es jedem einzelnen erlaubten, sich persönlich als handlungsfähig zu sehen und sich in seiner jeweiligen sozialen Welt zu verorten (vgl. Keupp et al 2013, S.243). Jedem Subjekt stellten sich individuelle sowie konkrete lebensweltliche Aufgaben, die es zu bewerkstelligen gelte. Demgegenüber gebe es Aufgabenstellungen, die weitgehend für alle Subjekte gelten, und an denen man entsprechend zentrale Fragen der Identitätsentwicklung verdeutlichen könne (vgl. Keupp et al 2013, S.243). Das Individuum versuche innerhalb der Identitätsarbeit, die richtige Passung zwischen inneren sowie äußeren Erfahrungen herzustellen und diese mit unterschiedlichen Teilidentitäten zu verknüpfen (vgl. ebd., S. 60). Teilidentitäten können sich bspw. durch berufliche Neuorientierung verändern oder aber auch auflösen, wie z.B. im Rentenalter.

Mit seinem Konzept der Identitätskonstruktion beschreiben Keupp et al (vgl. 2013, S. 60) einen sich lebenslang vollziehenden Prozess der Lebensbewältigung, anhand dessen sich ein Individuum seine Identität vor dem Hintergrund neuer Lebenserfahrungen und -situationen selbst konstruiere. Identität sei ein Prozess des Werdens (vgl. ebd., S.76). Die Identität jedes einzelnen Menschen sei nicht als eine abzuschließende Aufgabe zu begreifen, sondern müsse als ein fortwährender Prozess gesehen werden. Keupp et al (vgl. 2013, S.215) erläutern, dass diese Prozesshaftigkeit darin ihren Ausdruck finde, dass Subjekte fortwährend an ihrer eigenen Identität arbeiten, indem sie handeln. In dem Konzept von Keupp et al (vgl. 2013, S.190) wird der Identitätsprozess somit nicht mehr nur als Mittel, um nach der Adoleszenz eine gefestigte Identität zu erlangen, verstanden, sondern als Aufgabe einer lebenslangen Entwicklung. Keupp et al (2013, S.60) heben die Wichtigkeit hervor, diese Art der Identitätsarbeit als „aktive Passungsleistung des Subjekts unter den Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft zu begreifen und sie in ihren wesentlichen Funktionsprinzipien zu rekonstruieren“. Heute könne das Subjekt in vielen Lebensbereichen unter vielen Lebensentwürfen wählen, ohne jedoch sicher zu wissen, ob und welche längerfristigen Konsequenzen und Entscheidungen damit verbunden seien (vgl. Keupp et al 2013, S.243).

Neben dem Konzept der lebenslangen Entwicklung von Identität betonen Keupp et al (vgl. 2013, S.286), dass das Gelingen von Identität nicht alleinig vom einzelnen Individuum zu bewältigen sei, dass es kein privates Projekt, sondern vielmehr ein gesellschaftlich vermittelnder Prozess sei .

Die Identitätsentwicklung von jungen Erwachsenen lasse sich nach Keupp et al (vgl. 2013, S.181) nur im Zueinander der verschiedenen Lebenswelten annähernd beschreiben. Ein zentraler Punkt der Identitätsarbeit liege darin, die verschiedenen Lebenswelten miteinander in Einklang zu bringen. Identität nach Keupp et al, finde immer im Austausch des Individuums mit seiner gesellschaftlichen Umwelt statt (vgl. Keupp et al 2013, S.198 ff). Ganz entscheidend werde dieser Prozess von Ressourcen beeinflusst, welche Ressourcen das Subjekt bei seiner Identitätsarbeit abrufen und mobilisieren könne. In der täglichen Identitätsarbeit seien jedoch nicht die objektiven Ressourcen wichtig, sondern diejenigen, die das Subjekt wahrnehme, also solche, die sich das Individuum erschließen und für sich nutzen könne oder aber auch nicht (vgl. Keupp et al 2013, S.198). „Gerade der Mangel an bestimmten Ressourcen initiiert identitätsbezogene Entwicklungsprozesse“ (Keupp et al 2013, S.198). Sollten zur Umsetzung von Identitätsprojekten oder -zielen entscheidende Kompetenzen und Verbindungen noch nicht hergestellt sein, „wirken diese bereits als Zukunftsorientierung und Entwicklungsressourcen“ (ebd., S.198). Im Umkehrschluss sei zu erwähnen, dass ein reichliches Reservoir an Ressourcen keine Gewähr für eine gelingende Identitätsentwicklung darstelle (vgl. Keupp et al 2013, S.198). Für die Identitätsentwicklung ist also nicht nur das Vorhandensein der Ressourcen von Bedeutung, sondern die Art und Weise, wie diese im Rahmen der Identitätsentwicklung genutzt werden (vgl. Keupp et al 2013, S.201). Die Autor_innen et al (2013, S.201) sehen hier „zwei wichtige Transformationsleistungen“. In der primären Transformationsleistung, werde unter der Identitätsentwicklung gewisse Kapitalien in andere Kapitalsorten umgewandelt. In der sekundären Transformationsleitung, werden äußere Kapitalien in bedeutsame innere Kapitalien / Ressourcen, welche identitätsrelevant sind, übersetzt (vgl. Keupp et al 2013, S.202). Die Autor_innen et al (vgl. ebd., S.202) begreifen als Kapitalien materielles-, kulturelles- und soziales Kapital .

Anhand des sozialen Kapitals soll im Folgenden die dreifache Relevanz der Identitätsentwicklung für das Individuum veranschaulicht werden.

1. Optionsraum: In einem Netzwerk sozialer Kontakte bildeten Personen gleichzeitig ein Netzwerk an denkbaren Identitätsentwürfen und -projekten (vgl. Keupp et al 2013, S. 202, 203). Diese beinhalteten Vorbilder biographischer Abläufe, welche unterschiedlich eingeordnet werden können (ist die Person ähnlich wie ich, ganz anders als ich, so wäre ich auch gerne usw.). Hier sei eine konkrete Auseinandersetzung mit Anderen möglich. Das soziale Netzwerk biete die Möglichkeit für Aushandlungsprozesse, die benötigt werden, um Identitätsprojekte zu realisieren.

2. Soziale Relevanzstruktur: In sozialen Netzwerken werde ausgehandelt, welche identitätsrelevanten Perspektiven für die eigene Person zugelassen werden. Was Subjekte zu einem Identitätsprojekt oder -entwurf machten, werde häufig abhängig von der Beurteilung Anderer innerhalb des Netzwerkes gemacht. Hierzu zählten bspw. die Partner_innen und Peers. Soziale Anerkennung werde über soziale Netzwerke generiert, dies sei für den gesamten Identitätsprozess förderlich.

3. Bewältigungsressourcen: In Zeiten der Orientierungslosigkeit oder -krisen, könnten soziale Netzwerke als emotionale Stützen fungieren und einen Rückhalt bieten. „Gerade wenn der Prozeß der Identitätsbildung durch innere Spannung oder äußere Umbrüche kritisch wird, ist es eine Frage – hier – des sozialen Kapitals, über welche Möglichkeiten des ‚Krisenmanagements‘ ein Subjekt verfügt, weil ihm in seinem Netzwerkeentsprechende Unterstützung zu Teil wird oder umgekehrt entsprechende Ressourcen (Liebe, Anerkennung, Zugehörigkeit) entzogen werden“ (Keupp et al 2013, S.203).

Ein weiterer zentraler Faktor zur Bewältigung von typischen Belastungssituationen der zweiten Moderne seien die Möglichkeiten sowie Fähigkeiten, rege an der Bildung und Veränderung von Erfahrungen mitzuwirken (vgl. Keupp et al 2013, S.246 ff). Aufgrund von unterschiedlichen Untersuchungen gehen die Autor_innen davon aus, dass das Kohärenzgefühl hierbei eine bedeutende Rolle spiele. Sollte diese Vermutung richtig sein, „dann lassen sich Jugendliche mit einem hohen Kohärenzgefühl nicht nur dahingehend unterscheiden, wie sie Stressoren bewältigen, sondern auch darin, wie es ihnen aktiv gelingt, Erfahrungsräume herzustellen, die für sie salutogen (gesundheitsförderlich) sind“ (Keupp et al 2013, S.246).

3.2 Konkretisierung der Theorie bezogen auf meine Fragestellung

Bezieht man das Konzept der Identitätskonstruktionen auf die Identitätsentwicklung Kinder psychisch kranker Eltern, so zeichnet sich die eine deutliche Relevanz und Notwendigkeit dafür ab, frühzeitig durch externe Hilfen bei den betroffenen Familien zu intervenieren, um eine gesunde Identitätsentwicklung bei den betroffenen Jugendlichen zu unterstützen: Keupps Theorie betont, dass das Individuum innerhalb der Identitätsarbeit verschiedene Teilidentitäten verknüpfe. Für Jugendliche psychisch kranker Eltern ergibt sich daraus, dass etwaige negative Identifikationen, die innerhalb der Familie stattfinden, durch andere Rollenvorbilder ausgeglichen werden können. Bestätigung hierfür findet sich bei Lenz (vgl. 2014, S.41), der soziale Faktoren wie bspw. die Beziehung zu Gleichaltrigen oder das Vorhandensein erwachsener Bezugspersonen als wichtigen Faktor für die Entwicklung hervorhebt.

Keupp (vgl. 2013, S.190) betont die Prozesshaftigkeit der Identitätsentwicklung und sieht diese nicht als auf die Pubertät begrenzt. Bezogen auf die Identitätsentwicklung der betroffenen Jugendlichen würde dies bedeuten, dass Defizite, die sich durch die elterliche Erkrankung ergeben, auch noch zu späteren Zeitpunkten, bspw. nach dem Auszug des Jugendlichen aus dem Elternhaus, durch neue Teilidentitäten ersetzt oder ergänzt werden können. Betrachtet man die Forschungsergebnisse zur Entwicklung Kinder psychisch kranker Eltern, so deutet sich demgegenüber an, dass die Übertragbarkeit von Keupps Konzept hier ggf. nur eingeschränkt gegeben ist. So beschreibt Lenz (vgl. 2014 S.4), dass sich Erkrankungen der Eltern, die bei den Kindern in die Entwicklungsphase der frühen Kindheit und in Jugend fallen, sich besonders nachteilig auf die Entwicklung auswirken würden. Lenz zufolge sei das Jugendalter eine besonders sensible Entwicklungsphase, da die Jugendlichen zusätzlich eine Anzahl an Entwicklungsaufgaben zu bewältigen hätten und höheren Anforderungen ausgesetzt seien.

Dennoch sind die Konzepte von Keupp auf die Gruppe der Kinder psychisch kranker Eltern anwendbar und sie verdeutlichen die Wichtigkeit, den betroffenen Jugendlichen verschiedene Lebenswelten anzubieten, indem man durch eine Erweiterung des Optionsraums, der Eröffnung neuer Relevanzstrukturen und Bewältigungsressourcen Entwicklungsbedingungen fördert, die nicht alleine auf das familiäre Umfeld fokussieren.

4. Salutogenese

4.1 Zentrale Begriffe und Überlegungen

Mit dem Konzept der Salutogenese geht Antonovsky der Frage nach, welche Faktoren zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit beitragen. Hierbei geht der Autor (vgl.1997, S.34-35) davon aus, dass das Kohärenzgefühl als Kern der Frage nach der Entstehung von Gesundheit (Salutogenese) betrachtet werden müsse. Ein gut ausgebildetes Kohärenzgefühl trage wesentlich dazu bei, ob ein Mensch sich gesund fühle.

[...]

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Identitäts- und Belastungsherausforderungen von Jugendlichen mit einem psychisch kranken Elternteil. Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit
Hochschule
Hochschule RheinMain
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
26
Katalognummer
V374155
ISBN (eBook)
9783668521094
ISBN (Buch)
9783668521100
Dateigröße
803 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Jugendliche mit einem psychisch kranken Elternteil. Soziale Arbeit, resilienz, lebensbewältigung, identitätskonstruktion, salutogenese
Arbeit zitieren
Britta Hummel-Klinger (Autor:in), 2017, Identitäts- und Belastungsherausforderungen von Jugendlichen mit einem psychisch kranken Elternteil. Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374155

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