Zwischen Detektiv- und Kriminalroman. Untersuchung verschiedener Gattungsmerkmale in Martin Suters "Allmen und die Libellen"


Bachelorarbeit, 2016

41 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Genretheorie

3 Kriminalliteratur
3.1 Detektivroman
3.2 Regeln des Detektivromans

4 Allmen und die Libellen
4.1 Gattungsdiskursiver Kontext
4.2 Literarische Verfahren
4.2.1 Täuschung des Lesers durch den plot
4.2.2 Die Maskerade im Roman
4.3 Figuren
4.3.1 Johann Friedrich von Allmen als (Anti-) Detektiv
4.3.2 Der Komplize
4.4 Einordnung des Romans

5 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Wann immer ein Einzelstück in der Kunst, Literatur oder Musik betrachtet oder untersucht wird, stellt sich gleichzeitig die Frage nach seiner Kategorisierung in ein bestimmtes Genre. Dies kann bewusst oder unbewusst geschehen und mit zum Sympathieempfinden des Rezipienten beitragen. Dies bedeutet auch, dass verschiedene Personen bestimmte Gattungen bevorzugen und Werke anderer Gattungen kategorisch nicht in ihre Leseauswahl einschließen. Die Zuordnung eines Werkes zu einer Gattung und die Untersuchung, welche Merkmale für eine Gattung charakteristisch sind, stellt folglich eine gesellschaftsimmanente Tätigkeit dar, deren Ergebnisse sowohl wissenschaftlich als auch wirtschaftlich von Bedeutung sind. So ist es möglich, dass bestimmte Buchhandlungen einen Großteil ihres Angebots an eine Leserschaft von Kriminalromanen verkaufen und infolgedessen vermehrt Bücher dieser Gattung anbieten. In Zusammenhang mit Kriminalliteratur ist auch die historische Perspektive, die das Zustandekommen der Gattung erst ermöglichte, zu beachten, um zu begreifen, wie die Gattung sich zu der Form entwickeln konnte, die wir heute vorfinden.

Dass dem Genre der Kriminalromane ein besonderer Reiz innewohne, meint Raymond Chandler, Vorbild und Pionier für die weltweit oft kopierten Figuren des hartgesottenen Polizisten in „hardboiled novels“ (vgl. Walter 2002, 65), wenn er sagt: „Man zeige mir einen Mann oder eine Frau, die Kriminalromane nicht ausstehen können, dann will ich Ihnen einen Narren zeigen; einen klugen Narren vielleicht - aber nichtsdestoweniger einen Narren“(Walter, Vorwort 2002, 7). Worin dieser Reiz im Einzelnen bestehen kann, welche Formen er in der Entwicklung der Kriminalgeschichten angenommen hat, und inwiefern sich solche Formen in Martin Suters „Allmen und die Libellen“ finden lassen, wird im Folgenden untersucht.

2 Genretheorie

Der Titel der Arbeit deutet an, dass Gattungsmerkmale untersucht werden. Da aber in der Literatur in Zusammenhang mit Gattungsmerkmalen auch häufig das Wort Genre auftaucht, gilt es vorerst die beiden Definitionen gegenüberzustellen, um ein einheitliches Begriffsverständnis zu schaffen. Der Ausdruck „Genre ist ein Lehnwort aus dem Französischen (genre, Gattung, Art, Geschlecht, Abstammung)“ (Weimar 1997, 704) und „wird zumeist als Synonym für literarische Gattung gebraucht“ (ebd.). Infolgedessen werden die beiden Begriffe im Folgenden synonym verwendet.

Eine grundlegende Definition von Genre in der Literatur ist folgendermaßen formuliert: „Ein Genre ist eine Gruppe von Texten, die gemeinsame Gruppenspezifika (GenreKonventionen) aufweisen.“ (Scheinpflug 2014, 3) Es existieren unterschiedliche methodische Ansätze, ein bestimmtes Werk auf die Zugehörigkeit zu einem Genre und der damit einhergehenden Gruppenspezifika zu bestimmen, von welchen im Folgenden zwei Vertreter vorgestellt werden.

Eine Methode stellt die idealist method dar, in welcher „ein idealer Vertreter eines Genres festgelegt [wird], mit dem dann andere Texte verglichen werden, um ihre generische Treue und ihre Qualität zu bestimmen.“ (ebd.) Problematisch ist bei diesem Ansatz jedoch die „Willkür der Festlegung eines einzelnen Texts als ideale[n] Genre- Vertreter.“ (ebd.) Diese Methode, ein Genre zu definieren, geht von einer sehr apodiktischen Definition des Genres aus, wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit herausstellen wird.

Eine andere Methode findet sich in der empiricist method, welche sich einer Textanalyse verschiedener möglicher Genrevertreter bedient, um „einen Katalog mit notwendigen und hinreichenden Genre-Konventionen [abzuleiten]“ (ebd.) Hier ist also nicht mehr ein einzelnes Werk das Regelwerk eines gesamten Genres, sondern die Gemeinsamkeiten, die verschiedene Werke miteinander verbinden.

Diese unterschiedliche Herangehensweise verdeutlicht die Fragestellung bei der Betrachtung des zu untersuchenden Romans: Sind die Regeln, die ein Werk dem Detektivroman zuordnen, von der ersten verfassten Detektivgeschichte diktiert oder ist die Bestimmung des Romans anhand der Definition, die sich aus der Entstehung des Genres Detektiv- oder Kriminalliteratur entwickelt hat, treffender? Dahingehend können zwei unterschiedliche Lager genannt werden. Ein Lager legt die Annahmen, dass Rätsel schon in unterschiedlichen Geschichten entschlüsselt worden seien, bevor es Kriminalliteratur als Genre gegeben habe und dass bereits in der Bibel Detektivelemente zu finden seien (vgl.1. Mose Kapitel 4, Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Hg. v. d. Evangel. Kirche in Deutschland 1999), als Maßstab für die Gattungsbestimmung fest. Das andere Lager definiert Edgar Alan Poe als Gründer der Detektivliteratur, wendet also die idealist method an, um mit Poes erstem Detektivroman den Maßstab für das Genre zu definieren.

Die folgende Untersuchung der Geschichte von Detektiv- und Kriminalgeschichten wird es ermöglichen, im Anschluss die unterschiedlichen Gattungsmerkmale des Romans vorzustellen.

3 Kriminalliteratur

Eine Definition von „Kriminalliteratur“ liefert das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wie folgt: „Der Kriminalroman handelt in sowohl typologisierten als auch ,freien’ Erzählmustern von Verbrechen und deren Aufklärung.“ (Wörtche 2007, 342) Zentrales Element des Kriminalromans ist laut dieser Definition also ein Verbrechen und seine Aufklärung. Eine abweichende Definition liefert Reclams Krimi- Lexikon: „Um der Kriminalliteratur zugeordnet werden zu können, muss im Zentrum eines belletristischen Werkes ein crimen, ein Verbrechen stehen. Dabei ist es unerheblich, ob auch eine Detektion, eine Ermittlung erfolgt“(Walter, Vorwort 2002, 8- 9). Diese Definition unterscheidet sich von der vorherigen darin, dass weder eine Aufklärung der Tat, noch die Ermittlung, also der Versuch der Aufklärung, zwingend für die Kategorisierung als Kriminalroman ist. Es ist also schwierig, ein Werk einem bestimmten Genre zuzuordnen, wenn keine einheitliche Definition der Gattung vorliegt. Da die Zuordnung des Romans zu einem Genre mit Hilfe einer Definition allerdings eine entscheidende Methode dieser Arbeit darstellt, wird im Nachstehenden die Definition des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft als Grundlage vorausgesetzt. Entscheidend für die Wahl dieser Definition ist, dass die Definition von Walter ein Verbrechen im Zentrum der Geschichte für Kriminalliteratur voraussetzt, es jedoch nur unzureichend zu bestimmen ist, ab wann ein Verbrechen im Zentrum der Geschichte steht und die zweite Definition folglich eindeutigere Ergebnisse liefern wird.

Inhaltliche Aspekte wie die Tat oder ihre Aufklärung können in Kriminalromanen verschiedenste Formen annehmen. Jochen Vogt zitiert Bertolt Brecht diesbezüglich folgendermaßen: „[Der Kriminalroman] hat ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation“ (Vogt 2007, 39). Die Variation stellt also die Stellschrauben eines Kriminalromans dar. Brecht spielte bei den Möglichkeiten zur Variation nach Vogt auf die Handlungsebene, also das, was erzählt wird, an (vgl. ebd.). Eine zweite Ebene der Variation von Kriminalgeschichten besteht nach Vogt in der ethnografischen Perspektive und zwar, indem eine Handlung in „unterschiedlichen historischen, geografischen, sozialen und kulturellen Milieus platziert und entwickelt werden kann“ (Vogt 2007, 40). Das Geschehen findet hier nicht mehr in der bisher für Kriminalgeschichten üblichen, konstruierten Laborsituation statt, die Edgar Marsch kritisiert: „[…] dieser jeweils gewählte Raumausschnitt ist immer nur Labor und dient immer nur der Versuchsanordnung, dient nur als Arena für die Demonstration des Scharfsinns“ (Marsch, Carl Albert Loosli und der Neue Schweizer Kriminalroman 2007, 25-26). Durch die zusätzliche Komponente des Realismus und der authentischen, ethnografischen Perspektive öffnen sich für den Kriminalroman neue Möglichkeiten. Die dritte Ebene, auf der eine Variation - angetrieben in den Vierzigerjahren durch Raymond Chandler - geschah, erfolgte „auf der Erzählstruktur selbst“(Vogt 2007, 40), also in der Art und Weise, eine Geschichte zu erzählen. Diese Variation der Erzählweise veranlasste laut Vogt den Kriminalroman, sich zu einem „veränderbare[n] Modell oder gar als sich selbst transformierendes System“ (ebd.) zu entwickeln. Wenn Vogt die Gattung als sich selbst transformierendes System betitelt, meint er auch einen inhaltlichen Wechsel der Kriminalliteratur, von dem Klaus-Peter Walter sagt, dass er Neuerungen herbeiführt, die den klassischen Kriminalroman zu einem Subgenre der Gattung werden lassen: „Der klassische Kriminalroman mit einem Polizisten, Detektiv oder Anwalt als Helden kann heute nur als eines von vielen Subgenres der expandierenden Gattung Kriminalliteratur gelten“ (Walter, Vorwort 2002, 9).

3.1 Detektivroman

Die beiden Definitionen von Kriminalliteratur, die im zweiten Kapitel dargestellt wurden, gehen in ihrer Gemeinsamkeit von einem Verbrechen als Element des Kriminalromans aus. Die Detektivliteratur - als jüngeres Fragment der Kriminalliteratur - findet ihren ersten Vertreter in der Novelle „Die Morde in der Rue Morgue“, in welcher sich der Täter schlussendlich als Orang-Utan herausstellt. Aus diesem Grunde ist in der Geschichte kein tatsächliches Verbrechen vorzufinden. Das Geschehene kann vielmehr als Vor- oder Unfall anstatt als Verbrechen beschrieben werden. Die Geschichte schildert kein Verbrechen, sondern vielmehr das, woraus nach Poe unsere Welt besteht, nämlich aus Vorfällen bzw. Zufällen. Hier zeigt sich, wie schwierig die Definition von Detektivliteratur ist, wenn bereits die erste Detektivgeschichte nicht der zu Grunde liegenden Definition von Kriminalliteratur entspricht (vgl. Poe 1983).

Abgesehen von den aufgezeigten Problemen, die sich in der Kategorisierung von Kriminalgeschichten ergeben, ist zu erwähnen, dass die erste Detektivgeschichte bereits zum Spiel mit ihren eigenen Regeln einlädt, indem sich in ihr kein Verbrechen ereignet. Es erscheint beinahe provokativ, das zentralste Element der Detektivgeschichte, ergo das Verbrechen, zu entfremden. Zusätzlich reflektiert die Geschichte explizit und poetologisch in einem Vorwort über die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeiten, Detektivgeschichten zu schreiben: „Welch‘ Lied die Sirenen sangen oder welchen Namen Achill annahm, da er sich unter Frauen verbarg, sind wohl verwirrende Fragen, doch liegen sie nicht jenseits aller Mutmaßung“ (Poe 1983, 723). Poe bedient sich zu Beginn seiner Detektivgeschichte an dem Zitat von Sir Thomas Browne, um die Verwirrung und die Mutmaßungen des Lesers als zentrale Möglichkeiten der Varianz zu nennen, in denen sich Detektivgeschichten unterscheiden und auszeichnen können. Poe weist in seiner Einleitung zur Novelle auf ein umfangreiches Weltwissen des Detektivs als Voraussetzung für gelingende Detektion hin: „Aber Bereiche jenseits der Grenzen bloßer Regeln sind es, in welchen das Geschick des Analytikers sich erweist“ (Poe 1983, 726). Poe stellt dar, dass der lösungsbringende Erkenntnisgewinn in Detektivgeschichten Weitblick und Lebenserfahrung voraussetzt. Ein besonderer Reiz der Detektivgeschichte ist demnach für den Leser dort verborgen, wo sich ihm die Lösung des Rätsels außerhalb seiner Erwartungen und außerhalb der konventionellen bzw. säkularen Verbrechen präsentiert. Sowohl Verwirrung und Mutmaßung des Lesers als auch die Lösung der Mutmaßung durch Anwenden von Weltwissen sind die Faktoren, die Poe bereits im Vorwort der ersten Detektivgeschichte als Möglichkeiten der Varianz von Detektivliteratur definiert. Wie sich der Detektivroman substanziell inhaltlich und literarisch entwickelte, wird im Nachstehenden beschrieben.

Der niederländische Literaturforscher Andrè Jolles hat die Literaturwissenschaft 1930 um den Begriff der „einfachen Formen“ erweitert. Sein Buch „Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz“ thematisiert neun Gattungen, die er in Abgrenzung zu den Kunstformen Novelle oder des Kunstmärchens als ,einfache Formen‘ bezeichnet. (vgl. Petzoldt 1989, 1) Unter einfachen Formen handelt es sich nach ihm um „vorliterarische Formen, d.h. um Formen der oralen Tradition im Sinne der Erzählforschung, um volkspoetische Formen, die Modelle der liter. Verarbeitung primärer lebensweltlicher Erfahrungen und Funktionen darstellen. […] [Er] sieht in ihnen vorstrukturierte Gestalten, die sich sozusagen von selbst machen“ (Petzoldt 1989, 1). Jolles geht ausgehend von seiner Definition der einfachen Form auf die Detektiverzählung ein und bezeichnet die Detektiverzählung der Neuzeit als Großerzählung, dessen Ursprung sich in der einfachen Form des Rätsels finden lässt:

„Die Heimlichkeit des Verbrechers, das Rätsel des Verbrechens hat sich in der Neuzeit von seiner Kurzform zu seiner Großerzählung erweitert, der Detektiverzählung. Wir haben hier den Verbrecher, der sich und sein Verbrechen verrätselt, aber in der Verrätselung wiederum selbst die Möglichkeit seiner Entdeckung eröffnet, und den Aufdeckenden, der das Rätsel löst und die Abgeschlossenheit durchbricht, vor uns“ (Jolles 1999, 148 f.).

Laut dieser Definition der Detektiverzählung liegt zu Beginn einer Detektiverzählung ein verrätseltes Verbrechen vor, das im weiteren Verlauf von einem Aufdeckenden enträtselt wird. Der einfachen Form des Rätsels wird in der Detektiverzählung eine zentrale Bedeutung zuteil, wie das wiederkehrende Element der Verrätselung bzw. Enträtselung zeigt. Das Rätsel in seiner einfachen Form bietet nach Jolles also vorerst die Grundlage für die Detektiverzählung und ist ihr grundlegendes Element. Das Rätsel stellt als einfache Form der literarischen Gattung Detektivgeschichte den Grundbaustein zur Entstehung ihrer Gattung dar. Die „orale Tradition“ (ebd.) dieser einfachen Form des Rätsels ist ein Hinweis darauf, dass zur Einordnung des Detektivromans in seine historische Entwicklung im Folgenden ein erkenntnisreiches Unterfangen darin besteht, jenseits der vorliegenden Detektivgeschichte einen Blick auf seine kulturgeschichtlichen Ursprünge zu werfen.

Der italienische Historiker Carlo Ginzburg erlaubt mit Hilfe seines kulturwissenschaftlichen Textes „Spurensicherung“ eine Einordung der Entstehung des Detektivromans auf inhaltlicher Ebene. Ginzburg stellt das Gespür für die Nuance als anthropologische Konstante dar. Er etabliert den Begriff Indizienparadigma, welches er als epistemologisches Modell in Gestalt des sich vor Jahrtausenden erstmalig gezeigten Jägers und Sammlers untersucht. Der Jäger geht „von der minutiösen Erkundung einer vielleicht sehr <niederen> Realität aus, um so die Spuren von Ereignissen, die für den Beobachter nicht direkt erfahrbar sind, zu entdecken“ (Ginzburg 1983, 89). Ginzburg führt verschiedene Punkte auf, in denen die Abduktion mit Hilfe von Indizien bzw. das Gespür für die Nuance wegweisend für die Entwicklung unterschiedlicher Bereiche waren. So hat etwa der Italiener Giovanni Morelli zur Ermittlung von Kunstwerken bislang unbestimmter Künstler eine Methode entworfen, bei der „die Details [untersucht werden], denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflußt sind: Ohrläppchen, Fingernägel […]“(Ginzburg 1983, 79). Ginzburg geht zudem auf die inhaltliche Ebene des Detektivromans ein, indem er Morellis Methode mit der Methode eines Detektivs vergleicht und zu einem Indizienparadigma konzentriert: „Der Kunstsachverständige ist dem Detektiv vergleichbar: er entdeckt den Täter (der am Bild schuldig ist) mittels Indizien, die dem Außenstehenden unsichtbar bleiben“(Ginzburg 1983, 81). Die Methode des Detektivs, einen Fall anhand von Indizien zu enträtseln, greift zurück auf die anthropologische Konstante, die seit Beginn der Menschheit in Gestalt des Jägers und Sammlers zu entdecken ist. Die inhaltliche Nähe seiner Untersuchungen bezüglich der Gewichtung von Nuancen als Grundlage für Kriminalliteratur zu Jolles einfachen Formen (speziell dem Rätsel) lässt vermuten, dass Ginzburg Jolles Werk bekannt war.

Die Werke von Jolles und Ginzburg ermöglichen es nachzuvollziehen, wie sich der Kriminalroman auf formaler Ebene (Jolles) und auf inhaltlicher Ebene (Ginzburg) entwickelt hat. Sowohl das Rätsel als Voraussetzung für die literarische Entstehung der Gattung als auch die Indizien als inhaltlicher Wegbereiter der Kriminalgeschichte sind kleine Formen, die den Kriminalroman determinieren. Ausgehend von dieser historischen Betrachtung erweist sich daher das Zitat von Sigmund Freud als umso eindrücklicher, in welchem er den historischen Ursprüngen neu geschaffener Werke ein irreversibles Gewicht zuspricht: „Es ist bei der Entstehung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren“ (Bühler 2002, 45). Autoren von klassischer Detektivliteratur versuchen dabei, die Enträtselung der Tat durch metaphysische Ereignisse zu vernebeln und verfahren dabei erkenntnisoptimistisch, indem der Detektiv alle thematisierten Verbrechen enträtselt. Ausgehend von dieser Grundlage führt Michael Holquist den Begriff „new metaphysical detective story“ ein: „If, in the detective story, death must be solved, in the new metaphysical detective story it is life which must be solved.” (Schmidt, Der Anti-Detektivroman 2014, 46) Geprägt ist dieses neu definierte Subgenre zum einen von einer Anthropomorphisierung des Individuums als thematischem Schwerpunkt der Detektivgeschichte und zum anderen von einer Verschiebung der Funktion des Lesers auf eine Metaebene, bei welcher der Enträtselung des Falles eine Analyse der verzerrten Erzählmuster und -modelle vorangestellt ist (vgl. Schmidt, Der Anti-Detektivroman 2014, 45-46). 1999 greifen Patricia Merivale und Susan Elisabeth Sweeny diesen Begriff auf und erweitern ihn um die aktuell definierten Merkmale der Anti-Detektivliteratur:

„Zusätzlich wird die Überschreitung des um ein Täterrätsel konstruierten Grundplots durch ,questions about mysteries of being and knowing‘ konstatiert und der Anti-Detektivroman als epistemologische und ontologische Reflexion über die Bedingungen und Verfasstheit von Wissen und Sein beschrieben, durch die die basale Recherche-Bewegung der Detektivliteratur neu kontextualisiert wird.“ (Schmidt, Der Anti-Detektivroman 2014, 49)

Der sich vermehrt andeutende Begriff „new metaphysical detection story“ entwickelt sich letztendlich als Synonym zu der Gattung „Anti-Detektivliteratur“, wobei beide Begriffe von klassischer Detektivliteratur abweichende literarische Werke bezeichnen. (vgl. Schmidt, Der Anti-Detektivroman 2014, 51)

3.2 Regeln des Detektivromans

Eine gegenwärtig verbreitete Auffassung eines schlechten Krimis scheint ein Autor der Boulevardzeitung Bild einzufangen, wenn er über einen aktuellen Tatort-Film schreibt:

„Wieso reicht denn ein guter Krimi am Sonntag nicht völlig aus? Ein Krimi, bei dem ich mich ein-zweimal erschrecke. Ganz viel rätseln kann. Und kurz vor Schluss dann selbst auf die Lösung komme. Mehr brauche ich nicht“ (Schacht 2015, Die Große "Tatort"-Verarsche - Dieser Krimi war total Mist). Zusätzlich wird bemängelt: „Dazu ein Mord, der so nie begangen wurde. Eine Leiche, die plötzlich wieder lebt.“ (ebd.) Betrachtet man diese plakativ anmutende Kritik in seinen Grundforderungen, ist festzustellen, dass hier ein Regelwerk für einen Krimi aufgestellt wird. Spannung, ein tatsächlicher, verrätselter Mord und die Auflösung des Rätsels werden an dieser Stelle als zentrale Elemente gefordert.

In der Entwicklung der Kriminalgeschichten haben auch verschiedene Kriminalautoren, begonnen 1926 durch Willard Huntington Wright, Regelwerke verfasst, an welche sich ihrer Auffassung nach zukünftige Autoren zu halten haben (vgl.Van Dine 1997). Grundlage bzw. Anlass für diese Normierungsversuche war die Forderung nach dem Fair Play des Autors mit seinen Lesern. Impliziert wird vor allem, dass die Kriminalgeschichte diesen dogmatischen und als zeitlos deklarierten Regeln zu unterliegen hat und der Leser durch sie geschützt werden soll. Auch im deutschsprachigen Raum ist ein solcher Versuch unternommen wurden, der im Folgenden vorgestellt wird.

1937 erschien unter dem Pseudonym Stefan Brockhoff in der Zürcher Illustrierten der Roman 3 Kioske am See, der in einem Vorwort 10 Gebote zum Verfassen eines Kriminalromans enthielt. Diese boten dem Leser die Möglichkeit zu prüfen, ob der folgende Roman den 10 Geboten gerecht wird. Der Anlass, diese Gebote zu formulieren, war hierbei die Überzeugung, dem Autor von Kriminalromanen sollte es „eine Pflicht sein, seine Leser beim Spiel nicht zu betrügen und gewisse Gesetze einzuhalten, ohne die jeder Kriminalroman zu einem unfairen Schwindel wird“ (Glauser 1993, 425). Das ehrliche, faire Spiel eines Autors ist für Brockhoff eine Voraussetzung für eine „gute Note“ für einen Krimi. (vgl. Glauser, Offener Brief über die ,Zehn Gebote für den Kriminalroman' 1993, 427) Komprimiert bestehen seine Forderungen in „Wahrscheinlichkeit der Handlung, Verzichten auf Banden samt Chefs, faire[m] Spiel, Vermeiden unnötiger Sensation, anständige[r] Sprache“ (Bühler 2002, 60).

Friedrich Glauser kritisiert Brockhoffs Gebote kurz nach deren Erscheinen und wirft ihm vor, dass ein Roman, der nach den 10 Geboten verfasst wird, schicksalslos sei. Eine Einteilung in gute und böse Menschen stellt für Glauser eine realitätsentfremdende Vereinfachung dar:

„Wenn Sie bereit sind, den ,romantischen Zauber‘ abzuschaffen und ihn verpönen, dann müssen Sie auch die Einteilung in gute und böse Menschen abschaffen. Denn diese Einteilung ist genauso ein fauler romantischer Zauber wie die armen Falltüren und die Requisiten einer Zeit, die naiver war als die unsrige.“(Glauser 1993, 216)

Zudem bemängelt Glauser die fehlende Menschlichkeit, die ein Roman nach den 10 Geboten darstellt und die Idealisierung des Schlaumeiers (des Detektivs). An der Tatsache, dass Glauser mehr Menschlichkeit fordert, wird ersichtlich, dass die Infragestellung des Regelwerks gleichzeitig die Formulierung eines neuen Regelwerks ist. Glauser stellt somit, gleichwohl ob bewusst oder unbewusst, neue Regeln für das Schreiben von Kriminalgeschichten auf.

Das Regelwerk wurde also bereits früh in Frage gestellt und um Ergänzungsvorschläge erweitert. Für eine Untersuchung des Romans von Martin Suter werden im folgenden Kapitel nach der Vorstellung des Romans die 10 Gebote aufgegriffen, um zu prüfen, inwiefern der Roman Brockhoffs Geboten gerecht wird und um welche Gebote er das geforderte Fair Play mit dem Leser möglicherweise betrogen hat.

4 Allmen und die Libellen

Mit dem zugrundeliegenden Roman ebnet Martin Suter den Weg für ein literarisches Projekt: „Jeder meiner Romane ist eine Hommage an eine literarische Gattung. Dieser ist eine an den Serienkrimi. Fortsetzung folgt“ (Suter, Allmen und die Libellen 2011, 217). Diese Motivation war für den Verfasser dieser Arbeit ausschlaggebend für die Auswahl des Romans, da der Anspruch Suters, den Serienkrimi vorbildlich und von Vorbildern inspiriert zu repräsentieren, eine anregende Untersuchungsgrundlage darstellt. Suter verfasst den Kriminalroman im Bewusstsein seiner Sympathie für die Gattung und möchte ein Werk präsentieren, das sich verschiedener gattungstypischer Stellschrauben der Kriminalliteratur bedient.

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Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Zwischen Detektiv- und Kriminalroman. Untersuchung verschiedener Gattungsmerkmale in Martin Suters "Allmen und die Libellen"
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Deutsch)
Note
2,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
41
Katalognummer
V373855
ISBN (eBook)
9783668513860
ISBN (Buch)
9783668513877
Dateigröße
829 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Martin Suter, Allmen und die Libellen, Bachelorarbeit, Detektiv, Antidetektiv, Kriminalroman, Antikriminalroman
Arbeit zitieren
Jonathan Hirtz (Autor:in), 2016, Zwischen Detektiv- und Kriminalroman. Untersuchung verschiedener Gattungsmerkmale in Martin Suters "Allmen und die Libellen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/373855

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