Begründungen für kollektivistische Gesellschaftssysteme in Le Guins "Die Enteigneten", Orwells "1984" und der Volksrepublik China

Ein Vergleich


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

30 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Gegenstand und Fragestellung
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Kollektivismus in der Volksrepublik China, in „1984" und in „Die Enteigneten"
2.1 Die Volksrepublik China als kollektivistisches System
2.2 „Die Enteigneten" als futuristische Utopie des Kollektivismus
2.3 „1984" als Dystopie eines Kollektivismus in einem totalitären Staat

3 Politische Begründung für den Kollektivismus
3.1 Politische Begründung für den Kollektivismus in „Die Enteigneten"
3.2 Politische Begründung für den Kollektivismus in „1984"
3.3 Politische Begründung für den Kollektivismus im kommunistischen System der Volksrepublik China

4 Historische Begründung für den Kollektivismus
4.1 Historische Begründung für den Kollektivismus in „Die Enteigneten"
4.2 Historische Begründung für den Kollektivismus in „1984"
4.3 Historische Begründung für den Kollektivismus im kommunistischen System der Volksrepublik China

5 Wirtschaftliche Begründung für den Kollektivismus
5.1 Wirtschaftliche Begründung für den Kollektivismus in „Die Enteigneten"
5.2 Wirtschaftliche Begründung für den Kollektivismus in „1984"
5.3 Wirtschaftliche Begründung für den Kollektivismus im kommunistischen System der Volksrepublik China

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

8 Internetquellen

1. Einleitung

1.1 Gegenstand und Fragestellung

Im Laufe der Jahrhunderte hat es immer wieder theoretische Entwürfe, aber auch praktische Umsetzungen von Gesellschaftsformen gegeben, in denen das Gemeinwohl über die Bedürfnisse und Wünsche des menschlichen Individuums gestellt wurden. Das dabei geltende Wertesystem wird als Kollektivismus bezeichnet. In dieser Arbeit soll nicht weiterführend auf die Entwicklung und verschiedene Interpretationen des Begriffs des Kollektivismus eingegangen werden. Es sei aber vorangestellt, dass in der vorliegenden Arbeit dieser im Sinne folgender Definition verstanden werden soll:

„Kollektivismus (ist ein) dem Individualismus entgegengesetztes gesellschaftspolitisches Gestaltungsprinzip. Es beruht auf der Annahme, dass die Menschen sich bei selbstinteressiertem Handeln nicht freiwillig so verhalten, wie dies dem Wohl der Gesamtgruppe (des Staates) entspricht. Anstelle der Selbstbezogenheit muss daher, ggf. durch Erziehungs- und Zwangsmaßnahmen, die Gruppenbezogenheit treten; das Individuum ist der Gruppe (Kollektiv) unterzuordnen. (,..).“[1]

In der vorliegenden Arbeit soll der Begriff des Kollektivismus dabei nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, etwa durch Vergemeinschaftung aller Güter, verstanden werden, sondern auch auf eine politische Ordnung bezogen werden. In autoritären und totalitären Systemen lässt sich von einem politischen Kollektivismus im Sinne der „Gruppenbezogenheit“ Sauerlands sprechen, da sich dort das Individuum dem Land bzw. dem Volk unterzuordnen hat und jede Form der Abweichung, durch Reden oder Handeln, Sanktionen nach sich zieht.

Über die möglichen Auswirkungen einer derartigen sozialen Ordnung auf das tägliche Leben haben sich in der Menschheitsgeschichte zahlreiche Autoren Gedanken gemacht und diese häufig in sogenannten Utopien bzw. Dystopien niedergeschrieben. Eine Utopie lässt sich dabei stark vereinfachend als Darstellung von „auf die Zukunft gerichtete politische und soziale Vorstellungen, die Wunschbilder einer idealen Ordnung oder fortschrittlichen menschlichen Gemeinschaft zeichnen“[2] definieren. Eine negative Utopie, d.h. eine Dystopie, kann dabei gegenteilig als die in einem literarischen Werk niedergeschriebene pessimistische Vision von einer Gesellschaft verstanden werden, die „durch die Selektion ausschließlich destruktiver politischer und gesellschaftlicher Kräfte in eine negative Identität umgeschlagen (ist), die im Vergleich zur positiven Utopie als prästabilierte Disharmonie bezeichnet werden kann“[3].

Anhand dieser Arbeit sollen zwei Werke aus der Gattung der Utopien untersucht werden. Zum einen handelt es sich dabei um den 1949 erschienen Roman „1984“ von George Orwell, in der die Hauptfigur Winston Smith sich gegen einen totalitären Überwachungsstaat auflehnen möchte und im Zuge dieses gefährlichen und letztendlich gescheiterten Vorhabens nach und nach hinter die wahre Ideologie seines Staates sowie dessen Machtstrukturen kommt[4]. Der zweite zu behandelnde Roman stammt eher aus dem Science­Fiction-Genre und ist im deutschsprachigen Raum unter dem Titel „Die Enteigneten“ oder „Planet der Habenichtse“ bekannt (im englischen Original lautet der Titel: „The Dispossessed. An Ambiguous Utopia“). Das 1974 erschienene Werk spielt in einer fernen Zukunft und einer fremden Galaxie, in der zwei fast völlig voneinander isolierte Nachbarplaneten in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Systemen leben, was sich dementsprechend auf die Denk- und Lebensweise der Menschen auswirkt[5]. Neben diesen beiden fiktionalen Welten sollen anhand des realen Beispiels des kommunistischen Systems in der Volksrepublik China Rechtfertigungsgründe für den dortigen - zumindest noch politisch - vorherrschenden Kollektivismus herausgearbeitet werden.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Begründungsmuster für einen Kollektivismus im oben genannten Sinn im politischen, historischen und ökonomischen Kontext jeweils darzulegen und entsprechend miteinander zu vergleichen. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese sich ähneln und wo Unterschiede bestehen.

1.2 Aufbau derArbeit

Zur Erörterung der in 1.1 gestellten Zielfragen erfolgt in Punkt 2 zunächst eine weitere Hinführung zu den zu behandelnden Themen. So werden in 2.1 Grundzüge des politischen System und der gesellschaftlichen Ordnung Chinas dargestellt, um ein besseres Verständnis für die Sachverhalte in 3.3, 4.3 und 5.3 zu erreichen. Der grobe Handlungsablauf des Romans „Die Enteigneten“ wird in 2.2 beschrieben, wobei insbesondere auf dessen utopisch-kollektivistischen Charakter eingegangen werden soll. Ebenso werden in 2.3 der Inhalt von „1984“ und dessen dystopische Prägung aufgrund seines Handlungsorts in einem totalitären und vom Krieg gezeichneten Überwachungsstaat einführend abgehandelt.

In Punkt 3 soll die politische Situation in den drei Beispielfällen dargestellt und der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich feststellen lässt, dass für eine jeweils vorherrschende Form von Kollektivismus politische Gründe vorliegen. Mit Punkt 4 soll kurz - soweit möglich - in die Geschichte des Planten Anarres aus „Die Enteigneten“, Ozeaniens aus „1984“ sowie der Volksrepublik China geblickt werden und erörtert werden, ob und inwiefern deren Historie für die Rechtfertigung von kollektivistischen Elementen in der Staats- bzw. Gesellschaftsordnung Gründe liefert.

Die jeweilige ökonomische Ausgangssituation in den zu behandelnden drei Beispielen wird in Punkt 5 dargelegt. Ausgehend davon soll geklärt werden, ob sich in der Ökonomie Gründe dafür finden lassen, dass die Bedeutung des Individuums der des Kollektivs auf Anarres, in Ozeanien und China untergeordnet wird.

In einem abschließenden Fazit (Punkt 6) sollen zusammenfassend die politischen, historischen und wirtschaftlichen Begründungsmuster in den drei Beispielfällen miteinander verglichen werden und insbesondere herausgearbeitet werden, welche gemeinsamen Motive sich aus den gewonnenen Ergebnissen ableiten lassen, aber auch wo deutliche Unterschiede in Form und Begründung des Kollektivismus bestehen.

2 Kollektivismus in der Volksrepublik China, in „1984" und in „Die Enteigneten"

2.1 Die Volksrepublik China als kollektivistisches System

Als eine der wichtigsten Bestrebungen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gilt die Wahrung der nationalen Unabhängigkeit in Verbindung mit der Mehrung von wirtschaftlichem Wohlstand zur Stärkung des Landes[6]. Hierzu dient als wirtschaftliches und politisches System ein „Sozialismus chinesischer Prägung“[7]. Dieser zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass Gemeineigentum die Grundlage des Sozialismus darstellt und dieses als Hauptträger des Wirtschaftssystems fungiert[8]. Zudem „hält man sich an die Führung durch die Partei“[9] und „allen falschen und dekadenten Ideen wird tatkräftig entgegengewirkt“[10]. Im chinesischen Sozialismus werden die Menschen dementsprechend dahingehend erzogen, dass sich ein guter Bürger ein- oder unterordnet und Loyalität gegenüber dem Staat und der Partei zeigt. In der Folge scheint es sich ins Bewusstsein der Menschen festgesetzt zu haben, dass das Handeln des Staates stets zu ihrem Vorteil ist[11].

Zivilgesellschaftliches Engagement wird dementsprechend als nicht­konfrontatives Handeln verstanden, das zudem staatstreu sein soll. Der Staat übt eine umfassende Kontrolle aus und limitiert die Handlungsmöglichkeiten seiner Bürger[12]. Wirtschaftlich kann das Land dabei auf einige Erfolge blicken. So verzeichnete China seit seiner wirtschaftlichen Öffnung Ende der 1970er Jahre zumeist zweistellige Wachstumsraten, ist mittlerweile hinter den USA die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und einer der wichtigsten Exportnationen der Erde[13]. Gleichzeitig hat sich China zu einer sehr ungleichen Gesellschaft entwickelt, insbesondere das wirtschaftliche Gefälle zwischen städtischen und ländlichen Gebieten ist gewaltig[14]. Auch ist die im Zuge der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung entstandenen Umweltbelastung so groß, dass sie nicht nur eine Gefahr für die menschliche Gesundheit, sondern mittlerweile auch für die weitere ökonomische Entwicklung darstellen[15]. Die Entstehung einer wirtschaftlichen Mittelklasse, ein enormes Reichtumsgefälle und horrende Umweltverschmutzung haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich die Zahl der Proteste und der daran teilnehmenden chinesischen Bürger stark erhöht haben[16]. Die Unterdrückung von Protesten führt dabei oft zu noch mehr Widerstand[17]. Das kollektivistische politische System Chinas, in dem die Bürger das Handeln von Staat und Partei nicht hinterfragen und bedingungslos unterstützen scheint daher immer mehr in Gefahr zu geraten.

2.2 „Die Enteigneten" als futuristische Utopie des Kollektivismus

In „Die Enteigneten“ ist der Kollektivismus kein durchgehendes Motiv, da die Handlung sich auf zwei verschiedene Planten in einer fremden Galaxie abspielt. Der menschliche Ursprungsplanet namens Urras wird dabei zur Hälfte von einem kapitalistischen System (im Staat A-Io) beherrscht. Es gibt auch eine große kommunistische Macht mit Zentralregierung auf dem Planeten, der im Buch aber nur wenige Passagen gewidmet sind. Der zweite Planet namens Anarres ist ein ressourcenarmer Ort und ist von jahrhundertelanger politischer Anarchie geprägt. Es herrscht die Idee vor, dass Eigentum lediglich eine Illusion ist, dementsprechend gibt es auf Anarres weder Eigentum noch Geld. Jede Art von Materialismus und Dekadenz wird verachtet. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen wird die menschliche Solidarität als „our only resource“[18] bezeichnet. Infolge dessen wird von jedem Einzelnen erwartet, dass er sich mit zusätzlichen Freiwilligendiensten zum Wohl der Gesellschaft einbringt. Die individuelle Selbstopferung für die Gemeinschaft genießt also auf Anarres einen hohen Stellenwert.

Die Frage, ob „Die Enteigneten“ und insbesondere die Beschreibung von Anarres eine Utopie oder eine Dystopie darstellen ist auch in der Forschung äußerst umstritten. So sehen die Einen „Die Enteigneten“ und Anarres als eine Art Weiterentwicklung einer positiven Utopie, andere Kritiker sehen den Roman jedoch mit Verweis auf dessen pessimistische Seite als Dystopie an[19].

2.3 „1984" als Dystopie eines Kollektivismus in einem totalitären Staat

Die Rahmenhandlung von George Orwells „1984“ spielt in eben diesen Jahr, in London, das die Hauptstadt des vom jahrzehntelangen Krieg mit anderen Großmächten gezeichneten totalitären Staats Ozeanien ist. In diesem herrscht ein „oligarchischer Kollektivismus“[20], in dem das Individuum nichts und die Partei alles bedeutet[21]. In diesem Staat garantiert nur die Unterordnung des Einzelnen zugunsten des Kollektivs, also der Partei, die eigene Sicherheit[22]. Die Hauptfigur Winston Smith arbeitet zwar für das für Propaganda zuständige sogenannte Ministerium für Wahrheit der Regierung, steht ihrer Ideologie von permanentem Krieg und totaler Überwachung aber kritisch gegenüber. Smith beschließt, Verbündete im Kampf gegen das System zu suchen und findet scheinbar einen Mitstreiter in einem Vorgesetzten namens 0‘Brien. Dieser plant jedoch von Anfang an, Smith zu verraten und zu verhaften.

Neben den totalitären Elementen im Gesellschaftssystem von Ozeanien, ist deren kollektivistische Ausprägung über die gesamte Länge des Romans deutlich zu vernehmen. So verfügen die Parteimitglieder über keinerlei Freizeit oder Privateigentum und müssen regelmäßig an Veranstaltungen aktiv mitwirken, bei denen die eigene Regierung und insbesondere der Führer der Nation, der „Große Bruder“, glorifiziert wird (gleichwohl niemand weiß, ob dieser tatsächlich existiert[23] ) oder aber politische und Kriegsgegner in einer Art Rauschzustand verunglimpft werden. Wer hier nicht genug Emotionen zur Schau stellt, der riskiert bereits als Systemgegner zu gelten.

Insofern ist „1984“ als Dystopie zu bezeichnen, da wesentliche Merkmale der Menschlichkeit, insbesondere freundschaftliche oder Liebesbeziehungen sowie selbstständiges, reflektiertes Denken und Handeln quasi nicht existent sind und der gesamte Alltag, ja das ganze Leben eines Menschen der Partei und der Vernichtung seiner Gegner gewidmet ist.

3 Politische Begründung für den Kollektivismus

3.1 Politische Begründung für den Kollektivismus in „Die Enteigneten"

Die Staatsform auf dem fiktiven Planeten Anarres kann als „anarchistischer Kommunismus“[24] bezeichnet werden. Es gibt keine zentrale Regierung, sondern lediglich eine für die Produktionssteuerung verantwortliche Verwaltung[25]. Dabei wird „very carefully (...) between administering things and governingt people“[26] [27] unterschieden. In politischer Hinsicht ist Anarres also als libertär-individualistisch einzustufen. Es gilt der Grundsatz, dass „Coercion is the least efficient means of obtaining order127. Allerdings gestaltet sich die ökonomische Realität dort gegenteilig. Im Gegensatz zum Nachbarplaneten Urras, genauer gesagt dessen Großmacht A-lo, gilt persönliches Eigentum auf Anarres als reine Illusion und existiert daher nicht. Sein oberstes praktisch­moralisches Gebot ist Zusammenarbeit, d.h. Solidarität und gegenseitige Hilfeleistung. Dieses Zusammenspiel aus dem Fehlen staatlicher Autorität und wirtschaftlichem Kollektivismus wird in „Die Enteigneten“ Odonianismus genannt[28] [29]. Benannt ist diese Ideologie nach ihrer Gründerin Laia Odo, die selbst jedoch nie auf Anarres war und nur den ressourcenreichen Planeten Urras kannte. Sinnbildlich für ihre Ideologie ist der Spruch auf Odos Grabstein „To be whole is to be part“29. Hinter dieser Denkweise steht wohl die Annahme, dass erst das Fehlen einer zentralen Autorität soziales Handeln, d.h. freiwilliges Kooperieren und Teilen, im Menschen richtig zum Leben erweckt. So werden das individuelle Wohlergehen und das Gemeinwohl in einer Weise verknüpft, dass es niemandem mehr möglich ist auf Kooperation zu verzichten und seine Verantwortung auf einen Dritten, also den Staat, abzuschieben[30]. Entsprechend wird die Hauptfiguer Shevek von einem Freund mit Blick auf die Zustände auf Urras gefragt: „Would you really like to live in a society where you had no responsibility and no freedom, no choice, only the false option of obedience to the law or disobedience followed by punishment?“[31] Politisch lässt sich der wirtschaftliche Kollektivismus auf Anarres also mit den Lehren von Laia Odo begründen, deren Überzeugung es war, dass das Zusammenspiel aus fehlender Regierungsgewalt und fehlendem Privateigentum das Beste, sprich Hilfs- und Kooperationsgemeinschaft, im Menschen hervorbringt, anstatt eine egoistische Gesellschaft zu erzeugen, die von Gier nach Macht und Reichtum getrieben ist.

3.2 Politische Begründung für den Kollektivismus in „1984"

Ozeanien, der Staat in dem „1984“ spielt, ist als totalitäre Diktatur einzustufen, die streng hierarchisch aufgebaut ist und durch totale Überwachung und Kontrolle der Parteimitglieder die Macht der Partei garantiert. Über allem steht der Anführer der Nation, der „Große Bruder“, dessen Existenz aber bezweifelt werden darf. Die Gesellschaft Ozeaniens ist dreigeteilt. Die mächtigste Schicht ist die Elite der Regierungspartei, die Innere Partei, die als einzige weiß, wie das politische System funktioniert. Die zweite Gruppe bilden die Parteimitglieder der Äußeren Partei, die zwar durchaus gebildet sein können und von denen auch gewisse intellektuelle Leistungen bei ihrer Arbeit zum Wohle der Gemeinschaft erwartet werden. Ebenso gilt an sie aber auch die Anforderung, sich in Gedanken, Worten und Taten bedingungslos hinter das Handeln der Partei zu stellen[32]. Die größte Gemeinschaft mit einem Bevölkerungsanteil von 85%[33] bilden die Proles, die politisch macht- und bedeutungslos sind und denen sogar das Menschsein von manchen Parteikadern abgesprochen wird[34]. Sie verfügen über keinerlei Bildung und werden vom von Mangel geprägten Alltag mit Sportereignissen, einer fingierten Lotterie und minderwertigen Erotikpublikationen abgelenkt[35].

Eine Erklärung für den politisch stark kollektivistischen Ansatz der Gesellschaft Ozeaniens liefert die Abwehr innerer und äußerer Feinde, die die Herrschaft der Partei und damit des Staats als Ganzes mit ihren vermeintlichen oder tatsächlichen Angriffen gefährden.

Als größtes inneres Feindbild gilt dabei die Widerstandsorganisation namens „Die Bruderschaft“ von Immanuel Goldstein, der einmal Mitglied des Inneren Partei gewesen war und fast dieselbe Bedeutung wie der Große Bruder hatte, jedoch nach regierungsfeindlichen Aktivitäten zum Tode verurteilt wurde und außer Landes floh[36]. Er agitiert laut Parteipropaganda nun gegen die Regierung und ruft aktiv zum Sturz dieser. Die Parteimitglieder sind dazu verpflichtet, dessen tägliche Videobotschaften im „Zwei-Minuten-Hass“ mit Schimpftiraden und ekstasehaften Hassanfällen zu attackieren. Er gilt schließlich als „Urverräter, der erste, der die Reinheit der Partei besudelt hatte.“[37] Für die Parteimitglieder ist die Figur Goldsteins ohne Zweifel real, da es regelmäßige Medienberichte über dessen Missetaten gibt und politische Gefangene häufig zugeben, in dessen Diensten zu stehen[38].

Der permanente Krieg und die Abwehr von feindlichen Angriffen, abwechselnd von Eurasien und Ostasien,[39] ist ein weiteres Mittel, mit dem sich die Unterdrückung jeglichen inneren Widerstands begründen und damit die „interne Systemstabilisation“[40] erreichen lässt. Siegesmeldungen und Nachrichten, dass der Krieg womöglich bald zu Ende sein könnte[41], sollen dabei dir Moral und den Durchhaltewillen der Massen und insbesondere der Partei stärken[42]. Entsprechend handeln die Menschen in Ozeanien „ausschließlich im Sinne der vom Staat festgelegten Ziele“[43]. Nachprüfen, ob der Krieg bzw. die Siegesmeldungen überhaupt Realität sind oder doch nur Propagandainstrument sind ist für die Bewohner Ozeaniens unmöglich, da private Reisen ins Ausland untersagt sind[44]. Letztendlich ist es auch unerheblich, ob der Krieg Realität ist, entscheidend ist, „dass ein Kriegszustand existiert.“[45] Erwähnenswert ist zudem, dass der Patriotismus, insbesondere durch die Proles, durch Meldungen über Bombenangriffe auf zivile Ziele wie Kinos und Kinderspielplätze ebenfalls erfolgreich gestärkt wird[46]. Ansonsten findet der Krieg aber in der Peripherie der drei Weltmächte Ozeanien, Eurasien und Ostasien statt, da andauernde Gefechte im Inneren der Staaten die Macht des jeweils regierenden Regimes gefährden könnten[47]. Festhalten lässt sich also, dass die politische Unterwerfung des Individuums unter die Herrschaft der Partei mit einem permanenten Bedrohungszustand begründet wird, der durch Propagandaberichte über geständige Mitglieder der „Bruderschaft“ und Bombenangriffe auf London scheinbar tagtäglich bewiesen wird. In diesem Umfeld scheint jede Form der Nonkonformität als gefährlich für das Kollektiv wie für das Individuum und erzeugt so ein Klima der Denunziation und der Gehorsamkeit.

3.3 Politische Begründung für den Kollektivismus im kommunistischen System der Volksrepublik China

Die Volksrepublik China wird von Politikwissenschaftlern heute als autoritäres Regierungssystem bezeichnet, in dem die Kommunistische Partei über ein Machtmonopol verfügt und jede oppositionelle Bestrebung unterdrückt. China wird jedoch nicht mehr als totalitäres Land angesehen, in dem allein der Staat die absolute Kontrolle über Wirtschaft, Gesellschaft und das Leben von Einzelpersonen innehat, wie dies noch zu Regierungszeiten von Mao Zedong (1949-1976) der Fall war[48].

Zwar wurde bei der Gründung der Volksrepublik 1949 von der Kommunistischen Partei erklärt, dass es sich dabei um eine demokratische „Diktatur des Volkes“[49] handle, darunter versteht die Partei aber bis heute nicht eine Demokratie nach westlichem Vorbild, die als Ordnungsmodell abgelehnt wird[50].

Zur Begründung wird zum einen auf Jahrtausende alte chinesische Kulturtraditionen verwiesen, die sich von denen im Westen abheben sowie auf den speziellen humanistischen Geist Chinas, der Individualismus und Egoismus angeblich ablehnt bzw. in dem individuelles Handeln der Allgemeinheit gewidmet wird[51]. Insofern vertritt nicht jeder Einzelne für sich seine Interessen, sondern die Regierung übernimmt diese Aufgabe für alle Individuen[52]. Zum zweiten betont insbesondere die Parteiführung, dass das Land derzeit noch „zu groß, zu arm, zu ungebildet und zu instabil“[53] sei, um dem Volk wahre politische Macht zu übertragen. In diesem Sinne wird auch propagiert, dass China zwar gerne ein liberaleres Land werden würde, doch müsse das Machtmonopol angesichts einzigartiger Probleme im Land noch einen unbestimmten Zeitraum weiterbestehen. Kritiker sprechen eher davon, dass die kommunistische Parteiführung Demokratie und Wahlen als eine unmittelbare Bedrohung ihrer Macht ansieht[54]. Derlei Kritikpunkte werden jedoch als „Missverständnisse und Misstrauen“[55] abgetan. Gleichzeitig gibt die KPCh durchaus zu, dass das politische System in China noch nicht perfekt ist und an weiteren Fortschritten gearbeitet wird, verweist aber auf den langatmigen Prozesscharakter dieser Entwicklung[56].

In Anbetracht der hier erarbeiteten Ergebnisse lässt sich also festhalten, dass die starke Machtkonzentration in der Volksrepublik China auf die KPCh zum einen mit der chinesischen Tradition begründet wird, die das Gemeinwohl über Individualbedürfnisse stellt, sich zum anderen aber auch auf der Angst der Partei und Bevölkerung vor dem Zusammenbruch der inneren Ordnung[57] im Falle von überhastet eingeführten demokratischen Mitspracherechten gründet. Auch hier wird also der Konformismus des Einzelnen als nötig für das Wohlergehen und die Sicherheit des Kollektivs angesehen. Für die mangelnde Mitsprache der Mehrheit der Bevölkerung werden, änhlich wie in Ozeanien, äußere Umstände, die prekäre Lage im Inneren verantwortlich gemacht. Um diese Probleme zu lösen, wird die alleinige Macht scheinbar von der Masse auf eine kompetente Staats- uns Parteiführung übertragen.

4 Historische Begründungfürden Kollektivismus

4.1 Historische Begründung für den Kollektivismus in „Die Enteigneten" Nahezu 200 Jahre vor der Spielzeit des Romans kam es auf Urras zu einer

odoianischen Revolution, die jedoch scheiterte, woraufhin den Anarchisten angeboten wurde, auf den bis dahin unbewohnten Mond bzw. Nachbarplaneten Anarres überzusiedeln. Auf diese Weise konnten sich die Regierungen auf Urras sicher sein, dass die Revolutionäre nicht erneut ihre Macht untergraben bzw. diese beenden und gleichzeitig konnten sich die Anhänger Odos auf ihrem neuen Planeten verwirklichen. Entsprechend wurde auch nach einiger Zeit eine fast komplette Abschottung der beiden Planeten voneinander vereinbart[58].

Dies führte nicht nur zu einer Entfremdung, sondern zu zwei besonderen Tendenzen in der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Erstens scheint der Großteil der Bewohner von Anarres davon überzeugt - mitunter ausgelöst durch propagandistischen und durch martialische Kontrastbilder geprägten Schulunterricht -, dass es auf ihrem Planeten die beste menschliche Gesellschaft gibt. Generell macht sich die Abneigung gegenüber den Bewohnern von Urras im Laufe des Buchs häufig bemerkbar, wobei insbesondere deren Materialismus und mangelnde Empathie für soziale Ungleichgewichte eine Rolle spielen[59].

Zweitens existiert auf Anarres eine große Furcht davor, dass eine vom wirtschaftlich deutlich überlegenen Nachbarplaneten Urras ausgehende militärische Invasion die von den meisten Anarres-Siedlern als gerechte und gute Ordnung nicht nur zerstören könnte, sondern auch, dass in der Folge ihr gesamter Planet versklavt werden könnte, damit die dort vorhandenen Minen für die angeblich profitsüchtigen Menschen von Urras noch billiger ausgebeutet werden können[60]. Wichtig ist zu erwähnen, dass durch die 150 Jahre währende Isolation kein Bewohner von Anarres die sozialen Verhältnisse und die Menschen von Urras kennt.

[...]


[1] Sauerland.

[2] Klein / Schubert 2011, 305.

[3] Hug 2007, 42.

[4] In dieser Arbeit wird die 1998 im Ullstein-Verlag erschienene deutsche Version von „1984" verwendet.

[5] In dieser Arbeit wird die 1991 im Verlag Victor Gollancz erschienene englische Originalausgabe von „The Dispossessed. An Ambiguous Utopia" verwendet.

[6] Vgl.Junru 2011,41.

[7] Ebd., 26.

[8] Vgl. ebd., 27.

[9] Ebd., 28.

[10] Ebd., 29.

[11] Vgl. Heberer 2010, 5.

[12] Vgl. Heberer 2006, 20f.

[13] Vgl. Kreft 2010, 35.

[14] Vgl. Kreft 2006, 15f.

[15] Vgl. Sternfeld 2006, 27.

[16] Vgl. Erling 2013 und Geinitz 2013.

[17] Vgl. Geinitz 2013.

[18] Le Guin 1974, 139.

[19] Vgl. Plaw 2005, 284.

[20] Orwell 1949, 222.

[21] Vgl. Hug 2007, 110.

[22] Vgl. ebd., 119.

[23] Vgl. Wolin 1986,103.

[24] Sabia 2005,112.

[25] Vgl. LeGuin 1974, 65.

[26] Ebd., 140.

[27] Ebd., 124.

[28] Vgl. Le Guin 1974 (s. Internetquellen).

[29] Vgl. LeGuin 1974, 72.

[30] Vgl. Sabia 2005, 114.

[31] Le Guin 1974, 40.

[32] Vgl. Orwell 1949, 250ff.

[33] Vgl. ebd., 87.

[34] Vgl. ebd., 67 und 89f.

[35] Vgl. ebd., 55f und 106f.

[36] Vgl. Orwell 1949, 18f.

[37] Vgl. ebd., 19.

[38] Vgl. Hoffmann 1983, 42 und Orwell 1949, 20f.

[39] Vgl. Orwell 1949, 44f und 218.

[40] Hug 2007, 119.

[41] Vgl. Orwell 1949, 34.

[42] Orwell 1949, 232.

[43] Hug 2007, 111.

[44] Vgl. ebd., 113.

[45] Orwell 1949, 232.

[46] Vgl. Hoffmann 1983, 114 und Orwell 1949,182.

[47] Vgl. Rothbard 1986, 5 und Orwell 1949, 238.

[48] Vgl. Heilmann 2006 II

[49] Junru 2011, 82.

[50] Vgl. Heilmann 2006 II.

[51] Vgl. Junru 2011, 109.

[52] Vgl. Köckritz 2014.

[53] Kahn 2004.

[54] Vgl. ebd.

[55] Junru 2011, 102.

[56] Vgl. ebd., 92 und 101.

[57] Vgl. Heilmann 2006 II.

[58] Vgl. LeGuin 1974, 37f.

[59] Vgl. ebd., 37-40.

[60] Vgl. ebd., 79.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Begründungen für kollektivistische Gesellschaftssysteme in Le Guins "Die Enteigneten", Orwells "1984" und der Volksrepublik China
Untertitel
Ein Vergleich
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Veranstaltung
Politische Utopien
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
30
Katalognummer
V373623
ISBN (eBook)
9783668511613
ISBN (Buch)
9783668511620
Dateigröße
539 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kollektivismus, KP, China, Kommunistische Partei, Kommunismus, Anarchie, Orwell, 1984, Utopie, Dystopie, Le Guin, Die Enteigneten, politische Philosophie, Science-Fiction
Arbeit zitieren
Benedikt Weingärtner (Autor:in), 2014, Begründungen für kollektivistische Gesellschaftssysteme in Le Guins "Die Enteigneten", Orwells "1984" und der Volksrepublik China, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/373623

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