Der Doppelgänger in der Romantik in E. T. A. Hoffmanns "Die Abenteuer der Silvesternacht"

Die Kopie des Ichs in der Literatur


Hausarbeit, 2016

16 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Motiv des Doppelgängers in der Romantik

3. Die Abenteuer der Silvesternacht und ihre Doppelgänger
3.1 Der reisende Enthusiast – Spiegelbild seiner selbst?
3.2 Doppelgänger überall?

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Finde noch heute deinen Seelenverwandten!“ So oder so ähnlich werben heutzutage viele Partnerbörsen. Sie versprechen einen Gleichgesinnten, einen Menschen, der genau so ist, wie man selbst. In Filmen und in der Literatur taucht dieses Phänomen ebenfalls häufig auf, wenn auch hier eher in negativem Zusammenhang. Doch gibt es die Kopie des eigenen Ichs wirklich? Oder ist dies nur der Wunsch der eigenen Phantasie?

E. T. A. Hoffmann hat diese Frage in seinem Werk „Die Abenteuer der Silvesternacht“[1] aufgegriffen. Einen Überblick hierzu soll die vorliegende Ausarbeitung verschaffen.

Der erste Teil der Arbeit gibt eine Definition des Begriffes Doppelgänger und ordnet die Thematik knapp in die Epoche der Romantik ein, wobei Besonderheiten und Eigenschaften genauer erläutert werden.

Im zweiten Teil liegt der Fokus vor allem auf den in der Erzählung vorkommenden Personen selbst. Untersucht wird die Funktion einzelner Charaktere sowie deren Beziehungen zueinander. Das spezielle Augenmerk liegt dabei auf dem Vergleich des reisenden Enthusiasten und Erasmus Spikhers. Es wird geklärt, in welchem Verhältnis beide Personen stehen und, im Hinblick auf das Hauptthema dieser Arbeit, ob sich Nachweise einer Doppelgänger-Funktion finden lassen. Darauf folgend werden weitere Figuren in Abhängigkeit dieses Ergebnisses untersucht. Hat E. T. A. Hoffmann sein ganzes Werk mit Doppelgängern bestückt?

2. Das Motiv des Doppelgängers in der Romantik

„Der Begriff ‘Doppelgänger‘ bezeichnet zwei Personen, die durch Zufall oder durch Blutsverwandtschaft (meistens als Zwillinge) eine austauschbare physische Ähnlichkeit haben.“[2] Diese Definition ist zwar allgemeingültig, jedoch im Sinne der literarischen Romantik noch zu ungenau. Während dem Doppelgänger in anderen Epochen thematisch eine eher komödiantische Rolle zuteilwird, erfährt er zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitere Attribute, die ihn oft als eine phantastische Gestalt erscheinen lassen.

Das „literarische Motiv fächert sich über den rational erklärbaren Doppelgänger hin zum spukhaften Doppelgänger, der von magischen Kräften erzeugt wird und auf das Schicksal der Menschen Einfluss zu nehmen versucht.“[3] Sehr bedeutsam für die Romantik ist der Aspekt der Projektion der Bewusstseinsspaltung eines Individuums. Der Doppelgänger ist das Produkt eines zerspalteten Ichs aufgrund einer politisch instabilen Situation sowie innerlichen, seelischen Vorgängen, die es zerreißen. Er steht für Wünsche, Ängste und Phantasien, wobei seine Existenz letztendlich auch „als Sprachrohr [des wahren Ichs zu sehen ist, da dieses] selbst nicht in der Lage ist [seine] Gefühle auszudrücken, [sodass er letztendlich] Ich-Spaltung und selbstzerstörerische Tendenzen [motiviert].“[4]

Doppelgänger treiben also einerseits die Handlung voran, andererseits jedoch auch subjektbezogene Reaktionen. Ihre Aufgabe besteht darin, wirkungsvolle Situationen aufzubauen und innerliche Zustände sowie Sehnsüchte des Individuums darzulegen.

Ein weiterer symptomatischer Aspekt der Romantik besteht im Aufeinandertreffen des Ichs mit dessen Doppelgänger. Es erfolgt aus subjektiver Sicht, wodurch sich das Ich z.B. in einem Spiegel, einem Gemälde oder leibhaft gegenüberstehen kann. Vor allem Hoffmann, der die Doppelgänger-Thematik in seinen Werken noch akribischer verfolgt, als dies andere Autoren tun, erschafft dadurch eine Welt der Sehnsucht nach dem Irrationalen und einer Welt des Rationalen.[5]

„War der Doppelgänger für Jean Paul deshalb schrecklich, weil er das endliche Abbild des eigenen, unendlich sein wollenden Ichs verkörperte, so wird bei Hoffmann der Doppelgänger zum Symbol des Schwebens des Menschen zwischen der Wirklichkeit und der Sehnsucht nach dem Irrationalen.“[6]

3. Die Abenteuer der Silvesternacht und ihre Doppelgänger

3.1 Der reisende Enthusiast – Spiegelbild seiner selbst?

Am Anfang der Erzählung der „Abenteuer der Silvesternacht“ begleitet der Leser den reisenden Enthusiasten, dessen genauer Name nie erwähnt wird, zu einer abendlichen Gesellschaft. Dort trifft der Protagonist eine Frau, die er unter dem Namen Julie zu kennen glaubt. Jedoch kann er sich nicht ganz entscheiden, ob ihm diese Person bekannt oder doch fremd ist.

Der Reisende spürt das Gefühl der Vertrautheit. Ihr Blick löst in ihm einen „Strahl aus herrlicher Vergangenheit aus dem Leben voll Liebe und Poesie“ (AS 85) aus. Er ist benebelt von ihrer Schönheit (vgl. AS 87) und es scheint so, als hätte ihre Anwesenheit eine Art drogenhafte Wirkung auf ihn, da er sich nur danach sehnt, „bald ihr Kleid zu berühren, bald dicht bei ihr ihren Hauch einzuatmen“ (AS 86).

Andererseits empfindet der reisende Enthusiast auch etwas Unbekanntes an ihr. So spricht sie „in beinahe fremden Ton“ (AS 85) zu ihm. Seinem Empfinden nach hat „ihre ganze Gestalt [...] [sogar] etwas Fremdartiges angenommen, sie [scheint ihm] größer, herausgeformter in fast üppiger Schönheit, als sonst“ (AS 85). Sie scheint ihm sogar so unbekannt, dass er sie mit einem Gemälde vergleicht (vgl. AS 85f.). Ihm ist es also nicht möglich zu sagen, ob er einen echten Menschen oder doch nur ein Abbild vor sich stehen hat.

Trotz aller bösen Vorahnung überwiegt seine Neugier und Schwärmerei für Julie, was er in einer Aussage zusammenfasst:

„Du nahst dich der herrlichen Blume, die in süßen heimischen Düften dir entgegenleuchtet, aber sowie du dich beugst, ihr liebliches Antlitz recht nahe zu schauen, schießt aus den schimmernden Blättern heraus ein glatter, kalter Basilisk und will dich töten mit feindlichen Blicken!“ (AS 85)

Doch stellt sich die Frage, wieso der Enthusiast seine vermeintlich ehemalige Geliebte nicht eindeutig identifizieren kann. Hat er Julie wirklich bereits getroffen oder lebt er Phantasien aus?

Von der Gesellschaft geflohen, begibt sich der Reisende in einen Bierkeller, in welchem er auf seine „Unglücksgefährten“ (AS 93) Peter Schlemihl und Erasmus Spikher trifft. Vor allem mit Spikher scheint er eine besondere Verbindung zu haben, auch wenn Erasmus ihm anfangs „sehr unheimlich“ (AS 90) erscheint.

Diese Verbindung wird deutlicher, als die beiden dasselbe Schlafzimmer zugewiesen bekommen. Der Enthusiast, unwissend, dass sich Spikher im selben Raum befindet, zieht ein Tuch von einem verhängten Spiegel und hat eine Art Traum. Er sieht sich selbst als „so blaß und entstellt, dass [er sich] kaum selbst wiedererkannte“ (AS 92). Diese Aussage erinnert stark an die erste Beschreibung Spikhers, da der Kleine „mit einem gemütlichen Gesicht“ in den Bierkeller eintrat, den reisenden Enthusiasten später aber mit einem „totblasse[n], welke[n], eingefurchte[n] Antlitz eines Greises mit hohlen Augen“ anstarrt (AS 89). Auch die Reaktion der beiden auf die im Traum auftauchende Gestalt, die beide als ihre Geliebte erkennen, zeigt ihre Verbindung auf, welche sogar Spikher bemerkt und sie als „Unglücksgefährten“ (AS 93) bezeichnet.

Ein Beleg für diese Aussage stellt die „Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde“ dar. Spikher beschreibt Giulietta nach exakt dem gleichen Muster, wie der Enthusiast es bei Julie macht:

„Das weiße, Busen, Schultern und Nacken nur halb verhüllende Gewand, mit bauschigen, bis an die Ellbogen streifenden Ärmeln, floß in reichen breiten Falten herab, die Haare vorn an der Stirne gescheitelt, hinten in vielen Flechten heraufgenestelt. Goldene Ketten um den Hals, reiche Armbänder um die Handgelenke geschlungen vollendeten den altertümlichen Putz der Jungfrau, die anzusehen war, als wandle ein Frauenbild von Rubens oder dem zierlichen Mieris daher.“ (AS 96; siehe auch AS 85)

Die beiden schildern ihre Geliebte folglich nicht nur äußerlich gleich, sie vergleichen sie zudem auch beide mit einer gemalten Frauenfigur. Diese Gemeinsamkeit bemerkend weiß der Enthusiast plötzlich auch nicht mehr, ob er nun Julie oder Giulietta gesehen hat[7]:

„Ganz erfüllt von den Erscheinungen der Silvesternacht glaube ich beinahe, daß [...] die holde Julie aber jenes verführerische Frauenbild von Rembrandt oder Callot war, das den unglücklichen Erasmus Spikher um sein schönes Spiegelbild betrog.“ (AS 108)

Der Enthusiast kommt also zur Vermutung, dass er Erasmus Geliebte Giulietta bereits schon einmal getroffen hat. Dies scheint allerdings einen Widerspruch darzustellen, da er von Giulietta erst durch die Erzählungen Spikhers erfährt. Fraglich ist also, wie sich der Reisende an Dinge erinnern kann, die ihm nicht persönlich widerfahren sind? Ist es also möglich, dass der Enthusiast diese Dinge nicht erst weiß, seitdem er sie in Erasmus Notiz gelesen, sondern selbst erlebt hat? Dies würde bedeuten, dass Erasmus Spikher und der reisende Enthusiast Doppelgänger sein müssen, ja sogar ein und dieselbe Person. Im Folgenden wird diese These untersucht.

Spikher, ein bürgerlicher Familienvater, bricht nach Italien auf, um eine Reise in die Kunst zu wagen. Auf seiner Reise schwört er, dass er seiner Frau und somit seinem „alten Leben“ treu bleibt, was auch bis zum Zeitpunkt des Erblickens Giuliettas gelingt. „Als sie sich ihm näherte faßte ihn eine fremde Gewalt und drückte seine Brust zusammen, daß sein Atem stockte“ (AS 97). Giulietta symbolisiert für Spikher eine böse Versuchung, welche ihn im Inneren zerreißt und verändert. Dies stellt auch ein wichtiges Merkmal der Romantik dar. Der Mensch wagt den Spagat zwischen bürgerlichem und dem verführerisch künstlerischen Leben, wobei letzteres als die Reise nach Italien zu deuten ist.

Gekennzeichnet ist diese Dissonanz durch eine innerliche Zerrissenheit, mit der auch Erasmus zu kämpfen hat. Friedrich, Spikhers Freund in Italien, „merkte wohl, wie ein innerlicher harter Kampf begonnen“ (AS 99) hat. Ein Kampf zwischen Bürger und Künstler, der, wie so oft üblich für die Epoche der Romantik, in einer Art Seelen- oder Persönlichkeitsspaltung endet, was die Auflösung des Individuums zufolge hat. Bei Spikher geschieht diese vollständige Spaltung letztendlich durch das Überlassen seines Spiegelbildes an Giulietta. Er löst sich in den Bürger Erasmus Spikher und den Künstler, den reisenden Enthusiasten, auf.[8]

[...]


[1] Die Textgrundlage bildet die 1959 erschienene Ausgabe des Wilhelm Goldmann Verlags. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden im laufenden Text durch Nennung der Sigle AS und der Seitenzahl belegt.

[2] Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Alfred Kröner 1988. S. 94.

[3] Ebd., S. 94.

[4] Daemmrich, Horst (u.a.): Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Tübingen: UTB 1995. S. 109.

[5] Vgl. Romitan, Ana-Maria: Zum Doppelgängermotiv bei E. T. A. Hoffmann. In: Synthesis: bulletin du Comité National Roumain de Littérature Comparée et de l'Institut d'Histoire et de Théorie Littéraire G. Călinescu de l'Académie Roumaine. Bukarest: Ed. Acad.. S. 51-58, hier S. 52f.

[6] Krauss, Wilhelmine: Das Doppelgängermotiv in der Romantik. Studien zum romantischen Idealismus. In: Germanische Studien 99. Nendeln: Kraus Repr. Verlag 1967. S. 90.

[7] Vgl. Baier, Christian: Nur der ´Traum eines Ichs´? Identitätsspaltung, Ich-Verlust und Doppelgängertum in E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch. Hrsg. v. Hartmut Steinecke. Band 18. Bamberg: Erich Schmidt Verlag 2010. S. 7-24, hier S. 8.

[8] Vgl. Baier, Christian: Nur der ´Traum eines Ichs´? Identitätsspaltung, Ich-Verlust und Doppelgängertum in E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch. Hrsg. v. Hartmut Steinecke. Band 18. Bamberg: Erich Schmidt Verlag 2010. S. 7-24, hier S. 13f.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der Doppelgänger in der Romantik in E. T. A. Hoffmanns "Die Abenteuer der Silvesternacht"
Untertitel
Die Kopie des Ichs in der Literatur
Hochschule
Universität Mannheim
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
16
Katalognummer
V372817
ISBN (eBook)
9783668503304
ISBN (Buch)
9783668503311
Dateigröße
497 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Doppelgänger, Romantik, E. T. A. Hoffmann, Analyse, Die Abenteuer der Silvesternacht, Ich
Arbeit zitieren
Marcel Brand (Autor:in), 2016, Der Doppelgänger in der Romantik in E. T. A. Hoffmanns "Die Abenteuer der Silvesternacht", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/372817

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