Sinn und Wert statt Norm und Natur. Zu Kants Ethik und einigen Prämissen der Sinnfrage


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2017

13 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Norm und Natur

Grenzen des Normativen

Norm und Wert bei Kant: Verschränkung oder Übergang?

Kritik des Kategorischen Imperativs

Wert, Norm und Sinn

Sinn und Wert

Literatur

Sinn und Wert statt Norm und Natur? Zu Kants Ethik und einigen Prämissen der Sinnfrage

Norm und Natur. Schon die Wortstellung bedeutet wohl eine Vorentscheidung darüber, wie wir mit den beiden Begriffen umgehen sollen. Und warum nicht umgekehrt: Natur und Norm? Diese syntaktische Umstellung würde andeuten, dass wir in der Lage wären, Normen aus der Natur zu begründen, wogegen sogleich der Einwand zu erheben wäre, dass dann der faux pas eines naturalistischen Fehlschlusses begangen würde.

Die Natur kennt keine Normen. Sie existiert vielmehr aus sich heraus, als natura naturans und natura naturata, schaffende und gewordene Natur. Sie unterliegt Naturgesetzen, nicht aber ethischen Normen. Wogegen allerdings der Ehrgeiz einiger Naturwissenschaftler, sprich: Neurologen, rebelliert; glauben sie doch fest daran, sogar Bewusstsein und Geist – und damit auch jegliche Normativität – rein naturwissenschaftlich verstehen und erklären zu können. Auf diesen Ehrgeiz näher einzugehen, halte ich hier und jetzt nicht für sinnvoll und begnüge mich daher vorerst damit, herauszustellen, inwiefern meine Themenstellung in der Wortstellung ‚Norm und Natur‘ zweckmäßig und zielführend zu sein scheint.

Zweifellos sind wir Menschen ja nicht reine Naturwesen, sondern auch geistbestimmt unter anderem deshalb, weil wir ethische Normen verinnerlicht haben und diese befolgen, so gut wir es vermögen. Trotzdem ist nicht ohne weiteres klar, in welchem Verhältnis Naturphilosophie und Ethik zueinander stehen. Selbst wenn wir mit Schelling annehmen, der Geist habe die Natur hervorgebracht und wirke in ihr fort, können wir Ethik nicht rein naturalistisch begründen und nicht auf Naturwissenschaft reduzieren.

Können wir deshalb die Natur in uns und um uns herum überhaupt nicht unter ethischen und ethisch-normativen Aspekten betrachten? War Freud im Unrecht, als er behauptete, das Über-Ich kontrolliere auch das „Es“ des Unbewussten, die Natur in uns? Und wie weit recht diese Kontrolle? Sollte man Freud Forderung bekräftigen, dass dort, „wo Es war … , Ich werden“ soll? So dass unter diesem Aspekt auch das Thema ‚Norm und Natur‘ abzuhandeln wäre? Dem ist nicht so. Und warum nicht? Vor allem wegen der

Grenzen des Normativen

Schon das lateinische Wort ‚norma‘ bedeutet nicht nur Winkelmaß und Regel, sondern auch bereits: Richtschnur, Maßstab und Vorschrift – Bedeutungen, die sich bis heute erhalten haben. Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch wird das Wort nicht nur in Ethik und Moral verwendet, sondern, oft in neuen Nuancen und Erweiterungen, auch im Alltags- und Arbeitsleben, beim Sport, in Wissenschaften (z.B. in der Sprachwissenschaft) sowie in Wirtschaft, Industrie und Technik. Obwohl es Bedeutungen sind, die auch in der Philosophie eine Rolle spielen, muss ich mich hier im Wesentlichen auf bestimmte Verwendungsbereiche in Ethik und Moral beschränken.

In der Philosophie wird normalerweise zwischen Norm und Regel unterschieden. Norm enthält Mustergültiges in leitenden Grundsätzen (Axiomen) und fordert daher unbedingtes Sein und Geschehen, während Regeln befolgt werden oder nicht.1 Normativisten räumen dem Normativen einen Vorrang gegenüber allem bloß Faktischen ein; sie glauben an Normen als Ausdruck nicht hinterfragbarer Ordnung. Kant verwendet Norm und Regel häufig synonym, ohne dass dies die Stringenz und Kohärenz seiner Pflicht- und Gesinnungsethik beeinträchtigen würde.

Als Musterbeispiel normativer Ethik gilt Kants Kategorischer Imperativ (im Folgenden: Kat. Imp.). Dessen universalisierende Grundformel lautet in Frageform bekanntlich: „Kannst du wollen, dass die Maxime deines Willens als Grundlage einer Allgemeinen Gesetzgebung dient?“ Kant bezeichnet diesen Satz als „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“, wobei er mit dem „Gesetz“ das Sittengesetz meint. Ausführlich: „Dieser Imperativ ist k a t e g o r i s c h. Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle. Dieser Imperativ mag der d e r S i t t l i c h k e i t heißen.“2 Als angeblich allgemein gültiger betrifft dieser Imperativ auch sämtliche Bereiche von Staat, Gesellschaft, Politik und Recht. Er gilt als Richtschnur und Leitlinie jeglicher Gesetzgebung überhaupt, auch wenn Kant den Kat. Imp. für den Bereich des Rechts neu formuliert und dabei die individuelle mit der allgemeinen Freiheit und diese wiederum mit dem „allgemeinen Gesetz“ verknüpft.

Kant gewinnt den Kat. Imp. durch Überlegung, intensives Nachdenken, genauer: durch einen „synthetisch-praktischen Satz a priori “, wobei von jeglicher „Neigung“ abzusehen sei; vielmehr gelte dieser Satz als Synthesis „nur objektiv d.i. unter der Idee einer Vernunft, die über alle subjektiven Bewegursachen völlige Gewalt hätte“.3 – Die dem Satz des Kat. Imp. vorangehenden Überlegungen beziehen sich theoretisch auf die gesamte Geschichte der Ethik einschließlich der jüdisch-christlichen Traditionen religiöser Normen und Werte, wobei Kant sich insbesondere mit der Goldenen Regel und mit der aristotelischen Glücksethik auseinandersetzt. Diese Aufarbeitung zu referieren, würde hier ebenso zu weit führen wie der Versuch, das Ganze des Theorie-Gebäudes der Kant’schen Metaphysik der Sitten nachzuzeichnen.

Dass es sich dabei tatsächlich um eine Theorie handelt, lässt sich unschwer nachweisen. Kant selbst weist darauf hin, dass eine „Synthesis a priori“, ein allgemeingültiger Satz, durchaus von empirischen „Vorstellungen von Gegenständen“ (und somit auch von Sinneswahrnehmungen) ausgeht, die dann im Denken auf den Begriff gebracht und miteinander verbunden werden, „um daraus eine Erkenntnis zu machen“, die sich in einer Synthesis ausdrücken lässt.4

Die Synthesis hält Kant für „rein“, wenn sie „a priori“, also rein gedanklich und unabhängig von jeglicher Erfahrung, vorhanden ist. Durch die Synthesis verfüge das denkende Subjekt über feststehende, unumstößliche Grundsätze (Axiome), wie sie vornehmlich in der Mathematik – aber nicht nur dort – verwendet werden. Im Falle des Kat. Imp. handelt es sich jedenfalls um ein Theorem als Teil des Theorie-Gebäudes der Metaphysik der Sitten. Außerdem betont Kant, dass es Axiome zwar in der Mathematik, nicht jedoch in der Philosophie gebe.5

Jedenfalls ist zu fragen, wie „Maximen des Willens“ als subjektive Bestimmungsgründe des Handelns mit allgemein gültigen ethischen Grundsätzen verglichen und abgeglichen werden können. Was heißt dabei „allgemein gültig“? Müssten dann jeder Einzelperson nicht sämtliche Personen bekannt sein, auf die der Kat. Imp. zutreffen kann und soll? Das scheint unmöglich zu sein, zumal Kant Personen ausschließlich als „Vernunftpersonen“ gelten lässt. Und weiter: Ist die Frage, ob eine Handlung mit dem „Sittengesetz“ vereinbar ist, überhaupt zu beantworten, wenn die „Materie der Handlung“ selbst auszublenden ist, wie Kant es fordert (s.o.)? Und wie soll die Einzelperson es schaffen, stets von ihren Neigungen abzusehen und „alle subjektiven Bewegursachen“ stets völlig dem Pflicht-Diktat der angeblich „objektiven“ Vernunft zu unterwerfen (s.o.)? Können die stets subjektiven Maximen des Willens unter solchen Voraussetzungen überhaupt formuliert werden?

Bevor Fragen dieser Art beantwortet werden können, muss eine weiter gehende Frage beantwortet werden: Ist Kants Kat. Imp. rein normativ, beruht er ausschließlich auf strikten Vorschriften, Geboten und Verboten, oder kommen darin auch Wert-Aspekte und damit Aspekte der Motivation zum Vorschein? Es geht also nunmehr um

Norm und Wert bei Kant: Verschränkung oder Übergang?

In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten von 1785 behauptet Kant, sein Kat. Imp. sei nur „ein einziger“, nämlich derjenige der Grundformel, wonach nur nach Leitsätzen gehandelt werden darf, in denen die subjektiven Moral-Vorstellungen (Maximen) der vernünftigen Einzelperson den Ansprüchen einer „allgemeinen Gesetzgebung“ genügen. Argumentativ leitet Kant daraus tatsächlich alle weiteren, d.h. mindestens drei weitere Formulierungen des Kat. Imp. ab, wobei er zunächst dessen Normativität insofern noch zu steigern versucht, als er sie mit der Würde einer Naturgesetzlichkeit auszustatten versucht: „ ... handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum
all gemeinen Naturge - setze werden sollte.“
(a.O. S. 43). (Man beachte das leicht relativierende ‚als ob‘: den Analogie-Vorbehalt!)

Weniger normativ als vielmehr auf Werte bezogen ist dagegen die sogenannte „Zweckformel“, von Kant selbst als „der praktische Imperativ“ eingeführt, wonach die Person des Menschen stets als Selbstzweck zu achten ist und daher niemals als bloßes Mittel zum Zweck missbraucht werden darf. Dabei beruft Kant sich auf die Menschheit als Ganzes, die er für „heilig“ erklärt, während die Einzelperson zuweilen durchaus „unheilig“ sei, so dass die Zweckformel vollständig lautet: Handle so, daß du die Menschheit in deiner Person als in der Person in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (a.O. S. 52, ‚brauchen‘ hier offensichtlich im Sinne von ‚ge - brauchen‘!).

Zweifellos steht auch diese Formel des Kat. Imp. – wie alle anderen – im Zeichen der Normativität, und zwar durch die stereotyp wiederkehrende, gebotsartige Aufforderung zum sittlichen Handeln: „Handle so, daß ...“. Wobei die – weiter reichende – Wertbezogenheit dieser Forderung unübersehbar ist, und zwar allein schon dadurch, dass hier das Person -Sein des Menschen in den Mittelpunkt der Synthesis rückt. Was allerdings nicht völlig unvermittelt geschieht, denn in jeder Formulierung des Kat. Imp. stellt sich Kant auf den Standpunkt der „Allgemeinen Gesetzgebung“, d.h. des Sittengesetzes, das ohne den Bezug zum moralisch Guten und zum Guten überhaupt und schließlich sogar zu Gott als dem „höchsten Gut“, dem Summum bonum, gar nicht denkbar ist. Damit ist der Wertbezug bereits unver- kennbar hergestellt. Diesen Bezug verstärkt Kant in der Zweckformel des Kat. Imp. durch den personalen Bezug, der zum eigentlichen Kernbereich seiner Anthropologie gehört.

Es sind Zusammenhänge, die Kant mehrfach unmissverständlich verdeutlicht hat. Als „an sich gut“ gilt ihm der gute Wille; aber nur dann, wenn dieser nicht bloß x-beliebigen Neigungen, sondern in jedem Falle der Pflicht dient. Die Pflicht ist „die Bedingung eines an sich guten Willens ..., dessen Wert über alles geht.“ (a.O. S. 22)

Darüber hinaus unterscheidet Kant zwischen relativen und absoluten Werten. Der relative Wert, zumal der Neigungen, erschöpft sich in der Nützlichkeit einer Sache oder einer Handlung. Absoluten Wert misst Kant dagegen dem zu, was einen „Zweck an sich selbst hat“. Zweck an sich, also Selbstzweck, kommt der vernünftigen Person zu, die sich an das Sittengesetz hält. Erst im sogenannten „Reich der Zwecke“ gewinnt der Mensch als Person seine Freiheit und seine Würde, die als „innerer Wert“ sogar absolut zu gelten habe: Die Person hat „absoluten inneren Wert“, und zwar als „Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft“, wie es in § 11 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten von 1797 heißt.6

Dem entspricht dort eine erneut modifizierte Formulierung des Kat. Imp., in der es nunmehr heißt: „Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“ (a.O. S. 60). – Auch diese Anweisung versteht Kant nicht rein normativ. Er verbindet sie – in der Tugendlehre seiner Metaphysik der Sitten – vielmehr mit der Idee des persönlichen Wohlergehens, ja der „Glückseligkeit“, die nicht nur für die eigene Person, sondern auch für alle anderen zum absolut erstrebenswerten Ziel werden soll. Man soll nach persönlicher „Vollkommenheit“ streben, und zwar sowohl im Physischen als auch im Moralischen und Geistigen überhaupt. Einübung in ständigen Verzicht, mithin eine „Mönchsasketik“, ist damit nicht vereinbar.7

[...]


1 Vgl. Schmidt / Schischkoff 1961, S. 414

2 Kant 1965, S. 37

3 Kant a.O. S. 41

4 Vgl. Kant 1956, S. 115 f.

5 Vgl. Kant 1956, S. 673 f.

6 1990, S. 319

7 Vgl.Volpi u.a. 1988, S. 447; s. auch Artikel ‚Wert‘ in: Eisler 1964, S. 603..

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Details

Titel
Sinn und Wert statt Norm und Natur. Zu Kants Ethik und einigen Prämissen der Sinnfrage
Autor
Jahr
2017
Seiten
13
Katalognummer
V371659
ISBN (eBook)
9783668495289
ISBN (Buch)
9783668495296
Dateigröße
506 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wert, Norm, Natur, Kants Ethik, Kritik des Kategorischen Imperativs, Sinnfrage
Arbeit zitieren
Dr. Klaus Robra (Autor:in), 2017, Sinn und Wert statt Norm und Natur. Zu Kants Ethik und einigen Prämissen der Sinnfrage, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/371659

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