José F.A. Olivers "Dichtung und Nachhall. Eine Skizze ins Übersetzen". Eine Untersuchung auf Mehrsprachigkeit und Übersetzung


Hausarbeit, 2016

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Mehrsprachigkeit in Übersetzungen

3. Olivers Weg zur Übersetzung
3.1. Weg der Kulturübersetzung
3.2. Weg der Übersetzung der Sprache

4. Übersetzung der Gedichte El grito und El silencio

5. Resümee

6. Bibliographie

1. Einleitung

Die Literatur der Gegenwart wird von zahlreichen Autoren geprägt, die mehrsprachig aufgewachsen sind, in verschiedenen Ländern gelebt haben und in verschiedenen Sprachen schreiben. Viele Schriftsteller lokalisieren sich selbst in mehrsprachigen Räumen und ihre polyglotten Texte[1] sind als „[...] zeitgemäße Reaktion auf Erfahrungen und Ausdrucksbedürfnisse der Gegenwart“[2], wie beispielsweise Auswanderungen, zu verstehen. Zu den mehrfach ausgezeichneten Autoren der interkulturellen Literatur gehören beispielsweise Ilija Trojanow, Yoko Tawada und José F. A. Oliver, der als Sohn einer spanischen Gastarbeiterfamilie in Deutschland aufgewachsen ist und einen wichtigen Beitrag für die sich sprachlich immer mehr vernetzenden Literaturwelt geliefert hat.[3] Roberto Di Bella spricht davon, dass es Oliver mit seinen Texten gelingt „[...] Veränderungen unseres Wahrnehmungsgefüges und kulturellen Selbstverständnisses“[4] hervorzurufen. Dies geschieht insbesondere durch seine Tätigkeit als Übersetzer, Sprach- und Kulturmittler, für die er durch sein mehrsprachiges Aufwachsen in verschiedenen Kulturen[5] die erforderlichen Voraussetzungen hat. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht sein Essay Dichtung und Nachhall. Eine Skizze ins Übersetzen, welcher in „Mein andalusisches Schwarzwalddorf“ (2007) erschien. Oliver übersetzt darin nicht nur die zwei Gedichte des spanischen Autors Federico García Lorca[6], El silencio und El grito, sondern beschreibt auch den Übersetzungsprozess, welcher dem Leser oftmals nicht zugänglich ist. Dieser birgt jedoch ein großes Potential für eine interkulturelle Kommunikation in sich und soll daher im Fokus dieser Arbeit stehen. Leitfragen für die folgende Analyse sind, welche kulturellen und sprachlichen Schwierigkeiten sich für Oliver auf dem Übersetzungsweg ergeben und welche Lösungen er findet. Insbesondere soll dabei auch die Mehrsprachigkeit untersucht werden: Welche Funktion und Wirkung hat die Verwendung von Mehrsprachigkeit in der Übersetzung und auf dem Übersetzungsweg? Wie ist die Übersetzung vor dem Hintergrund einer mehrsprachigen Leserschaft zu bewerten?

Im folgenden Kapitel werden generelle Überlegungen zum Thema Mehrsprachigkeit in Übersetzungen dargestellt. Es schließt sich ein Kapitel an, in dem der Prozess der Übersetzung analysiert wird, welcher sich in die Unterkapitel der Sprach- und Kulturübersetzung aufteilt. Zuletzt werden auch die Übersetzungen der Gedichte Lorcas dargestellt, woran sich eine Zusammenfassung der wesentlichen Analyseergebnisse anschließt.

2. Zur Mehrsprachigkeit in Übersetzungen

Leitfrage dieses Kapitels ist, inwiefern das verbreitete Ziel einer einsprachigen Übersetzung erreichbar ist. Ist es sinnvoll oder gar möglich, sich zum Ziel zu setzen, eine vollständig einsprachige Translation eines Textes vorzunehmen? Zunächst sollen die oftmals umstrittenen Begriffe der Mehrsprachigkeit und Übersetzung für ein besseres Verständnis kurz definiert werden. Unter literarischer Mehrsprachigkeit bzw. Polyglossie und Multilingualität kann man einerseits die Fähigkeit eines Autors verstehen, mehrere Sprachen zu sprechen und in ihnen Texte zu verfassen, andererseits kann sie sich auf die Verwendung verschiedener Sprachen innerhalb eines einzigen Textes beziehen.[7] Dirk Skiba benutzt für die Unterscheidung den Begriff intertextuelle Mehrsprachigkeit, wenn Autoren verschiedene Sprachen innerhalb verschiedener Texte gebrauchen und intratextuelle bzw. textinterne Mehrsprachigkeit, wenn es Sprachmischungen innerhalb eines einzigen Textes gibt.[8] Letztere Definition wird für diese Arbeit übernommen, da sie auf den zu analysierenden Essay von Oliver zutrifft.

Schwieriger scheint jedoch die Definition des Übersetzens oder vielmehr der Übersetzung. Auf den ersten Blick finden sich schnell recht unspezifisch gehaltene Definitionen, wie „[d]ie Wiedergabe von Äußerungen einer natürlichen Sprache in einer anderen natürlichen Sprache (interlinguales Übersetzen)“[9] oder „[...] dasselbe in einer anderen Sprache sagen“[10]. Doch offensichtlich ist, dass es in den meisten Fällen keine 1:1-Übersetzung eines Textes von einer Sprache in eine andere geben kann. Manfred Schmeling weist darauf hin, dass selbst eine sehr gute Übersetzung immer als Verfremdung des Übersetzten zu verstehen ist, Einheitlichkeit könne, wenn überhaupt, nur als etwas Nachträgliches verstanden werden, „[...] etwas gegen die ursprüngliche Vielfalt gewaltsam Durchgesetztes, etwas Erzwungenes“[11]. Es bleibt also festzuhalten, dass es immer eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Differenz zwischen dem Originaltext und der entsprechenden Übersetzung gibt. Eine Übersetzungs-Definition, sollte diese Beobachtung enthalten und ferner verschiedene Übersetzungsebenen berücksichtigen. Dazu gehören beispielsweise Sprache, Form und kulturell-geprägte Inhalte. Im Rahmen dieser Arbeit gilt die folgende Definition:

Übersetzung ist eine zugleich verstehende und gestaltende Form der Erfahrung von Werken einer anderen Sprache. Gegenstand dieser Erfahrung ist die dialektische Einheit von Form und Inhalt als jeweiliges Verhältnis des einzelnen Werkes zum gegebenen Rezeptionshorizont (Stand der Sprache und Poetik, literarische Tradition, geschichtliche, gesellschaftliche, soziale und individuelle Situation). Diese Konstellation wird in der Gestaltung als Abstand zum Original spezifisch erfahrbar.[12]

Es wird deutlich, dass bei einer Übersetzung immer verschiedene Ebenen des Textes berücksichtigt werden müssen. In Bezug zur Ausgangsfrage, wie einsprachig eine Übersetzung sein kann, stellt sich nun die Frage, ob es überhaupt möglich ist, alle Bedeutungsebenen eines Textes zu erfassen, wenn er in eine andere Sprache übertragen wird? Sind beispielsweise kulturelle Informationen, die ein Text enthält, auch für Sprecher einer anderen Sprache erfahrbar, wenn sie die Übersetzung lesen? In gewisser Weise ja, denn die Herkunft des Textes aus einer anderen Sprache und Kultur bleibt ihm in der Regel weiterhin eingeschrieben, was Evi Zemanek und Weertje Willms als implizite Polyglossie bezeichnen.[13] Texte lassen sich als kulturelle Zeugnisse begreifen. Beispielsweise kommen kulturspezifische Denk- und Handlungsmuster in Sätzen oder gar einzelnen Wörtern eines Textes zum Ausdruck.[14] Durch eine Übersetzung dieser Wörter oder Sätze, kann es unter Umständen dazu kommen, dass deren kulturelle Bedeutung verloren geht. Kulturspezifische Informationen zu übersetzen, scheint eine Herausforderung zu sein, die jedoch für einen interkulturellen Dialog notwendig ist. Die Translation lässt sich als eine Form der interkulturellen Kommunikation verstehen, deren Ziel es nicht sein soll „[...] das Fremde bruchlos zum Eigenen zu machen“, sondern vielmehr „[...] die Differenz, die für die Bildung interkultureller Identitäten notwendig ist, sichtbar zu machen“[15]. Doch es geht nicht nur um das Sichtbarmachen kultureller Muster, sondern auch darum, sie „[...] zu vermitteln und deren Fremdheit gleichzeitig abzubauen [...]“[16], wodurch das Konzept einer Weltliteratur erst ermöglicht wird. Vor dieser Aufgabe steht auch Oliver zu Beginn der Übersetzung der beiden Gedichte Lorcas. Mehrsprachigkeit stellt eine Möglichkeit dar, kulturelle Differenzen einerseits sichtbar zu machen, aber diese gleichzeitig auch abzubauen. In welcher Weise der Autor die Mehrsprachigkeit einsetzt, wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein.

Zuletzt sei noch die linguistische Perspektive zu nennen, nach welcher ebenfalls deutlich wird, dass eine einsprachige Übersetzung als Konzept nicht haltbar ist. Schmeling geht von einer immanenten Vielschichtigkeit der Sprache aus. Jede Sprache unterliegt historisch bedingten, fremdsprachigen Einflüssen, die sich prozesshaft fortsetzen. Jede Einzelsprache besteht demnach aus verschiedenen Sprachen.[17] Er weist ferner darauf hin, dass eine Sprache auch Gruppensprachen, Fachsprachen, Soziolekte und weitere Unterkategorien enthält, durch die de facto jeder Sprecher mehrsprachig wird.[18] Auch in Bezug auf literarische Texte ist festzuhalten, dass sie immer vielsprachig sind, da der Text als „Erbe“ früherer Texte vielsprachig ist, ebenso wie die einzelnen Sprachen durch die bereits erwähnten fremdsprachlichen Einflüsse.[19] Besonders schwierig erscheint auch die Bestimmung, ab wann ein Wort zur eigenen Sprache gehört, was laut Schmeling darauf beruht, dass „[...] es kein Idiom gibt, welches so ,rein’ wäre, daß es nicht auch Lehnwörter enthielte [...] wer wollte darüber entscheiden, ob ein solches Lehnwort ,schon’ zur Sprache gehört oder ,noch’ ein Fremdwort ist“[20] ?

Festzuhalten bleibt, dass eine einsprachige Übersetzung weder erstrebenswert sein kann, wenn man den Verlust kultureller Informationen bei einer Übersetzung berücksichtigt, noch möglich ist, da es keine „reine“ Sprache gibt und sie permanenten fremdsprachlichen Einflüssen unterliegt. Mehrsprachige Dichtung stellt eine Möglichkeit dar, einen kulturellen Kontakt zu ermöglichen, Sprachgrenzen zu überwinden und dadurch auch ausgelöste Gefühle der Fremdheit bei der Leserschaft abzubauen, wodurch ein bereichernder interkultureller Austausch stattfinden kann.

3. Olivers Weg zur Übersetzung

Olivers Essay Dichtung und Nachhall. Eine Skizze ins Übersetzen zeigt auf einzigartige Weise, wie es dem Autor gelingt, zwei Gedichte aus dem Spanischen ins Deutsche zu übersetzen. Unter anderem inspirieren ihn und helfen ihm dabei persönliche Erfahrung, Erzählungen von Familienmitgliedern und die Gedanken anderer Autoren. Der Leser erfährt in direkter Weise welche Vorüberlegungen, Probleme und Lösungen mit der Übersetzung verbunden sind und kann somit Schritt für Schritt den Übersetzungsprozess nachvollziehen. Oliver präsentiert eine vielschichte und mehrsprachige Auseinandersetzung mit geschichtlichen und kulturellen Themen Andalusiens, wie beispielsweise dem Bürgerkrieg, in dem Lorca ermordet wurde, seiner eigenen Familiengeschichte, der Sprache in Laut- und Schriftform, eigenen Gedichten und Reisen. Darin verwoben finden sich immer wiederkehrende Reflexionsmomente, in denen der Autor seine Gedanken zum aktuellen Übersetzungsstand darstellt. Es stechen besonders zwei dominante Themenbereiche im Prozess der Übersetzung der spanischen Gedichte El grito und El silencio hervor: Der kulturelle Gehalt der Gedichte, der Inhalt, Bedeutung und Wirkung umfasst und die sprachliche Ebene, die sich beispielsweise mit dem akustischen Aspekt von Wörtern beschäftigt. Beide Themenbereiche überschneiden sich jedoch oft und sind nur theoretisch voneinander zu trennen, da beispielsweise häufig auch kulturelle Inhalte sprachlich reflektiert werden. In welcher Weise sich Olivers Analyse dieser Bereiche auf die zum Schluss des Essays dargestellte Übersetzung auswirkt, wird im Folgenden zu zeigen sein. Ziel ist es auch darzustellen, welche Rolle dem Einsatz Mehrsprachigkeit in diesem Prozess zukommt. Selbstreflexive Aussagen von Oliver werden mit in die Beobachtungen einfließen.

3.1. Weg der Kulturübersetzung

Zu Beginn präsentiert Oliver ein Zitat von Goerges-Arthur Goldschmidt, das den Leser thematisch auf den folgenden Text einstimmt: Sprachen sind metaphorisch als Meer dargestellt, welches die Reise von der einen in die andere Sprache mühelos ermöglicht. Und ebenso fließend folgen dem deutschsprachigen Zitat die zwei spanischen Gedichte Lorcas: El silencio und El grito. Die imaginäre Welt des Autors wird eröffnet, indem er seine Vorstellungen beschreibt. Es ist ein Eintauchen in eine andere Kultur, nämlich die Kultur Andalusiens am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs im Sommer des Jahres 1936, kurz vor der Ermordung Lorcas.[21] Er beschreibt malerisch und immer detaillierter werdend die Landschaft der Region, die Berge, Montes de Málaga, die Strandnähe, typische Behausungen, wie beispielsweise die casita mata und ein Tal. Weiterhin beschreibt er eine Nachtsituation: Einen Innenhof, patio andaluz, mit einer Feuerstelle, gefolgt von zahlreichen Beschreibungen landestypischer Einrichtungsgegenstände bzw. Kochgegenstände, darunter Vasen, Pfannen, ein Kruzifix und ein mortero. Auffallend ist der selbstverständlich wirkende Gebrauch von spanischen Wörtern zur Bezeichnung geographischer Informationen (z.B. Montes de Málaga), typischer andalusischer Behausungen (z.B. casita mata, finca, cortijo) oder Küchenutensilien (ollas, mortero). Doch warum schreibt Oliver genau diese Bezeichnungen in seinem Text auf Spanisch?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es zunächst notwendig, das Ziel des Autors deutlich zu machen: Er spricht selbst davon, dass er eine Übersetzung erstellen möchte, deren Herkunft nachvollziehbar ist, die ein „zweites Original“ darstellt.[22] In Lorcas Lyrik sind verschiedene kulturelle Inhalte verdichtet worden, darunter nimmt besonders der cante jondo (Flamenco-Sang) eine besondere Stellung ein: Zentrale Themen des Gesangs finden sich in den Gedichten El grito und El silencio wieder, wie beispielsweise „[...] andalusische Landschaft, Schicksal, Liebesschmerz und Todesahnungen“[23]. Auch die Benennung der Gedichtsammlung, in der diese beiden Gedichte enthalten sind, bezieht sich auf die Tradition: Poema del cante jondo. Cerstin Bauer-Funke beschreibt, auf welche Weise Lorca mit den Inhalten des Flamenco-Gesangs arbeitet:

In seinen Gedichten will Lorca das durch den cante jondo vermittelte Lebensgefühl der andalusischen Zigeuner darstellen und deuten [...]. So sind seine einzelnen Gedichte getragen von der düsteren Stimmung, dem Schmerz, der Liebe und der Allgegenwärtigkeit des Todes, anhand derer Lorca das andalusische Wesen herausdestillieren will.[24]

Günter W. Lorenz schreibt über die Sammlung Lorcas: „Der Cante Jondo, eine Sammlung tiefgründiger Verse und Gedanken, entspricht den dichterischen Urgründen Sevillas und Granadas“[25].

Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren, lässt sich sagen, dass Oliver bewusst ausgewählte spanische Wörter in den deutschen Text einfließen lässt, die die Stimmung und Kultur Andalusiens zu Lorcas Lebzeiten zu verdeutlichen. Um eine Nachvollziehbarkeit der Herkunft der Gedichte zu erreichen – wie er es selber formuliert – verwendet er Begriffe, die das andalusische Wesen widerspiegeln. Er bewirkt dadurch, dass der Leser im Glossar diese unbekannten Begriffe nachschlägt, wodurch er automatisch sein kulturelles Repertoire erweitert und auf den Inhalt der Gedichte eingestimmt wird.[26] Auch Oliver selbst versetzt sich dadurch in die Perspektive Lorcas, die ihm die Übersetzungen erleichtern soll.

Besonders relevant ist auch die politische Situation der Zeit, in der Lorca seine Gedichte verfasste. Um dieser Vorstellung näher zu kommen, erinnert er sich an Erzählungen seines Vaters über die Erlebnisse seiner Groß- und Urgroßeltern. Er erzählt, dass die Falange[27] nachts ins Haus seiner Großeltern eingedrungen ist, er stellt sich den Bürgerkrieg vor: „Am Geschichtsrand ins Innere zwei Tote. Zwei vor einer Tür liegend. Meine Urgroßeltern. Aufgebrochene Türen sind in meiner Vorstellung, Großvater, den ich nicht kannte, und Farbschichten“[28]. Über die Vorstellung und die eigene Familiengeschichte gelingt es Oliver, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt Lorcas hineinzuversetzen und sich somit dem cante jondo anzunähern:

Als Vater davon sprach, hörte ich den cante jondo zum ersten Mal. Jahre später und das Gedächtnis rhythmus-sprechend, mit einer Stimme, die nach innen sah und sich Verinnern herhörte. Leibschieres Ohr dem Gedächtnis und schauend, das Hören schauend. Ich stelle mir vor Lorca, und wie er sich das Gehörte verdichtete.[29]

Neben der Familiengeschichte gibt es noch weitere Versuche des Verstehens. Oliver reist nach Finnland, in eine andere Kultur und Sprachumgebung, betrachtet mit Distanz das Übersetzungsvorhaben und seine beiden Muttersprachen. Wie auch die Sprache interessiert ihn die Kultur des Landes und er versucht erneut, Inspiration für die Übersetzung des andalusischen Wesens zu finden. Ihn beschäftigt dabei die Frage, inwiefern sich die andalusische Melancholie des cante jondo von der finnischen unterscheidet. Er hält seine Gedanken fest:

Vom finnischen Tango hatte ich gehört, von der finnischen Melancholie und dem Schneestand der Zeit in langen Wintermonaten. Deshalb hatte ich vor, vom Melancholischen der Schneezeit [...] zu lernen. Von all dem, was ich wusste oder gehört hatte, interessierte mich besonders die Melancholie. Würde sie derjenigen in Andalusien gleichen, weil sie so anders war und dennoch »keiner anders gefriert«? Und gibt es eine Stille jenseits der Temperaturen und Landschaften? Ein gemeinsamer Kristall im Echo der Stille? Ein Echowerden, dem Unhörbares, Unerhörtes einklingt? [...] Von den Verschiedenheiten in mir, die sich in ihren jeweiligen Landschaftslauten berühren?[30]

Oliver befindet sich auf der Reise nach Finnland und eröffnet dem Leser das Problem, vor das er sich gestellt sieht, nämlich die andalusische Melancholie ins Deutsche zu übersetzen. Er erhofft sich, von der finnischen Melancholie zu lernen, den Blick auf die andalusische Melancholie zu verschärfen, sie besser zu verstehen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu finden. Gleichzeitig entwirft er Fragen, die er auf seiner Reise beantworten möchte und die bei der Übersetzung von El silencio hilfreich sein können. Dabei geht er besonders auf die Stille ein, das Echo und Unhörbares – drei wesentliche Elemente des Gedichtes, die weit mehr ausdrücken als ihr Denotat. Oliver möchte die Gedichte “[…] nachnachdichten, vielmehr das bereits das bereits ins Deutsche Nachgeschöpfte in der Melancholie einer fremden Lautgegend weiterschreiben, um auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu prüfen, was unübersetzbar schien”[31]. An dieser Stelle wird wieder deutlich, wie schwierig – unübersetzbar – es dem Autor erscheint, das Element der Melancholie, das kulturell tief im Flamenco-Sang verwurzelt ist, zu übersetzen. Eine Lösung scheint für ihn das Verfassen des Gedichtes finnischer wintervorrat, in dem er Gedanken über die Stille und Melancholie des Landes verarbeitet. Er selbst bezeichnet es als „[...] Notat auf der Suche nach der Universalität der Stille [...]“[32], das ihm dabei hilft „[...] den vertrauten Kristall der Stille Lorcas [...]“[33] wiederzufinden und im Anschluss daran, mit der Übersetzung zu beginnen.

Abschließend lässt sich festhalten, dass eine Übersetzung auch immer bedeutet von der einen in eine andere Kultur(-gemeinschaft) zu übersetzen. Die Kulturübersetzung scheint besonders dann herausfordernd, wenn es sich um eine diachrone Übersetzung handelt, bei der von einer älteren Kultur in die gegenwärtige übersetzt wird. Ziel einer Übersetzung ist es jedoch immer, eine interkulturelle Kommunikation zu ermöglichen. Dies geschieht bei Oliver besonders durch die Verwendung von Mehrsprachigkeit: Sie vermittelt das kulturell Andere und baut die Fremdheit gleichzeitig ab, indem beispielsweise Einschübe und das Glossar einen kreativen und sprachbewegenden Umgang mit der Fremdsprache darstellen, durch den der Leser sein kulturelles und sprachliches Repertoire erweitern kann.[34] Durch die Verwendung von Mehrsprachigkeit werden kulturelle Unterschiede gezeigt und gleichzeitig überbrückt.[35] Außerdem hebt die Verwendung von Mehrsprachigkeit das Code-Switching Olivers hervor und führt den Leser damit näher an den Übersetzungsprozess heran.

[...]


[1] Eine Definition der Mehrsprachigkeit / Polyglossie erfolgt in Kapitel 2.

[2] Schmeling, Manfred/ Schmitz-Emans, Monika: Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 20.

[3] Vgl. Di Bella, Roberto: „W:orte“. Poetische Ethnografie und Sprachperformanz im Werk von Yoko Tawada und José F.A. Oliver, S. 242.

[4] Ebenda, S. 242.

[5] Oliver wächst mit der deutschen, spanischen, alemannischen und andalusischen Sprache und Kultur auf, vgl. hierzu Amodeo, Immacolata et al.: WortWelten. Positionen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zwischen Politik und Ästhetik, S. 144 f.

[6] Federico García Lorca hat Oliver in seiner literarischen Identitätsfindung stark beeinflusst, vgl. hierzu: Di Bella, Roberto: „W:orte“. Poetische Ethnografie und Sprachperformanz im Werk von Yoko Tawada und José F.A. Oliver, S. 253.

[7] Vgl. Willms, Weertje/ Zemanek, Evi: Polyglotte Texte, S. 7.

[8] Vgl. Skiba, Dirk: Formen literarischer Mehrsprachigkeit in der Migrationsliteratur, S. 324.

[9] Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette: Literarische Übersetzung, S. 1.

[10] Eco, Umberto: Quasi dasselbe mit anderen Worten, S. 9.

[11] Schmeling, Manfred/ Schmitz-Emans, Monika: Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 10.

[12] Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette: Literarische Übersetzung, S. 9.

[13] Vgl. Zemanek, Evi/ Willms, Weertje: Polyglotte Texte, S. 8.

[14] Vgl. Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette: Literarische Übersetzung, S. 27.

[15] Ebenda, S. 26.

[16] Ebenda, S. 27.

[17] Vgl. Schmeling, Manfred/ Schmitz-Emans, Monika: Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, S. 14.

[18] Vgl. Ebenda, S. 14.

[19] Vgl. Ebenda, S. 15. Grammatik und Etymologie sind den Autoren nach dazu in der Lage, sprachliche Verwandtschaftsbeziehungen aufzudecken.

[20] Ebenda, S. 18.

[21] Vgl. Bauer-Funke, Cerstin: Spanische Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 30.

[22] Vgl. Oliver, José F.A.: Mein andalusisches Schwarzwalddorf, 53.

[23] Bauer-Funke, Cerstin: Spanische Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 30.

[24] Ebenda, S. 31.

[25] Lorenz, Günter W.: Federico García Lorca, S. 132.

[26] Vgl. Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette: Literarische Übersetzung, S.28.

[27] Bezeichnung der spanischen Staatspartei unter General Francisco Franco Bahamonde, vgl. hierzu Oliver, José F.A.: Mein andalusisches Schwarzwalddorf, S. 130.

[28] Ebenda, S. 49.

[29] Ebenda, S. 49.

[30] Ebenda, S. 57.

[31] Ebenda, S. 58.

[32] Ebenda, S. 61.

[33] Ebenda, S. 63.

[34] Vgl. Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette: Literarische Übersetzung, S. 28.

[35] Vgl. Zemanek, Evi/ Willms, Weertje: Polyglotte Texte. Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit von der Antike bis zur Gegenwart, S. 10.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
José F.A. Olivers "Dichtung und Nachhall. Eine Skizze ins Übersetzen". Eine Untersuchung auf Mehrsprachigkeit und Übersetzung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (für deutsche Literatur)
Veranstaltung
Mehrsprachigkeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
20
Katalognummer
V371425
ISBN (eBook)
9783668498563
ISBN (Buch)
9783668498570
Dateigröße
957 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mehrsprachigkeit, José F.A. Oliver, Übersetzung, Dichtung und Nachhall, Federico García Lorca, El grito, El silencio
Arbeit zitieren
Isabella Wagner (Autor:in), 2016, José F.A. Olivers "Dichtung und Nachhall. Eine Skizze ins Übersetzen". Eine Untersuchung auf Mehrsprachigkeit und Übersetzung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/371425

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