Die Reflexion von Identität in Hermann Hesses "Steppenwolf"


Magisterarbeit, 2003

88 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Die Reflexion von Identität in Hermann Hesses „Steppenwolf“
1. Eine begriffliche Fassung von Identität
2. Der „Steppenwolf“
2.1 Perspektiven
2.1.1 Das Vorwort des Herausgebers
2.1.2 Die Aufzeichnungen Hallers
2.1.3 Der „Tractat vom Steppenwolf“
a) Die Thematisierung der Ich-Krise
b) Lösungswege
c) Das Humorprinzip
2.1.4 Fortsetzung der Aufzeichnungen
2.1.4.1 Seelenbilder Hallers
a) Hermine
b) Maria
c) Pablo
2.1.4.2 Leitmotive
a) Bürgertum, Steppenwölfe und die Unsterblichen
b) Das Motiv des Spiegels
2.1.4.3 Identitätsspiele
a) Der Maskenball
b) Das Magische Theater
3. Weitere Reflexionen von Identität in Bezug auf Hesses Biographie
3.1 Biographische Analogien
3.2 Die Krankheit der Zeit
3.3 Die Bedeutung der Psychoanalyse
3.4 Der Glaube Hesses
3.5 Rezeptionsgeschichte

III. Nachbetrachtung

IV. Anhang

Literaturverzeichnis

Ehrenwörtliche Erklärung

Lebenslauf

I. Einleitung

„Nicht jedem Individuum ist es gegeben, eine Persönlichkeit zu werden, die meisten bleiben Exemplare und kennen die Nöte der Individualisierung gar nicht. Wer sie aber kennt und erlebt, der erfährt auch unfehlbar, daß diese Kämpfe ihn mit dem Durchschnitt, dem normalen Leben, dem Hergebrachten und Bürgerlichen in Konflikt bringen.“[1]

Hauptmotiv des Werkes Hermann Hesses ist die Identitätssuche als Bestrebung des Protagonisten seinen angemessenen Platz im Gefüge zu finden. Die Parallelen zwischen Hesses Thematisierung der Selbstfindung und der Psychologie Carl Gustav Jungs sind in diesem Kontext deutlich erkennbar. Hesses Suche nach dem eigenen Ich bezeichnet Jung als den „Heilsweg der Individuation“. Trotzdem meinen beide dasselbe: das Streben des Menschen nach Einheit mit sich selbst in der Selbstverwirklichung.

Am Beispiel Harry Hallers im „Steppenwolf“ behandelt der Autor eine Identitätskrise, die sich darin äußert, dass der Protagonist unter der Spaltung in zwei widersprüchliche Teilidentitäten leidet. Da er innerhalb völliger Resignation in der Entfaltung seiner Persönlichkeit stagniert, scheint eine Weiterentwicklung zunächst völlig aussichtslos und wird im Laufe der Handlung erst ins Rollen gebracht als Haller auf seine Seelenbilder trifft.

Bei der Breite der Literatur zu Hesse, auf die ich im Laufe meiner Recherchen stieß, scheint es mir verwunderlich, dass die Thematik der Identität in seiner Romanwelt zwar stets eine Rolle spielt, doch nie explizit die Fragestellung bestimmt. So fand ich zahlreiche nützliche Anhaltspunkte, welche auszuformulieren und weiterzudenken Ziele dieser Arbeit darstellen werden . Ausgehend von der These, dass der „Steppenwolf“ eine Identitätskrise darstellt, wird zu klären sein, auf welche Weise sich die krisenhafte Identität Hallers konkretisiert. Dazu ist es notwendig, vor dem Hauptteil zunächst einmal die Begrifflichkeit zu klären, um eine Basis für die Analyse zu schaffen. Im Anschluss werde ich mein Augenmerk auf die besondere Komposition des Romans, die auch auf das Geschehen wirkt, legen und im jeweiligen Kontext auf den psychoanalytischen Einfluss verweisen, da er für das Verständnis des Romans von zentraler Bedeutung ist. Dabei werde ich mich weitgehend auf die Lehre C. G. Jungs beschränken, da Hesse selbst mit ihm in persönlichem Kontakt stand und die Werke des Psychologen aufschlussreiche Hinweise für ihn geboten haben. Des weiteren sollen Figurenlage und Schlüsselsymbole wie etwa das ständig wiederkehrende Spiegelmotiv, untersucht werden und es soll beleuchtet werden, inwiefern die Handlungsträger als Teilidentitäten Harry Hallers und letztendlich des Autors Hermann Hesse selbst angesehen werden können. Diesbezüglich werde ich im dritten Teil die Biographie Hesses unter verschiedenen Gesichtspunkten veranschaulichen, um daraus ein Resümee zu seinem Werk zu ziehen.

II. Die Reflexion von Identität in Hermann Hesses „Steppenwolf“

1. Eine begriffliche Fassung von „Identität“

Da die Problematik der Identität im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, ist es sinnvoll, am Anfang die Terminologie von „Identität“ zu klären, um eine begriffliche Grundlage zu bereiten.

Der Begriff „Identität“ hat seinen Ursprung in dem lateinischen Wort „idem“ (derselbe) und bedeutet „vollständige Übereinstimmung“. Dessenungeachtet ist für meine Untersuchung die psychologische Komponente des Begriffes vonnöten. Das Psychologische Wörterbuch stellt hierzu fest: „In der Psychologie ist Identität das Fortbestehen eines anschaulich Abgesonderten in Raum und Zeit.“[2] Wer Identität besitzt, gehört also sich selbst und hat das Erlebnis, derselbe zu sein und zu bleiben.

Jeder Mensch hat eine Identität, also eine Vorstellung dessen, was er ist. Der Philosoph und Psychologe William J. James hat in seinen „Principles of Psychology“[3] von 1890 definiert, dass sich die menschliche Identität aus drei Komponenten zusammensetzt: dem materiellen, dem geistigen und dem sozialen Selbst. Das materielle Selbst wird nach James aus dem Körper gebildet, das geistige Selbst setzt sich aus den Fähigkeiten sowie Kenntnissen des Menschen zusammen und das soziale Selbst resultiert aus der Beachtung, die dem Individuum durch seine Mitmenschen zuteil wird. Daraus ergibt sich, dass jeder Mensch soziale Anerkennung benötigt, um sich eine Identität aufzubauen. Die eigene Identität ist dabei abhängig von den Reaktionen und Verhaltensweisen der Mitmenschen sowie vom Vergleich mit der eigenen Vergangenheit und Zukunft.[4] Die zum Aufbau eines Selbst benötigte Bestätigung wird also erst im Erleben und Erkennen des sozialen Umfeldes erfahren.

In den 70er Jahren hat vor allem die Psychoanalyse und hier Erik H. Erikson als begeisterter Anhänger Freuds, den Identitätsbegriff geprägt. Er versteht die Formung der Identität als nie abgeschlossen, sondern vielmehr als ein „Prozessgeschehen beständiger, alltäglicher Identitätsarbeit, als permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten.“[5] Der Mensch steht demnach lebenslang vor der Aufgabe, seine Identität in einem Entwicklungsprozess zu erschaffen und zu erhalten. Der immerwährende Wunsch zu innerer Einheit zu gelangen bleibt jedoch stets Utopie. So ist der Mensch auch für Hesse nicht von Geburt an etwas Abgeschlossenes, sondern „ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin“[6], wie es im Vorwort zu „Demian“ heißt. Ständige Selbsterneuerung und Weiterentwicklung sind Voraussetzungen für die Gestaltung seines Ichs. Ein enger Zusammenhang mit den Theorien Eriksons mag sich im Traktat in folgendem Satz ausfindig machen:

„Der Mensch ist ja keine feste und dauerhafte Gestaltung (...), er ist vielmehr ein Versuch und Übergang.“[7]

Auch bei Hesse geht es im Grunde genommen um Sozialisation, um die erfolgreiche Gestaltung eines eigenen Lebenslaufes, um die Suche nach der eigenen Identität. Deren Verwirklichung wird in der Figur Harry Hallers auf individuelle Weise und gerade außerhalb der Gesellschaft gesucht. Die Tatsache, anders zu sein und dies auszuleben, bedeutet Individualität, bedeutet „tausend Seelen in einer Brust zu tragen.“ So spricht Hesse mit seinem Steppenwolf-Typus als Phänomen der Zeit eine Sehnsucht an, mit der sich gerade die junge Generation identifiziert:

„ (...) unter jenen Lesern, die mir Briefe schreiben, war stets die Jugend in der Mehrzahl. Das ist natürlich, denn alle meine dichterischen Bücher handeln vom Individuum, dem Einzelnen, der Persönlichkeit. Und des Problem der Individuation und seiner Einordnung ins Soziale ist ja genau das Problem jeder geistig regsamen Jugend.“[8]

Hesse antwortet in seiner Romanwelt auf aktuelle Fragen nach Orientierung und Lebenssinn. Im „Steppenwolf“ gerät Harry Haller in den Konflikt, die „Balance von sozialer und persönlicher Identität“[9], das heißt ein Gleichgewicht zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der Mitmenschen, zu finden. Er kämpft als Steppenwolf darum, sich einerseits in die Gesellschaft zu integrieren und andererseits, seine Individualität auszuleben. Das Leitmotiv dabei ist die Zerrissenheit, unter welcher der Protagonist leidet . Seine Identitätsspaltung ist letztendlich darauf zurückführbar, dass er die Problematik des Lebens zwischen zwei Welten schwerlich ertragen kann. Bei ihm konkurrieren die Komponenten Wolf und Mensch, wobei sie immerzu auseinander fallen und unvereinbar erscheinen. Dieses Phänomen erlebt der Protagonist als Identitätskrise. Meiner Meinung nach lässt sich eine gelungene Identität im „Steppenwolf“, als die Fähigkeit des Menschen, die unterschiedlichen Facetten der eigenen Persönlichkeit als zusammengehörig zu erleben, definieren. Dieser Begriffsbestimmung wird im Folgenden mein Hauptaugenmerk gelten.

In vielen Romanen seit der Goethe-Zeit, besonders in den Bildungs- und Entwicklungsromanen, steht die Identitätssuche als Konflikt des Ichs und der Welt sowie die notwendig gesehene Integration im Mittelpunkt. Es geht um die oftmals gegensätzlichen Lebenskonzepte des Protagonisten und des Bürgertums, wobei sich die Hautfiguren bis zuletzt einzugliedern versuchen. Auch der Steppenwolf Haller beschreitet seinen Weg außerhalb der Norm, wird belehrt und findet schließlich selbst die Antwort auf seine Lebensfrage.

2. Der „Steppenwolf“

2.1 Perspektiven

Die Identitätsproblematik wird im „Steppenwolf“ nicht nur thematisch behandelt, sondern spiegelt sich auch in Aufbau und Struktur des Romans wider. Durch die dreifach gebrochene Erzählperspektive ist Hesses „Steppenwolf“ strukturell eines seiner komplexesten Werke. Sein multiperspektivisches Erzählen zeigt sich im „Vorwort des Herausgebers“, dem „Traktat vom Steppenwolf“, und den „Aufzeichnungen“ Harry Hallers. Der Leser lernt auf diese Weise die Lebensgeschichte des Protagonisten aus drei verschiedenen Blickwinkeln kennen und wird in diesem Sinne dazu aufgefordert, sich aus unterschiedlichen Aspekten mit der vielschichtigen Persönlichkeit Hallers aus einanderzusetzen: objektiv aus der Sicht des Augenzeugen, als selbstkritischer Bericht in den eigenen Aufzeichnungen und analytisch im Traktat.[10] So schlüpft der Leser jeweils in eine neue Rolle und hat die Gelegenheit seinen Leserstandpunkt wiederholt zu überdenken. Er nimmt dabei durch die intime Nähe der tagebuchähnlichen Aufzeichnungen am inneren Kampf Harry Hallers teil. Zugleich baut er durch das vorangegangene Lesen des Vorwortes eine Ambivalenz seiner Sympathien auf. Zum einen teilt er die Perspektive des gutbürgerlichen Herausgebers, der dem Steppenwolf Verständnis und Kritik entgegenbringt, zum anderen aber auch die Hallers, der sich einerseits aus der bürgerlichen Welt ausgeschlossen, andererseits jedoch zu ihr hingezogen fühlt.

Der Leser wird dabei Teil der jeweiligen Erzähleridentität und somit der Romanwelt. Es besteht hier die Möglichkeit einer Synthese und emotionalen Bindung zwischen Leser und Werk.

2.1.1 Das Vorwort des Herausgebers

„Wie stark aber auch das Vorwort in die Romanstruktur integriert sein sollte, es enthält doch stets eine Erinnerung an seine außerkünstlerische Herkunft, einen Schritt näher zur realen Wirklichkeit. Deshalb greifen die Schriftsteller öfters nach einem Vorwort, wenn sie die Glaubwürdigkeit und Authenzität ihrer Geschichte steigern wollen.“[11]

Hesse verwendet im Vorwort die Perspektive eines fiktiven Herausgebers, der vor allem die Funktion hat, dem Leser die Wirklichkeit der Existenz Hallers zu garantieren. Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Aufzeichnungen, die er dem Leser im folgenden anbietet, tatsächlich von Haller stammen, auch wenn er die Erwartung auf eine faktengetreue Autobiographie nicht erfüllen kann:

„Sie (die Aufzeichnungen) bedeuten, ganz wörtlich, einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zu Ende zu erleiden.“[12]

Neben der Darstellung Hallers aus seiner Sicht, gibt der Herausgeber die Blickrichtung auf die Aufzeichnungen vor und somit auch Deutungsansätze für den Leser. Indem er hier von einer „Seelenwelt“ spricht, eröffnet er ihm eine weitere Bedeutungsebene, die dieser je nach Belieben beschreiten oder ignorieren kann. Denn der fiktive Herausgeber verkörpert jene Sicherheit des Bürgerlichen, die dem Leser die Gelegenheit gibt, in Hallers „Seelenwelt“ einzutauchen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Herausgeber einen „Wegweiser für die Lektüre“ gibt, die „Weichen für die Leseridentifikation“[13] stellt und Deutungsansätze voranstellt.

Durch den Herausgeber werden die Aufzeichnungen in das Vorwort eingebettet und somit schon vorab als distanziertes Bild Hallers vermittelt und durch eine psychologische Analyse der wichtigen Aspekte seiner Person den Aufzeichnungen vorangestellt. Der Herausgeber, der hier als „Augenzeuge“[14] fungiert, wie er sich selber einmal nennt, macht den Leser mit den Lebensumständen Harry Hallers bekannt. Es handelt sich bei ihm um den Neffen der Zimmerwirtin, der Hallers Lebenswandel aus bürgerlich-konservativer Sichtweise bewertet. Durch die Wahl der Ausgangsperspektive wird Haller schon zu Beginn des Romans zum Außenseiter. Der Herausgeber, als typischer Vertreter der Bourgeoisie, verkörpert das Verhältnis der Gesellschaft zu Typen wie Harry. Er sieht Harry vom Standpunkt eines soliden Bürgers, der seinen Platz in der Welt gefunden hat und Hallers psychische Verfassung analysiert, womit er anhand bedeutsamer Erkenntnisse dem weiteren Geschehen vorausgreift. So identifiziert das Vorwort bereits in seinem ersten Satz den Protagonisten als Steppenwolf:

„Dieses Buch enthält die uns gebliebenen Aufzeichnungen jenes Mannes, welchen wir mit einem Ausdruck, den er selbst mehrmals gebrauchte, den „Steppenwolf“ nannten.“[15]

Der Steppenwolf dient im Roman als Leitmotiv zur Beschreibung von Hallers Identitätsproblematik. Der Wolf steht dabei für das einsame, ziellos umherschweifende Tier. Indem die Steppe als Zusatz in der Bezeichnung verwendet wird, verstärkt sich beim Leser der Eindruck einer weiten verlassenen Ebene, was die Einsamkeit des Wolfes noch deutlicher hervorhebt. Der Steppenwolf darf als Symbol für die rohe und triebhafte Natur gelten, die neben der geistigen und menschlichen Seite in Hallers Persönlichkeit wohnt. Im Laufe des Romans wird deutlich, dass der Steppenwolf Haller seine Wolfsnatur nicht akzeptieren kann, sondern sie als bekämpfenswert empfindet und sie ihn in eine tiefe Krise als Außenseiter stürzt. Im Vorwort heißt es etwa:

„Ein zu uns, in die Städte und ins Herdenleben verirrter Steppenwolf – schlagender konnte kein andres Bild ihn zeigen, seine scheue Vereinsamung, seine Wildheit, seine Unruhe, sein Heimweh und seine Heimatlosigkeit.“[16]

Im Sinne der Lehre C. G. Jungs ist der Steppenwolf als aus dem Unbewussten verdrängter Persönlichkeitsteil, als „Schatten“ zu verstehen. In „Aion“ definiert er den „Schatten“ als:

„(...) jene verhüllte, verdrängte, meist minderwertige und schuldhafte Persönlichkeit, welche mit ihren letzten Ausläufern bis ins Reich der tierischen Ahnen hinaufreicht und so den ganzen historische Aspekt des Unbewußten umfaßt. (...) Wenn man bis dahin der Meinung war, daß der menschliche Schatten die Quelle allen Übels sei, so kann man nunmehr bei genauerer Untersuchung entdecken, daß der unbewußte Mensch, eben der Schatten, nicht nur aus moralisch verwerflichen Tendenzen besteht, sondern auch eine Reihe guter Qualitäten aufweist, nämlich normale Instinkte, zweckmäßige Reaktionen, wirklichkeitsgetreue Wahrnehmungen, schöpferische Impulse (...).“[17]

Daher ist es für Haller wichtig, sich seinem Schatten zu stellen.

Der Steppenwolf ist „ein Mann von annähernd fünfzig Jahren“[18], ein eigenbrötlerischer Gelehrter, der gebeutelt ist von Hass gegen sich und die Welt. Niemand weiß, von wo er gekommen und wohin er verschwunden ist, womit der Herausgeber bereits den Schluss des Romans vorwegnimmt:

„ Es ist nur wenig, was ich über ihn weiß, und namentlich ist seine ganze Vergangenheit und Herkunft mir fremd geblieben.“[19]

So umrahmt das Vorwort des Herausgebers die Aufzeichnungen Hallers, die als Rückwendung fungieren. Haller wird der neue Untermieter der Tante des Herausgebers und somit dessen Nachbar. Mit seinem Einzug beginnt ein Zeitraum von etwa vierzig Wochen, der dem Vorwort wie auch Hallers Manuskript zugrunde liegt.

Und doch hinterlässt bereits die erste Begegnung der beiden bei dem Herausgeber einen „starken“, wenn auch „sonderbaren und sehr zwiespältigen Eindruck“.[20] So weckt die Charakteristik des Steppenwolfes jene Ambivalenz der Sympathien, die den gesamten Roman durchzieht. Generell gibt die Existenz des Außenseiters Haller Rätsel auf, was die Spannung steigert und den Leser auf die künftige Lektüre neugierig macht. Die Emotionen des Herausgebers gegenüber Harry Haller wandeln sich von einer „naiven Reaktion“ des „Widerwillens“, über eine instinktive „Abwehr“ zu einer Form von „Sympathie“ beruhend auf „großem Mitleid“[21]:

„Er tat mir leid, aber was war das auch für ein trostloses, verlorenes und wehrloses Leben eines Selbstmörders, das er führte.“[22]

Er beschreibt den Steppenwolf als Einzelgänger, „er lebte still und für sich“, war „ungesellig“, und stellt schließlich fest, dass er aus „einer anderen Welt“[23] zu kommen scheint. Zu den Urteilen des Herausgebers gehört auch seine Überlegung zur offenbar christlichen Erziehung Hallers, deren Ergebnis darin gesehen wird, „daß nicht Weltverachtung, sonders Selbstverachtung die Basis seines Pessimismus sei.“[24]

„(...) das „Liebe deinen Nächsten“ war ihm ebenso tief eingebläut wie das Hassen seiner selbst, und so war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, daß ohne Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich ist, daß der Selbsthaß genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung erzeugt wie der grelle Egoismus.“[25]

Des weiteren erkennt der fiktive Herausgeber, dass Hallers Verschlossenheit und seine Neigung zur Einsamkeit aus einer Verzweiflung über sich selbst resultieren. Denn obwohl Haller vom Leben enttäuscht ist und die Welt an sich verachtet, so weiß er doch unterbewusst, dass diese Enttäuschung ihre Ursache schließlich in ihm selbst hat:

Zugleich erkannte ich, daß nicht Weltverachtung, sondern Selbstverachtung die Basis seines Pessimismus sei (...).“[26]

Die Faszination der Herausgebers steigert sich dabei soweit, dass er sogar „aus Neugier ein wenig Spionage betreibt“[27] und heimlich in Hallers Mansarde eindringt. Er findet die verwahrloste Wohnung eines Intellektuellen vor: Verstaubt, vollgestopft mit Büchern, leeren Schnaps- und Weinflaschen und Zigarettenkippen. Das Interesse an Haller ist an dieser Stelle so stark ausgeprägt, dass man hier Segmente einer Steppenwolfidentität beim Herausgebers erkennen kann.[28] Er handelt hier entgegengesetzt seiner Bürgerlichkeit, instinktiv, ja nahezu zwanghaft. Dieser Tatsache ist sich der Herausgeber durchaus bewusst und sie beängstigt ihn:

„Ich träume nachts manchmal von ihm und fühle mich durch ihn, durch die bloße Existenz eines solchen Wesens, im Grunde genommen gestört und beunruhigt, obwohl er mir geradezu lieb geworden ist.“[29]

Hierzu ist anzumerken, dass der Herausgeber im Traum das Unbewusste, was er tagsüber zu verdrängen sucht, auslebt. Der Traum stellt für Hesse eine treffende Form zur Darstellung seelischer Inhalte dar, in der es möglich wird, in das Unterbewusstsein des Menschen einzudringen:

„Der Traum ist das Loch, das du in den Inhalt deiner Seele siehst, und dieser Inhalt ist die Welt, nicht mehr und nicht minder als die Welt, die ganze Welt von deiner Geburt bis heute, von Homer bis Heinrich Mann, von Japan bis Gibraltar, vom Sirius bis zur Erde, vom Rotkäppchen bis zu Bergson.“[30]

Die Begegnung mit der eigenen Seele erfolgt im Traum. C. G. Jung bezeichnet es als „kollektives Unbewußtes“. Jung war der Ansicht, dass innerhalb der normalen Ebene des menschlichen Bewusstseins eine weitere Schicht liegt, nämlich die unseres Unbewussten, und dass sich darunter eine noch tiefere Schicht befindet, "die Welt des primitiven Menschen in uns selbst". Diese tiefste Ebene unseres Bewusstseins ist allen Männern und Frauen aller Rassen, Konfessionen und Kulturen gemein − dass "kollektive Unterbewusste", das eine so große Rolle in seiner psychologischen Theorie spielen sollte. Darüberhinaus glaubte Jung auch, daß Träume manchmal eine Art Erinnerung an frühere Entwicklungsstufen der Menschheit darstellen.[31]

So gilt es für den Herausgeber, die Traumbotschaft als geleugnete Möglichkeit der eigenen Psyche zu erkennen und eine Verbindung zu Haller und der tief in sich schlummernden Steppenwolfnatur aufzunehmen. Doch aus Angst verdrängt er diesen Wink seines Unterbewusstseins. Seine Beurteilung Hallers ist geprägt durch den Zwiespalt und die Zweifel seiner Empfindungen. Er distanziert sich von Anfang an von ihm, auch oder gerade wenn er erwähnt, selbst dunkle Triebe in sich zu spüren, die er jedoch bisher gekonnt zu verdrängen wusste. Er selbst erkennt an sich verborgene Seiten und Neigungen zum Außenseitertum, Seiten der Steppenwolfidentität. Dieser Aspekt führt dazu, dass er mit Haller eine Gefährdung seiner selbst verbindet, da durch den Steppenwolf das Fremde, Verdrängte in sein bürgerliches Leben eintreten könnte. So versucht der Herausgeber sich nachdrücklich von der Seelenproblematik des Steppenwolfes abzugrenzen:

„Aber ich bin nicht er, und ich fahre nicht seine Art von Leben, sondern das meine, ein kleines und bürgerliches, aber gesichertes und von Pflichten erfülltes.“[32]

Eine weitere wichtige Funktion des Vorwortes ist die Einführung des Lesers in das zwiespältige Verhältnis Hallers zum Bürgertum. Denn ähnlich dem Herausgeber, der sich zur Andersartigkeit des Steppenwolfes hingezogen fühlt, zeigt Haller im Gespräch mit seinem Nachbarn ein ursprüngliches Interesse am Bürgertum, denn er erkennt darin seine Wurzeln:

„Aber wenn ich auch ein alter und etwas ruppiger Steppenwolf bin, so bin doch auch ich der Sohn einer Mutter, und auch meine Mutter war eine Bürgersfrau und zog Blumen und wachte über Stube und Treppe (...) und bemühte sich, ihrer Wohnung und ihrem Leben soviel Sauberkeit, Reinheit und Ordentlickeit zu geben, als immer nur gehen wollte.“[33]

Zwei Welten prallen aufeinander, obwohl beide nicht untrennbar erscheinen. Vielmehr wird hier erstmals auf eine enge Verknüpfung zweier Pole verwiesen.

2.1.2 Die Aufzeichnungen Hallers

Mit den Aufzeichnungen des Protagonisten, die den Hauptteil des Buches ausmachen, wechselt der Leser seine Perspektive und erhält nun aus der persönlichen Sichtweise, Eindrücke der Zerrissenheit des Steppenwolfes. Die Aufzeichnungen tragen den Untertitel „Nur für Verrückte“[34] und entsprechen den aus der Ich-Perspektive geschilderten Gedanken und Erlebnissen Hallers. Mit seiner Schilderung eines Durchschnittstages im ersten Teil der Aufzeichnungen verleiht Haller seinem mittelmäßigen Dasein ohne Höhen und Tiefen Ausdruck. Dabei äußert er wiederholt, dass er auf Dauer seine maßvoll dahinplätschernde Existenz nicht aushält und sich „verzweiflungsvoll in andre Temperaturen flüchten muß, womöglich auf dem Wege der Lustgefühle, nötigenfalls aber auch auf dem Weg der Schmerzen.“[35] Seine „wilde Begierde nach starken Gefühlen“ mündet schließlich in der Aggression „einigen Vertretern der bürgerlichen Weltordnung das Gesicht in das Genick zu drehen.“[36]

So stört Haller sich an der modernen Gesellschaft, die Zeit empfindet er als bürgerlich und geistlos. Er mißbilligt die laue Zufriedenheit des Bürgertums und führt bewusst ein Leben als Außenseiter :

„Von der bürgerlichen Seite her gesehen war mein Leben, von jeder solchen Erschütterung zur andern, ein beständiger Abstieg, eine immer größere Entfernung vom Normalen, Erlaubten, Gesunden gewesen. Ich war im Laufe der Jahre beruflos, familienlos, heimatlos geworden, stand außerhalb aller sozialer Gruppen.“[37]

Dennoch erkennt er, dass er trotz seiner Ablehnung unlöslich mit dem Bürgertum verbunden ist:

„Ich weiß nicht, wie das zugeht, aber ich, der heimatlose Steppenwolf und einsame Hasser der kleinbürgerlichen Welt, ich wohne immerzu in richtigen Bürgerhäusern, das ist eine alte Sentimentalität von mir. (...) Ich liebe diese Atmosphäre ohne Zweifel aus meinen Kinderzeiten her, und meine heimliche Sehnsucht nach so etwas wie Heimat führt mich hoffnungslos immer wieder diese alten, dummen Wege.“[38]

In seiner Hass-Liebe wird deutlich, dass trotz der scheinbar unaufhebbaren Gegensätze Haller und das Bürgertum sich gegenseitig bedingen. Haller weiß, dass er durch seine Herkunft tief im Bürgertum verwurzelt ist, was ihn zumal sentimental werden lässt. Im Gegenzug ist aber auch der Bürger auf die Außenseiter angewiesen, denn er verdankt seine Existenz nicht zuletzt der starken, wilden Natur jener Einzelgänger, durch die er immer wieder neue Antriebe erhält. Harry existiert als Künstler infolge seiner starken Individualität am Rande der Gesellschaft, indem er im Gegensatz zum Bürgertum ein unstetes Leben ohne geregelten Tagesablauf führt. Der Bürger hingegen sucht gerade die Gemeinschaft, um darin seine schwach ausgeprägte Persönlichkeit zu stützen, denn sein konservatives Wesen sucht Sicherheit und Beständigkeit. Ist Haller getrieben von Unruhe und Heimatlosigkeit, so lebt der Bürger ruhig und zufrieden in einem gesicherten Heim. Der Künstler Haller lebt in den Extremen, der Bürger aber zwischen ihnen.[39] Durch seine Scheu vor zwischenmenschlichen Beziehungen und seine Unbedingtheit im Intellekt hat er sich von seiner Umwelt entfremdet, weiß aber sehr wohl, dass diese Entfremdung Voraussetzung seiner geistigen Existenz ist. Da der Mensch niemals allein existieren kann, sondern ein Miteinander in Form von zwischenmenschlichen Beziehungen Voraussetzung für eine gelungene Identität darstellt, droht Haller eine völlige Isolation. Nur in der Gesellschaft kann sich das Individuum entwickeln und sich seiner Persönlichkeit bewusst werden.

Aber nicht nur sein äußeres Leben wird durch eine Zerrissenheit bestimmt, sondern auch sein eigenes inneres Wesen. Der zentrale Konflikt der Hauptfigur entsteht aus seiner Gespaltenheit in eine wölfische und eine menschliche Natur. Diese zwei Ich-Anteile stehen in einem stetigen Konkurrenzkampf und machen Haller das Leben unerträglich. Da er nicht in der Lage ist, diese zwei Pole friedlich zu vereinen, vereinnahmt ihn das Gefühl, sich selbst hassen zu müssen und er glaubt, sein Leben verschwendet zu haben. Der zivilisierte Mensch in Harry liebt die Kultur, die Literatur und die Musik. Er schätzt Ordnung, Reinlichkeit und sehnt sich nach Integration in die Gesellschaft, weshalb er sich auch mit Vorliebe in bürgerlichen Häusern einmietet, in denen es „nach Sauberkeit und Ordnung und nach einem freundlichen und anständigen Leben“[40] riecht. Im Gegensatz dazu verhält sich der Steppenwolf in ihm wild, unzähmbar und triebbestimmt. Er verachtet das Bürgertum und bevorzugt weite Räume. Diese Wesenspaltung ist verantwortlich für sein ambivalentes Verhältnis zum Bürgertum, seine Depressionen und Suizidgedanken. Er verzweifelt an seiner Identitätsproblematik und sieht keinen Sinn im alltäglichen Leben. Hallers Äußerungen weisen auf Resignation und Lebensüberdruss hin:

„Der Tag war vergangen, wie Tage eben so vergehen; ich hatte ihn herumgebracht, hatte ihn sanft umgebracht (...).“[41]

Und weiter:

„(...) sobald es mit mir wieder dahin kommen würde, dass ich zu jenem Opiat greifen müsste, sollte es mir erlaubt sein, statt dieser kurzen Erlösung die große zu schlürfen, den Tod,...“[42]

Seine Spaltung in Wolf und Mensch entspricht einer Trennung von Natur und Geist. Die Natur entspricht dabei einer animalischen Seite, die durch den triebhaften, gefährlichen Steppenwolf symbolisiert wird. Im heftigen Gegensatz zu dieser wilden Natur steht der kultivierte, hochentwickelte Geist Hallers, der ihn ständig grübeln lässt, ihn am spontanen Erleben hindert:

„Wer das Denken zur Hauptsache macht, der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen.“[43]

Da zwischen diesen zwei Extremen nur Feindseligkeit und keinerlei innere Verbindung besteht, lebt Haller in einer Persönlichkeitsspaltung. Hier offenbart sich, dass Haller seine Person nicht als Einheit, sondern als auseinanderstrebende Persönlichkeitsfacetten empfindet. Unter Berücksichtigung dieser Arbeit zugrunde liegenden Definition von Identität, wird deutlich, dass Haller ein Identitätsproblem zu bewältigen hat. Denn Identität wurde definiert als „die Fähigkeit die verschiedenen Persönlichkeitsfacetten als zusammengehörig zu erleben“.

Ganz ähnlich wie im „Steppenwolf“ verhält sich das Prinzip der Zweiteilung in dem Schauerroman des späten Viktorianismus „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson.

„Mit jedem Tag und von beiden Seiten meines Erkenntnisvermögens her, dem moralischen und dem intellektuellen, kam ich so beständig jener Wahrheit näher, deren Entdeckung mich solch furchtbarem Schiffbruch ausgeliefert hat: daß der Mensch tatsächlich nicht aus einem, sondern in der Tat aus zweien besteht. Ich sage zwei, weil mein Erkenntnisstand nicht über diesen Punkt hinausgeht.“[44]

Wie Haller, der seine Triebe und Anpassungsschwierigkeiten dem „Wölfischen“ aufbürdet, überträgt Dr. Jekyll mit Hilfe eines chemischen Wirkstoffes, seine destruktiven und agressiven Triebanteile auf die animalische Kreatur Mr. Hyde. Da er seine beiden Pole von Gut und Böse nicht zu vereinen weiß, erlebt sich Henry Jekyll als zweigeteilte Persönlichkeit. Die eigene Destruktivität wird zum Fremden an sich, zu etwas, das von außen kommt, von einem anderen verbrochen wird.[45] Anstatt sich mit seinem Schatten zu versöhnen, wälzt er alle Schuld für seine Verbrechen auf Mr. Hyde ab. So läge es am Protagonisten, die in sich schlummernden Agressionen in sein Ich zu integrieren. Dies würde bedeuten, dass er sein Selbstbild grundlegend ändern müsste und nicht länger der Illusion nachhängen könnte, nur Gutes in sich zu tragen. Aus dem „entweder−oder“ gelte es ein „sowohl als auch“ zu konzipieren. Doch scheitert Hyde. Es bleibt ihm am Ende nichts anderes übrig als angesichts der nunmehr unbestreitbaren Dominanz seiner Hyde-Natur seinem Leben ein Ende zu setzen. Hallers Problem vergleichbar mit dem Dr. Jekyll´s besteht darin, dass er lange Zeit die sinnliche Seite seiner Natur ignorierte, da sie für ihn der dunklen Seite des Wolfes zuzurechnen ist und er sie daher zu verdrängen sucht. Auf der anderen Seite lebt Haller stets seinen Intellekt, ist bemüht, sich Wissen anzueignen und sich dadurch dem Göttlichen anzunähern. Doch nie war er daran interessiert, sich zwanglos zu unterhalten oder das Tanzen zu erlernen. Er erstrebt einzig die Realisierung seiner geistigen Ideale, seine leidenschaftliche Natur versucht er dagegen völlig aus seinem Bewusstsein auszuschließen. Dadurch erlebt er sich als Person von hoher Geisteskraft, die jedoch im Alltag zum Scheitern verurteilt ist. Die Identitätsfindung Hallers kann nur dann glücken, wenn sich die Komponenten seiner Persönlichkeit nicht in ständigem Kampf befinden, sondern sich als Einheit in seine Natur integrieren lassen.

Im ersten Teil dieser Arbeit wurde festgestellt, dass eine gänzlich empfundene Identitätseinheit Utopie ist. Es stellt sich die Frage, wo die Grenze zwischen herkömmlichem Identitätszweifel und krankhafter Ich-Störung zu ziehen ist. Die Grenze wäre dann überschritten, wenn das Individuum die widerstreitenden Persönlichkeitsfacetten nicht mehr als Aspekt derselben Person identifizieren könnte, sondern diese als zwei oder mehrere unterschiedliche Personen empfinden würde. Hier wird ersichtlich, dass Haller sich im Stadium einer ernstzunehmenden Krise, an der Grenze zum Krankhaften befindet. Der außenstehende fiktive Herausgeber hält ihn indes bereits für krank:

„ Ich spürte, daß der Mann krank sei, auf irgendeine Art geistes- gemüts oder charakterkrank und wehrte mich dagegen mit dem Instinkt des Gesunden.[46]

Neben seinem Identitätsproblem hat Haller zudem immer wieder mit depressiven Gefühlen zu kämpfen. Die Identitätskrise und die Depressionen bedingen sich gegenseitig und führen in einen Teufelskreis. Nur in seltenen Augenblicken erlebt Haller eine Aussöhnung zwischen den Gegensätzen seiner Doppelnatur. Einzig die Kunst vermag gelegentlich sein Missbehagen zu kompensieren, denn sie verhilft ihm „wie eine göttliche Spur“ dazu, dass er „alles bejaht“[47]. Die Existenz dieser Spur Gottes ist es, die Haller aufrecht hält und ihn an eine überirdische Welt der ewig wahren Werte − die Unsterblichen − erinnert.

Während er eines Abends in Gedanken seinem Außenseitertum nachhängt, entdeckt Haller an einer alten Mauer die verwischte Aufschrift „Magisches Theater – Eintritt nicht für Jedermann – Nur für Verrückte“[48]. Die Schrift verschwindet, hinterlässt jedoch eine Sehnsucht nach „wahrer“ Kultur, die er wiederholt als „goldene Spur“[49] bezeichnet. Auf seinem Heimweg begegnet er einem Mann, der ihm ein Jahrmarktsbüchlein verkauft: Den „Tractat vom Steppenwolf. Nicht für jedermann.“[50]

2.1.3 Der „Tractat vom Steppenwolf“

Der „Tractat vom Steppenwolf“ kann als Buch im Buch bezeichnet werden, das zwar keinen Einfluss auf die äußere Handlung hat, aber doch in enger Verbindung zu Hallers späterem Besuch im Magischen Theater steht.[51] Er stellt hier das Verbindungsglied der beiden Romanteile, Vorwort des Herausgebers und Hallers Aufzeichnungen dar. Als mittlere der drei Erzählperspektiven liefert der Traktat eine kritische Zustandsbeschreibung des am Leben verzweifelnden Typus’ Steppenwolf und skizziert die Zerrissenheit zwischen dem Steppenwolf und dem Menschen Harry. Zugleich macht er seinem Leser bewusst, dass Lösungswege aus der Misere bestehen und bereitet ihn darin bereits auf die Erlebnisse im Magischen Theater vor. Der Traktat liefert an dieser Stelle die Theorie zu Hallers Selbstbefreiung, deren praktische Umsetzung erst im Magischen Theater zum Tragen kommen wird. Diese Verbindung zwischen den beiden Teilen des Romans macht deutlich, dass beide Perspektiven der Betrachtung notwendig sind, um das Ziel der Identitätsfindung zu erreichen. Mit Hilfe des Traktats führt Hesse eine analytische Perspektive ein, wodurch ein sozio-psychologisches, Porträt von Haller gezeichnet wird. Der Titel „Tractat“ verweist auf die didaktische Funktion der Abhandlung. Da diese Abhandlung ein Teil der Gedanken Hallers wird, kann man ihn als einen besonderen Gesichtspunkt seiner Psyche, vergleichbar dem Freudschen Über-Ich betrachten.[52]

Trotzdem mag hier Kritik laut werden, dass dem Traktat der streng-wissenschaftliche Anspruch fehlt. So bleibt sein Verfasser im Dunkeln, scheint aber aufgrund seiner Allwissenheit und Anleitung zum Humor den Unsterblichen zugehörig. Dennoch bleiben nach seinem Lesen Fragen am Ende ungeklärt. Helga Esselborn-Krummbiegel merkt dazu an:

„Auch er (der Traktat) muss mit Distanz und Humor, mit Aufmerksamkeit zwar, doch auch mit der Bereitschaft, keine der dargebotenen Theorien für „todernst“ zu nehmen, gelesen werden. Denn auch die wissenschaftliche und philosophische Bemühung ist nur ein möglicher Versuch den lebendigen Menschen in seiner Vielfalt zu verstehen.“[53]

Letztendlich gesteht der Traktat Haller am Schluss tausend Möglichkeiten in seiner Lebensführung zu, was nichts anderes bedeuten mag, als dass keine noch so wissenschaftliche und objektive Darstellung im Stile des Traktats die Individualität des Menschen erfassen kann.[54] Für Hesse ist die wissenschaftliche Psychologie letztendlich nur eine weitere Perspektive, aus der Hallers Problematik betrachtet werden kann und die nicht ohne ein gewisses Maß an Humor gelesen werden muss.

Beda Allemann schreibt in ihrem Aufsatz „Tractat vom Steppenwolf“:

„Der Begriff eines Tractates selbst ist nicht eindeutig. Seine innere Spannweite reicht vom Erbauungs-Schriftlein bibelforschender Sekten, das mit literarischen Kategorien gar nicht zu greifen ist, bis zur strengen und dichten wissenschaftlichen Untersuchung, von der Jahrmarkts-Flugschrift bis zu Wittgensteins logisch-philosophischer Abhandlung. Hesses Steppenwolf-Tractat läßt sich auf dieser Skala nicht präzis einordnen, weil er sie der Intention nach umfaßt. Es liegen ihm zwar die wissenschaftlichen Erkenntnisse der modernen Tiefenpsychologie zugrunde, aber er verzichtet auf die intellektuelle Brillanz (...).“[55]

Äußerlich hebt sich der Traktat durch sein Druckbild durch sein kursives Schriftbild vom restlichen Text ab. In der Erstausgabe ist er sogar durch ein gelbes Front- und Rückblatt und optische Verzierungen gekennzeichnet. Hier lässt sich die besondere Bedeutung des Traktats als Kern des Romans erkennen. Es war Hesse wichtig anzudeuten, dass der Traktat nicht als integrierter Teil von Hallers Aufzeichnungen gelesen werden sollte, sondern als vorgezogener Kommentar zu der Entwicklung des Steppenwolfes zu sehen ist. Der ursprünglich geplante Titel des Traktats war „Märchen vom Steppenwolf“, dem auch noch der typische Märchenanfang „Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf“[56] entspricht.[57]

[...]


[1] Hermann Hesse an Marie-Louise Dumont, Februar 1929. In: Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe, Band 2, S. 210.

[2] Dorsch, Friedrich (Hg.): Psychologisches Wörterbuch, Bern 1994, S. 340.

[3] Vgl. DeLevita, D.J.: Der Begriff der Identität, Frankfurt a. M. 1971, S. 45 ff.

[4] Vgl. Haußer, Karl: Identitätspsychologie, Berlin/Heidelberg 1995, S. 3.

[5] Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1998, S. 244.

[6] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 5, Frankfurt a. M. 1970, S. 8.

[7] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 245.

[8] Hesse, Hermann: Briefe. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1964, S. 274.

[9] Habermas, Jürgen: Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1972, S. 14.

[10] Esselborn-Krummbiegel, Helga: Hermann Hesse. Der Steppenwolf, München 1985, S. 31.

[11] Karalaschwili, Reso: Hermann Hesses Romanwelt, Köln 1986, S. 41.

[12] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 203.

[13] Esselborn-Krummbiegel, Helga: Hermann Hesse. Der Steppenwolf, München 1985, S. 30.

[14] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 190.

[15] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 183.

[16] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 198.

[17] Jung, C. G.: Aion, Untersuchungen zur Symbolgeschichte, Zürich 1951, S. 379.

[18] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 183.

[19] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 183.

[20] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 184.

[21] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 190 f.

[22] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 201.

[23] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 183.

[24] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 191.

[25] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 192.

[26] Ebenda, S. 191.

[27] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 194.

[28] Vgl. Kreidler, Horst-Dieter: Hermann Hesses „Steppenwolf“: Versuch einer Interpretation, Freiburg 1957, S. 103.

[29] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 187.

[30] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 11, S. 240.

[31] Jung, C. G.: Über die Psychologie des Unbewußten, Zürich 1943, S. 73 ff.

[32] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 202.

[33] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 196.

[34] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 205.

[35] Ebenda, S. 206 f.

[36] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 207.

[37] Ebenda, S. 252.

[38] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 208.

[39] Vgl. Meinicke, Susanne: Der Steppenwolf, Zürich 1972, S. 16.

[40] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 187.

[41] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 205.

[42] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 255.

[43] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 197.

[44] Stevenson, Robert Louis: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, München 1996, S. 93 f.

[45] Vgl. Moraldo, Sandro M.: Wandlungen des Doppelgängers. Shakespeare - E.T.A. Hoffmann - Pirandello, Frankfurt a. M. 1996, S. 27 ff.

[46] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 191.

[47] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 210.

[48] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 213.

[49] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 217.

[50] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 222.

[51] Vgl. Böttcher, Margot: Aufbau und Form von Hermann Hesses „Steppenwolf“, „Morgenlandfahrt“ „Glasperlenspiel“, Berlin 1948, S. 32

[52] Vgl. Freedman, Ralph: Hermann Hesse. Autor der Krisis. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1977, S. 383.

[53] Esselborn-Krummbiegel, Helga: Hermann Hesse. Der Steppenwolf, München 1985, S. 84

[54] Vgl. Allemann, Beda: Tractat vom Steppenwolf. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses „Der Steppenwolf“, Frankfurt a. M. 1972, S. 318 f.

[55] Allemann, Beda: Tractat vom Steppenwolf. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses „Der Steppenwolf“, Frankfurt a. M. 1972, S. 320.

[56] Hesse, Hermann: Gesammelte Werke, Band 7, S. 222.

[57] Vgl. Voit, Friedrich: Erläuterungen und Dokumente zu Hermann Hesses Steppenwolf, Stuttgart 2002, S. 63.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Die Reflexion von Identität in Hermann Hesses "Steppenwolf"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
88
Katalognummer
V37019
ISBN (eBook)
9783638364898
ISBN (Buch)
9783638705080
Dateigröße
817 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Reflexion, Identität, Hermann, Hesses, Steppenwolf
Arbeit zitieren
Julia Kahl (Autor:in), 2003, Die Reflexion von Identität in Hermann Hesses "Steppenwolf", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37019

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