Diogenes war kein Messie. Zur Unterscheidung zwischen Diogenes-Syndrom, Messie-Syndrom und anderen ähnlichen Zuständen


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2017

21 Seiten


Leseprobe


Einleitung

Diogenes war kein Messie und wer ein Messie ist, der ist noch lange kein Diogenes. Beides wird aber heute häufig in eine Tonne geworfen, um im Bild zu bleiben.

Zusammen mit meinem damaligen Mitarbeiter Joachim Kloster- kötter hatte ich 1985 zwei eigene Kasuistiken von Patienten mit Dio- genes-Syndrom ausführlicher dargestellt, um dieses damals noch un- bekannte Syndrom in Deutschland bekannt zu machen.1 Erst in den 90er Jahren wurde das Messie-Syndrom populär, nachdem Sandra Felton dazu ein sehr populär gewordenes Buch veröffentlicht hatte. Seither bin ich häufig gefragt worden, ob beides nicht dasselbe sei. Beides habe doch mit Vermüllung zu tun, wurde als Begründung ge- sagt.

Einführung

Wenn man das Diogenes-Syndrom auf die kürzeste Formel brin- gen will, kann man sagen, dass dabei eine selbstgewählte ‘philosophi- sche’ Einsamkeit mit Bedürfnislosigkeit vereinigt wird. Wenn man einen historischen Vergleich für das Syndrom suchen möchte, fändet man ihn im Eremiten (auch Anachoret genannt). Im Grunde würde das Diogenes-Syndrom sogar treffender als Anachoreten-Syndrom beƵeichnet werden. Aber die populäre Anekdote vom Diogenes, wel- cher in einer Tonne gelebt und dort den Besuch von König Alexander dem Großen erhalten haben soll, ist zweifellos attraktiver und ist da- her von den Medien aufgegriffen und weit verbreitet worden.

Die Anachoreten des dritten christlichen Jahrhunderts (also mehr als 600 Jahre später) dagegen zogen sich vom Zusammenleben mit Mitmenschen in die Wüste zurück, weil sie es so wollten, weil nicht das Treiben in der bereits damals für zu materiell gehaltenen Welt ihr Lebensinhalt sein sollte, sondern die Versenkung in sich selbst und selbstverständlich in Gott.

Johannes der Täufer wird im Markus-Evangelium als ein Anacho- ret geschildert, denn er ging, wie es heißt, in die Wüste und nährte sich dort allein von Heuschrecken und wildem Honig. Aber die Men- schen kamen zu ihm, um sich von ihm taufen zu lassen. Das grie- chische Wort αναχωρητησ (anachoretes) bedeutet „zurückgezogen“, „einsiedlerisch“. Entgegen ihrer eigentlichen Absicht wurden sie dort allerdings häufig als Weise und Ratgeber aufgesucht. Weil das Dioge- nes-Syndrom so populär ist, bleibt man besser bei diesem populären Begriff, auch wenn er nicht wirklich zutrifft.

Im Erzählzyklus Serapion von E.T.A. Hoffmann lebt die Titelge- stalt als Anachoret in selbstgewählter Einsamkeit, nachdem er den Verlockungen der Welt und einer glänzenden beruflichen Karriere entsagt hat. Die Beschreibung des Mannes ist vollkommen die eines Menschen mit Diogenessyndrom, es gibt kaum eine bessere.

So geschah es, dass ich eines Tages in einen dichten Wald geriet und je emsiger ich zuletzt Weg und Steg suchte, desto mehr jede Spur eines menschlichen Fußtritts verlor. Endlich wurde der Wald etwas lichter, da gewahrte ich unfern von mir einen Mann in brauner Einsiedlerkutte, ei- nen breiten Strohhut auf dem Kopf, mit langem schwarzem verwilder- tem Bart, der dicht an einer Bergschlucht auf einem Felsstück saß und die Hände gefaltet gedankenvoll in die Ferne schaute. Die ganze Erschei- nung hatte etwas Fremdartiges, Seltsames, ich fühlte leise Schauer mich durchgleiten. Solchen Gefühls kann man sich wohl auch kaum erwehren, wenn das, was man nur auf Bildern sah oder nur aus Büchern kannte, plötzlich ins wirkliche Leben tritt. Da saß nun der Anachoret aus der alten Zeit des Christentums in Salvator Rosas wildem Gebürge lebendig mir vor Augen. - Ich besann mich bald, dass ein ambulierender Mönch wohl eben nichts Ungewöhnliches in diesen Gegenden sei und trat keck auf den Mann zu mit der Frage, wie ich mich wohl am leichtesten aus dem Walde herausfinden könne um nach B*** zurückzukehren. Er maß mich mit finsterm Blick und sprach dann mit dumpfer feierlicher Stim- me: ›Du handelst sehr leichtsinnig und unbesonnen, dass du mich in dem Gespräch, das ich mit den würdigen Männern, die um mich versammelt, führe, mit einer einfältigen Frage unterbrichst! - Ich weiß es wohl, dass bloß die Neugierde mich zu sehen und mich sprechen zu hören dich in diese Wüste trieb, aber du siehst, dass ich jetzt keine Zeit habe mit dir zu reden. Mein Freund Ambrosius von Kamaldoli kehrt nach Alexandrien zurück, ziehe mit ihm.‹ Damit stand der Mann auf und stieg hinab in die Bergschlucht. Mir war als läg ich im Traum. Ganz in der Nähe hört ich das Geräusch eines Fuhrwerks, ich arbeitete mich durchs Gebüsch, stand bald auf einem Holzwege und sah vor mir einen Bauer, der auf einem zweirädrigen Karren daherfuhr und den ich schnell ereilte. Er brachte mich bald auf den großen Weg nach B***. Ich erzählte ihm unterweges mein Abenteuer und fragte ihn, wer wohl der wunderliche Mann im Wal- de sei. ›Ach lieber Herr‹, erwiderte der Bauer, ›das ist der würdige Mann der sich Priester Serapion nennt und schon seit vielen Jahren im Walde eine kleine Hütte bewohnt, die er sich selbst erbaut hat. Die Leute sagen, er sei nicht recht richtig im Kopfe, aber er ist ein lieber frommer Herr der niemanden etwas zuleide tut und der uns im Dorfe mit andächtigen Reden recht erbaut und uns guten Rat erteilt wie er nur kann.‹ Kaum zwei Stunden von B*** hatte ich meinen Anachoreten angetroffen, hier mußte man daher auch mehr von ihm wissen, und so war es auch wirk- lich der Fall. Doktor S** erklärte mir alles. Dieser Einsiedler war sonst einer der geistreichsten vielseitig ausgebildetsten Köpfe die es in M- gab. Kam noch hinzu, dass er aus glänzender Familie entsprossen, so konnt es nicht fehlen, dass man ihn, kaum hatte er seine Studien vollendet, in ein bedeutendes diplomatisches Geschäft zog, dem er mit Treue und Eifer vorstand. Mit seinen Kenntnissen verband er ein ausgezeichnetes Dich- tertalent, alles was er schrieb, war von einer feurigen Fantasie, von einem besondern Geiste, der in die tiefste Tiefe schaute, beseelt. Sein unübertreff- licher Humor machte ihn zum angenehmsten, seine Gemütlichkeit zum liebenswürdigsten Gesellschafter, den es nur geben konnte. Von Stufe zu Stufe gestiegen hatte man ihn eben zu einem wichtigen Gesandtschafts- posten bestimmt, als er auf unbegreifliche Weise aus M** verschwand. Alle Nachforschungen blieben vergebens und jede Vermutung scheiterte an diesem, jenem Umstande, der sich dabei ergab.2

Das Messie-Syndrom dagegen kann man ruhig Syndrom nennen, obwohl es im medizinischen Sinne keine Krankheit ist. Es wurde von der amerikanischen Sonderschullehrerin Sandra Felton erfunden und popularisiert. Es geht um normale Menschen, die in ihrer Woh- nung und in ihrem Leben keine Ordnung halten können.

Das Diogenes-Syndrom selbst

Es handelt sich um einen Zustand der zurückgezogenen Einsam- keit nach eigener Wahl. Wenn es dabei zur Vernachlässigung von Notwendigkeiten des täglichen Lebens kommt, dann ist das eine ungewollte Folge oder Nebenwirkung davon. Die tägliche Hygiene, die Fürsorge für saubere Wäsche, eine mangelhafte Ernährung und vieles andere können davon betroffen sein. Hilfe wird durchaus an- genommen, jedoch unter der Bedingung, dass die Einsamkeit, der Rückzug von der sozialen Mitwelt, also ein Leben wie in der Tonne, nicht unterbrochen wird.

Es handelt sich bei solchen Menschen offenbar hauptsächlich um gebildete Menschen mit einem vormals höheren Lebensanspruch und einer reichen geistigen Innenwelt.

Ob man dabei von einer Krankheit sprechen kann, wird je nach Zeitgeist verschieden beurteilt. Es gibt keine wirkliche Definition von Krankheit. Das ist überhaupt nicht möglich. Was jeweils für eine Krankheit gehalten wird, ist eine Krankheit. Also kann es eine Krankheit sein, wenn es für eine Krankheit gehalten wird.

An sich aber deutet beim Diogenes-Syndrom alles eher auf eine in der griechisch-europäischen Kultur zwar seltene und verwunder- liche, aber real vorkommende Eigentümlichkeit menschlichen Ver­ haltens.

Vorläufer zum Diogenes-Syndrom in der psychiatrischen Literatur

Gleich im ersten Band der ersten Psychiatriezeitschrift der Welt, die sich noch Zeitschrift zur Seelenheilkunde nannte, wird 1783 ein verhaltensauffälliger Mensch geschildert.3

Johann Matthias Klug, so war wohl sein wirklicher Name, sei 60 Jahre alt geworden und habe sich die letzten 20 Jahre seines Lebens vollständig von der Mitwelt zurückgezogen. Er lebte in selbstgewähl- ter Einsamkeit in seiner Wohnung, die er standhaft verteidigte, selbst als das Haus, in welchem er die Wohnung hatte, verkauft worden war blieb er so. Der neue Besitzer ließ den Herrn Klug , so wird uns berichtet, schließlich gewähren und begnügte sich mit den von seinem Mieter nicht beanspruchten Räumen des Hauses. Freundliche Menschen gab es auch damals.

Diese Geschichte war dem Herausgeber der damals neuen Zeit- schrift, Carl Philipp Moritz, einem Pietisten, vom Kriegsrat Dohm mitgeteilt worden, wie er schrieb. Dohm war wohl ebenfalls der richtige Name. Es dürfte sich also um den preußischen Geheimen Kriegsrat Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751-1820) han- deln, eine historische Persönlichkeit. Nach ihm ist das Christi- an-von-Dohm-Gymnasium in Goslar benannt, das er selbst dort 1806 gegründet hatte. Man anonymisierte noch nicht.

Carl Philipp Moritz führte auch eine Begründung für das absondernde Verhalten des Herrn Klug an. Es wird ein misstrauisches Verhalten mit einem misstrauischem Wähnen beschrieben. Vor allem wird aber beschrieben, was für ein Mensch das war, womit wir schon unmittelbar im Tema sind.

In seiner Verlassenschaft befand sich eine zwar nicht zahlreiche, aber auserlesene Büchersammlung. Aus den Anmerkungen, welche er in die Bücher geschrieben, ersiehet man leicht seine große, mit guter Beurthei- lung verbundene Belesenheit. Er war der deutschen Sprache so mächtig, wie es von einem Gelehrten mit Recht erwartet werden kann: auch ver- stand er die lateinische, französische und englische; und letztere beiden redete er auch sehr gut.

Dann aber wird ein Ereignis geschildert, welches wohl als Grund für sein sonderbares Verhalten anzunehmen sei.

Wir müssen daher vor allen Dingen sein Vorgeben: er habe gegen den König von Preußen oder eigentlich gegen dessen Gesinnungen in An­ sehung der Religion ein Buch geschrieben; nicht ausser Acht lassen. Denn daraus entstand seine falsche Vorstellung, als sei dieser große Kö- nig deshalb höchst ungnädig auf ihn, und tue alles, ihn in seine Gewalt zu bekommen.

Ob er nun ein solches Buch geschrieben hat, bleibt an der Ge­ schichte ungewiss. Das Verhalten des Herrn Klug wird von Carl Phi- lipp Moritz nicht als Geisteskrankheit oder Wahnsinn bezeichnet, sondern als eine besondere Eigentümlichkeit seines Charakters. Es wird nur von seiner «ganz sonderbaren Lebensart» gesprochen.

[...]

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Details

Titel
Diogenes war kein Messie. Zur Unterscheidung zwischen Diogenes-Syndrom, Messie-Syndrom und anderen ähnlichen Zuständen
Hochschule
Universität zu Köln
Autor
Jahr
2017
Seiten
21
Katalognummer
V369726
ISBN (eBook)
9783668509139
ISBN (Buch)
9783668509146
Dateigröße
450 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
diogenes, anachoret, diogenes-syndrom, sammelsucht, messie-syndrom
Arbeit zitieren
Uwe H. Peters (Autor:in), 2017, Diogenes war kein Messie. Zur Unterscheidung zwischen Diogenes-Syndrom, Messie-Syndrom und anderen ähnlichen Zuständen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/369726

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