Paradigma und Paradigmenwandel in der Medizin


Wissenschaftliche Studie, 2017

21 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Paradigma und Paradigmenwandel in der Medizin

Systemunterschiede zwischen Spitalsmedizin und Allgemeinpraxis

Der Patient in Kurzzeitbetreuung – Langzeitlicher Bindung

Spezifisches ärztliches Handeln als Bedingung der Primärversorgung

Begrenzung des strengen Ärztlichen Verfahrens in der Allgemeinmedizin

Vergleich der Entscheidungsgrundlagen in den verschiedenen Systemen

Fälleverteilung und Systemuntersuchungen in der Allgemeinmedizin

Gegenargumente zu den vorgetragenen Thesen

Literatur

Paradigma und Paradigmenwandel in der Medizin

Als wissenschaftliches Paradigma wird von dem amerikanischen Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen eine leitende Idee, eine führende wissenschaftliche Methode, ein charakteristischer Grundsatz des Denkens der Wissenschaftler in einer Zeit, einer Schule, einer Methodengemeinschaft bezeichnet (1,2,3,4). Den historisch verschiedenen Paradigmen, als solche nicht immer wahrgenommen, wird ein konkurrierender Ablauf zuteil, den Kuhn als „wissenschaftliche Revolution“ bezeichnet. Ein neues Paradigma gibt vorhandenen Inhalten eine neue Bedeutung, es fördert eine neue Forschungs- und Methodentradition. Es wird als gedanklicher und methodischer Zusammenhalt einer Forschergruppe aufgefaßt und gibt durch Festlegung, was wichtig sei, Sicherheit für neue Forschung. Auch wird ein Paradigma beschrieben als ein Rahmen für:

- das, was beobachtet und überprüft wird
- die Art der Fragen, welche in Bezug auf ein Thema gestellt werden und die geprüft werden sollen
- wie diese Fragen gestellt werden sollen
- wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung interpretiert werden sollen.
- was in den Lehrbüchern betont und als Lehrstoff benannt wird und was den Studenten als Gehalt des Fachs vorgestellt und gelehrt wird.

Kuhn definiert Paradigmen als „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern“[5, Zitat aus Wikipedia]. Neue Paradigmen ergeben sich im gewohnten Ablauf des Denkens in der traditionellen, von ihm als „normale“ Wissenschaft bezeichneten Disziplin.

Sie werden nur allmählich erkannt. Unerwartete Ergebnisse und Tatbestände, von ihm als Anomalien ausgewiesen, nehmen jedoch signalhaft zu. Es zeigen sich markante Umgestaltungen dessen, was in einem Fach als wichtig angesehen wird.

Ob die Medizin per se oder mehrere Anteile des großen Bereichs der erforschten und ausgeübten Medizin durch ein besonderes, unterscheidendes, wissenschaftliches, methodisches Konzept charakterisiert sind, ob dieses Konzept, nennen wir es mutig Paradigma, ein wesentlicher Teil der Definition und des Selbstverständnisses der Forscher und Ärzte in Teilgebieten oder der ganzen Medizin sein könnte, ist bisher nur gefragt und nicht beantwortet worden und lohnt eine vertiefte Betrachtung.

Traditionell wird eine Wissenschaft als eigenständig bezeichnet, wenn sie einen eigenen Arbeitsbereich, eine eigenständige Methode zur Bewältigung ihrer Aufgaben und Forschungsmethoden sowie Forschungsergebnisse zu diesem eigenen Bereich hat (6). Diese Eigenschaften ermöglichen die Abgrenzung gegen andere Disziplinen und machen den so definierten Bereich übersichtlich und geschlossen, einer eigenen Entwicklung zugängig (Kuhn nennt das esoterisch). Solche Bedingungen der Eigenständigkeit können wir der Disziplin der Ärztlichen Primärversorgung zuschreiben, in der meist die Hälfte aller Ärzte in einer Gesellschaft tätig ist:

- Ihr epidemisches Feld liegt am nächsten an der natürlichen Morbidität der Bevölkerung. Im Fachbereich ergeben sich facheigene Felder konstanter Krankheitsverteilungen, die in anderen Versorgungsfeldern nicht gefunden werden (8.9.10).
- die Herangehensweise an die Probleme der Patienten ist vorwiegend pragmatisch, auf Handlungsleitung orientiert, im Gegensatz zu einer Leitidee der Suche nach Wissen um jeden Preis (11,12,13).
- Viel Information liegt in der Primärversorgung als erkennbares Symptom vor. Undifferenzierte Krankheitsprozesse sind primär als Symptome ausweisbar und verlangen einen anderen methodischen Umgang als ausgeformte Erkrankungen (14,15,16). In dem großen Topf des Undifferenzierten sind stets auch durch die Patientenpersönlichkeit gefärbte, also psychosomatische oder psychisch bestimmte Krankheits- oder Verarbeitungsanteile zu finden, und fordern ein anderes ärztliches Verfahren. Die daran bestimmte Tradition familienmedizinischen Denkens und der Empathie in der Konsultation ergibt, jedenfalls für dieses Fach, die unvermeidbare Notwendigkeit, psychosomatische und umweltbezogene Krankheitsfaktoren zu bedenken, seien diese krankheitsfördernd oder krankheitsmodifizierend. Sonstige Mitteilungen aus dem erkrankten Menschen können in der Zukunft, bei sorgfältiger Beobachtung, die hilfreichen Signale der Medizin vermehren.

In der täglichen Berufsausübung wird beharrlich in diesen eigenständigen Denkformen gearbeitet, auch wenn es zu all diesen langzeitlich im Fach persistierenden Grundgedanken und Methoden ein nur langsam wachsendes Feld von stützender Forschung gibt. Eine Besinnung auf die Anfänge und die bestimmenden Faktoren des Fachs der Ärztlichen Primärversorgung macht zwingend klar, dass markante Unterschiede bestehen:

Die klassische rationale Medizin an der forschenden Hochschule hat sich als tiefschürfende Erforschung von Krankheiten und Therapien entwickelt. Konsequente Beziehungen von Ursache und Wirkung wurden zur Erklärung der Pathologie erforscht und durch das "Experiment" der gelingenden problembezogenen Therapie bewiesen. Das Stadium der Erforschung unbekannter Symptome und Erkrankungen hat diese Medizin in weiten Bereichen hinter sich, das konsequente Verfahren der sachlich ausgiebigen Durchdringung wird dennoch als alleingültig gelehrt und auch bei evident risikolosen Bildern unter beträchtlichem Aufwand beibehalten.

Es hat sich aber ein neuer Faktor in die Beziehung von Patient, Arzt und Familie eingestellt: Das Sozialversicherungssystem und dessen kardinale Forderung nach kostensparenden (wenn ansonsten gleichwertigen) Methoden.

Und: In der ambulanten Betreuung ist unvermeidlich der Patient von größerer Bedeutung, der in der Forschungsmedizin als Träger des Symptoms zurücksteht. Er ist als bestimmender Faktor im Krankheitsverhalten unter den Abläufen von Diagnostik und Therapie zu beachten; und es ist nur ein Schritt weiter zur Untersuchung von Verhaltensbezügen zwischen Lebensgeschichte und Krankheitsausdruck. Ärztliches Verhalten ist nun nicht allein auf die Suche nach Krankheitszeichen und Krankheiten fokussiert. Zugleich soll die Anpassung der verwendeten Methoden an die finanziellen Mittel, an die Belastbarkeit des erkrankten Menschen, an die prognostischen Erwartungen, in Voraussicht der möglichen Ergebnisse in allen Stadien der Bemühung, erfolgen. Es sind also umfangreich mehr und andere Handlungsformen nötig, um die Primärversorgung zu lehren, zu untersuchen, und zu gestalten. (17). Das ärztliche Handeln ist geradezu der Leitfaden für die Darstellung des Faches geworden.

Um die Frage nach der Bestimmung durch ein eigenes, nicht vorwiegend kognitives sondern vorwiegend handlungsorientiertes Paradigma zu erfüllen, wäre darzustellen, was in einem Fach diese Handlungen bestimmt, und was sie unverkennbar und unersetzlich diesem Fach, im Gegensatz zu einer anderen medizinischen Versorgungsform, zu Eigen gibt. Es liegt nahe, diese Suche nach eigenständigen Eigenschaften der Versorgungsformen nach den systemtheoretischen Grundsätzen von Struktur, Prozeß und Ergebnis zu gliedern (18). Dafür wird die organisatorische Struktur, werden Verfahren in den verglichenen Bereichen, und werden epidemiologische Ergebnisse als Zeichen der betreuten Erkrankungen darzustellen sein; dies getrennt für die postulierten unterschiedlichen Arbeitsbereiche der Primärversorgung und der hospitalen sowie einer konsequent forschungsgesteuerten Facharztmedizin.

Systemunterschiede zwischen Spitalsmedizin und Allgemeinpraxis

Ärztliche Primärversorgung, die generalistische Medizin mit unbegrenzten Aufgaben, für geographische Großräume, erfolgt aus Hausarztpraxen in rechnerisch, meist nach der Anzahl versorgter Patienten, bestimmter Verteilung, oder nach lokalen, unabweisbaren, Bedürfnissen (19). Als Kassenpraxis hat sie eine Ausstattung mit begrenzten Hilfsmitteln, die sich aus der Mehrzahl versorgter Erkrankungen ableiten. Gleichfalls arbeiten medizinische Dienste für dringliche Erkrankungen oder für spezialisierte Erstversorgungen (Notfallmedizin, Unfallchirurgie, Diabetologie) an der Erstversorgung der Bevölkerung, doch mit einem sehr engen epidemischen Spektrum.

Das Spital und dessen Abteilungen sind Großunternehmen (20). Ein umfangreiches Team von teils subspezialisierten Fachärzten ist durch vertiefte Schulung und spezifische Erfahrung zu den Aufgaben der Abteilung versammelt. Die Unterstützung dieser Leistungen im Spital durch die jeweils optimale apparative Leistung und großzügige labormedizinische Verfahren darf Geld kosten, wenn auch Grenzen gesetzt werden durch Kostenrechnung und Vergleiche mit ähnlichen Institutionen.

Die medizinischen Verfahren der Spitalsabteilung, um so mehr der zur Forschung beauftragten Universitätsklinik, sind fundiert in der Methodik rational begründeter Forschung. Das naturwissenschaftliche Verfahren von Befundbeschreibung, methodischer Ursachenforschung und kontrollierter Therapie entspricht den abendländischen Forderungen an eine reproduzierbare Erkenntnisgewinnung. Mit dieser haben die Spitalsabteilungen ihre Geschichte begonnen: Gleichartige Erkrankungen wurden versammelt, um durch Großgruppenvergleiche vermehrtes Wissen zu gewinnen (21). Das ist zugleich das Problem der Fachabteilung, die durch Konzentration auf ihr eingeengtes Feld die anderen Bereiche der Medizin zwar nicht ausgrenzt, aber an den Rand der Überlegungen drängt. Die Abteilung erhebt konsequent Basisdaten zum Patienten, sie hat ihn ganztägig in Aufsicht: Der Krankheitsverlauf wird beobachtet, Komplikationen können früh abgewehrt oder behoben werden. Aufbauend auf der Forschungstradition ist rational begründete Argumentation und logische Konsequenz der Krankheitsanalyse das Denkprinzip in diesem System.

Die Hausarztpraxis als wichtiger Teil der ärztlichen Primärversorgung stellt sich für die Patienten als Kleinbetrieb mit familiär gestalteter Grundhaltung dar (22). Verhandlungen zwischen der Sozialversicherung und den Vertretern der Allgemeinärzte haben die Hilfsmittel bestimmt, die in bescheidenerem aber meist effektiven Rahmen Hilfsbefunde ermöglichen. Die Aufwendungen der Praxis zur Erfüllung ihrer Aufgaben, meist der Erstbeurteilung vorerst undefinierter Erkrankungen, oder der Langzeitbetreuung definierter, besonders der „Volkskrankheiten“ (23, 37), werden besonders streng reglementiert und durch Systemvergleich, jedenfalls zwischen den Praxen, kontrolliert.

Der Patient in Kurzzeitbetreuung – Langzeitlicher Bindung

Die Aufgabenteilung in der Medizin führt zur Bindung von Patienten in konstanter wenn auch episodisch unterbrochener Betreuung an eine, „ihre“ Allgemeinpraxis. In weitere Instanzen der Medizin steigen sie nach Kriterien diagnostischer Unsicherheit oder nach spezialisiertem Behandlungsbedarf auf. In diesen sind die Patienten bedarfsgerecht, aber nur für die thematisierte Gesundheitsstörung und für den Zeitraum der Erkrankung, in Betreuung.

Die lückenlose Aufsicht über den Patienten, der sich dem Spital anvertraut hat, ist Voraussetzung guter Spitalsmedizin. Die täglichen Basismessungen, Verbandswechsel, Befundkontrollen, die fortgesetzten Kontrollen der verabreichten Therapie, die Visiten der Pflegenden, der Stationsärzte, des Oberarztes und anderer Glieder der Hierarchie: Stets wird das Heil des Patienten in der Begegnung mit dem Heilsystem, inkorporiert in den Angehörigen der Institution, gesehen. Der Aufenthalt in der Institution wird als nicht nur materieller, auch als sozialer Begegnungsablauf mit der Medizin an diesem Ort und in diesem Fach angesehen. Gesundung hat auch etwas mit dem Erwerb von gesunderhaltenden Handlungen und der sozialen Atmosphäre des Heilsamen zu tun. Die therapeutische Gruppe am Ort gibt ihre durchdachten Hilfen. Patienten nehmen etwas von der ortsansässigen Spitalsmedizin mit sich.

Ist das auch so in der Allgemeinpraxis? Es sollte so sein. Patienten verlassen ihre Allgemeinpraxis nach Rezepturen, Kontrollen und Folgekonsultationen für absehbare Zeiträume von Tagen oder Wochen. Sie sind in diesem Intervall auf sich gestellt, ihrer Selbstheilungsfähigkeit, den verordneten Maßnahmen und ihrer Eigenverantwortung zu deren Durchführung, überlassen. Die kontinuierliche Möglichkeit zur Folgekonsultation gibt den ambulanten Patienten Sicherheit und dennoch Freiheit. Der derart langzeitlich wiederholte Kontakt mit dem Heilsystem, repräsentiert durch Arzt und Mitarbeiter, schenkt die Hoffnung eines verstärkten Gesundheitsbewußtseins, einer inneren Ordnung der Begegnung von Körper und Selbstregulation, von bewußterem Psychosoma, wie immer es nun genannt werden kann: „Ich folge meinem Arzt und fühle mich besser.“

[...]

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Details

Titel
Paradigma und Paradigmenwandel in der Medizin
Autor
Jahr
2017
Seiten
21
Katalognummer
V368261
ISBN (eBook)
9783668466494
ISBN (Buch)
9783668466500
Dateigröße
548 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
handlungsorientierte und vorwiegend kognitive Paradigmen der Medizin Systemvergleich Allgemeinmedizin Spitalsmedizin
Arbeit zitieren
Dr. Hans Tönies (Autor:in), 2017, Paradigma und Paradigmenwandel in der Medizin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/368261

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