Imagination und das innere Auge. Eine interdisziplinäre Annäherung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

25 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Vorstellungskraft

Imagery debate

A case of blind imagination

Relative Existenzen

Kognitive Vielfalt artikulieren

Rückblick und Ausblick

Literaturverzeichnis

Einleitung

Wenn Kinder nicht einschlafen können wird ihnen oft der Ratschlag gegeben „Schafe zu zählen“. Damit ist gemeint, dass man sich vor dem inneren Auge Schafe vorstellt, die beispielsweise über einen Zaun springen. Diese vermeint- lich anstrengungslose und monotone Aufgabe soll den Geist entspannen und so zum Schlafen bringen. Dabei wird stillschweigend davon ausgegangen, dass die bildliche Vorstellungskraft bei allen Menschen auf die gleiche Weise funkti- oniert. Zwar hat bereits 1880 der Naturforscher Francis Galton herausgefun- den, dass sich die bildliche Vorstellungskraft in einem Spektrum bewegt, dessen Extreme weit auseinanderreichen.1 Dennoch hat diese Erkenntnis in der For- schung lange Zeit keine Rolle mehr gespielt und im allgemeinen Bewusstsein scheint sie bis heute nicht wirklich angekommen zu sein, wie das Schäfchenbei- spiel illustrieren sollte. Erst Anfang der 1970er wurde das Thema wieder popu- lär und die methodischen Schwierigkeiten in der Erfassung der individuellen Vorstellungskraft wurden angegriffen. Der 1973 von dem Psychologen David Marks entwickelte, und mehrmals weiterentwickelte, Vividness of Visual Ima- gery Questionnaire (VVIQ) dient seitdem als Grundlage für die Messung der subjektiven, bildlichen Vorstellungskraft2.

Diese Arbeit soll aktuelle Forschung zum Thema einordnen und diese mit phi- losophischen und soziologischen Perspektiven verknüpfen. Was wird unter bildlicher Vorstellung verstanden und in welchem Verhältnis steht diese zum Begriff der Imagination? Welche Unterschiede sind intersubjektiv festzustellen und welche Erklärungsmodelle stehen hierfür zur Verfügung? Wie kann und wie sollte die Gesellschaft mit diesen Erkenntnissen umgehen? Um diesen Fragen näherzukommen werden zunächst einige Begriffe eingeführt und diskutiert. Anschließend wird näher auf die kognitionswissenschaftlichen Grundlagen ein- gegangen, die mit bildlicher Vorstellung in Verbindung gebracht werden. So- bald diese Grundlagen über Ausprägungen und Funktionen des inneren Auges skizziert wurden, wird im letzten Abschnitt darauf eingegangen, welche lebens- weltlichen Auswirkungen diese Form der menschlichen Varianz hat und haben kann. Schlussendlich soll diese Arbeit als Plädoyer für eine gesellschaftliche Debatte über kognitive Vielfalt verstanden werden.

Vorstellungskraft

Die Verwendung der Begriffe Vorstellungskraft, Einbildung, Imagination und Phantasie ist in der deutschen Sprache teilweise synonym und teilweise vonei- nander abgegrenzt3. Wie Mattl und Schulte ausführen unterscheiden sich die Begriffe vor allem in zwei Dimensionen. Gerade zwischen Vorstellung und Ein- bildung unterscheidet sich in der deutschen Sprache der damit konnotierte Grad des Bewusstseins. So sei die Einbildung eher im Sinne einer Eingebung zu verstehen, während eine Vorstellung eben etwas vorstellt und somit eine be- wusste Handlung meint. Die Einbildung sei eher unbewusst, die Vorstellung selbstreflexiv.4

In der zweiten Dimension, die insbesondere zwischen den Begriffen Imagination und Phantasie auseinanderklafft, gehe die Unterscheidung um die Quelle des Bildmaterials.5 Die unter anderem bei Colello zu findende Unterscheidung zwischen „reproductive“ und „productive imagination“6 spiegelt ebenfalls diese wahrgenommene Dichotomie zwischen reiner Erinnerung und reiner Kreativität (im Sinne einer Schöpfung aus dem Nichts) wider.

Mattl und Schulte betonen hingegen die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Abgrenzbarkeit und verweisen auf die Unschärfe von Erinnerungen, die stets durch unbewusste Sinneseindrücke beeinflusst würden und nie komplett re- produktiv oder kreativ zu verstehen seien.7 Liang et al. führen dazu weiter aus, dass reproduktive Imagination dort aufhöre, wo man vorhandene Sinnverknüp- fungen verlässt. Bildliche Vorstellungen könnten also reproduktiv sein, obwohl sie neue Bilder erschaffen. Entscheidend sei, ob man aus Eigeninitiative ausgetretene Pfade verlässt und im Vertrauen auf die Möglichkeit neuer sinnvoller Verknüpfungen diese einfach ausprobiert.8

Diese Unterscheidung ist, wie angedeutet, nicht zwingend. Ursprünglich geht sie auf Immanuel Kant zurück, der die produktive Imagination als transzendale Imagination bezeichnete. Darunter versteht er eine Art grundlegende Reprä- sentation, die weitere Erkenntnis erst möglich mache.9 Scott nennt als Beispiel für diese grundlegende Weltrepräsentation die Vereinigung von Zeit und Raum im Bewusstsein.10

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Unterscheidung zwischen produktiver und reproduktiver Imagination in erster Linie quantitativer Natur ist. Je unabhängiger von empirischem Wissen und je näher am Unbewussten, desto kreativer wirkt die kognitive Leistung. Eine klare Distinktion der beiden Begriffe scheint aber überflüssig und schwer zu operationalisieren, wie auch Liang et al. anmerken.11 Ebenso kommt Heath zu dem Schluss, dass die Annahme einer Imagination aus dem Nichts naiv und nicht begründbar sei.12

Es steht aber die Vermutung im Raum, dass Imagination eine bedeutende Rolle im Bereich der Kreativität spielt, eventuell sogar konstituierend für sie ist. Die- ser Frage ist unter anderen der Philosoph McGinn nachgegangen. Er vergleicht Imagination mit der Sprache, in der wir in der Lage sind eine unendliche Anzahl an Wörterkombinationen sinnvoll zu verstehen. Jede Neukombination sei dabei ein Stück „genuine creativity“13. Eine Wahrnehmung, oder auch Perzeption werde durch Imagination mit Sinn versehen. Dabei könne ein Satz, oder ein Bild, viele verschiedene Sinngebungen induzieren. Die Verbindung der Perzeption mit Sinn sei der Kern der Imagination.14 Um zu verstehen, welche Funktion die Imagination für den Prozess der kreati- ven Leistung spielt, lohnt auch ein Blick in Michel Foucaults „Die Ordnung der Dinge“. Foucault betont, dass Ähnlichkeit nur durch Imagination bestehe und umgekehrt diese sich auf die Ähnlichkeit stütze.15 Jede propositionale Verbin- dung, jede symbolhafte Repräsentation stütze sich auf das Prinzip der Ähnlich- keit. Foucault beschreibt die Imagination in diesem Kontext als „dunkle Kraft [,die imstande ist] sich einen vorangehenden Eindruck erneut zu vergegenwär- tigen[͙΁“16. Im Spannungsverhältnis zwischen der repräsentativen Ordnung und der natürlichen Unordnung sei es die Imagination, die die Ordnung dyna- misch wiederherstelle. Die Kraft der Imagination, Ähnlichkeiten zu erkennen erlaube es einerseits eine Ordnung zu erkennen und führe andererseits dazu, dass man Unterschiede nicht mehr wahrnehme.17 Hier seien in der Philosophie- geschichte sowohl der Ursprung des Irrtums als auch der Zugang zur mathema- tischen Wahrheit gesucht worden.18

Gleichzeitig sei es die Natur, die in ihrer endlosen Pluralität ein fluides Netzwerk an Ähnlichkeiten anbiete und somit der Imagination einen nahezu unbegrenz- ten Raum der Entfaltung anbiete. Laut Foucault sei in dieser Reziprozität auch die begriffliche Unterscheidung zwischen Mensch und Natur begründet. Die Imagination als Nutznießer der natürlichen Ähnlichkeit scheint eine Art Grün- dungsmythos zu brauchen. Foucault umschreibt diesen Umstand folgenderma- ßen: „In dieser vielfältig bewegten Welt einer multiplen Natur, die aber dunkel und grundlos wiederbegonnen wird, in der rätselhaften Tatsache einer Natur, die vor jeder Ordnung sich selbst ähnelt [͙΁“.19 Anschließend nennt er Rousseau (der erste Mensch), Condillac (das erwachende Bewusstsein) und Hume (der in die Welt geworfene Beobachter) als Beispiele der Auseinandersetzung mit dem Mensch-Natur-Problem um klar zu machen, dass es ein klassi- sches philosophisches Problem ist, sich den Anfang des Bewusstseins und in diesem Kontext der Imagination vorzustellen.20

Die menschliche Natur, als zweite Entität nach der Natur, dient sozusa- gen als metaphysisches Hilfsgestell um die Vorstellung einer natürlichen Ord- nung aufrechtzuerhalten. Wenn nämlich Imagination und Ähnlichkeit sich ge- genseitig bedingen, dann kann das eine nicht aus dem anderen hervorgegangen sein und das Menschsein braucht eine eigene metaphysische Begründung.21 Da Foucault eine solche Begründung offensichtlich ablehnt, geht er davon aus, dass die Zuordnung der Imagination zum Menschen und der Ähnlichkeit zur Na- tur nur dem Anschein nach existiert.22 Obwohl Foucault das klassische Leib- Seele-Problem somit nur verlagert, wird dennoch klar, was für eine fundamen- tale Bedeutung der Imagination zukommt. Sie erst macht Welterfahrung mög- lich, in ihr entsteht die Ordnung, die unserem Bewusstsein zugrunde liegt.

Imagery debate

Jetzt ist es so, dass der Begriff Imagination das lateinische Wort „imago“ beinhaltet und somit schon in seiner Etymologie auf das Bildhafte verweist. In den Kognitionswissenschaften ist es aber keineswegs eine banale Frage, ob unsere Imagination wirklich und ausschließlich über bildhafte Repräsentationen funktioniert, oder ob nicht vielmehr propositionales Wissen nur in unterschiedlichen Phänomenen zutage tritt.

Diese Debatte wird in den Kognitionswissenschaften seit den 1970er Jahren geführt und ist unter dem Schlagwort imagery debate bekannt geworden. Wichtigster Vertreter der propositionalen Theorie ist Zenon Pylyshyn, während Stephen Kosslyn davon ausgeht, dass Imagination auch wirklich über bildhafte Wahrnehmung funktioniert.23

Pylyshyn argumentiert, dass die Wahrnehmung vor unserem inneren Auge nur quasiperzeptuell sei, das heißt, dass es keine bildliche Wahrnehmung im enge- ren Sinne sei, sondern nur der Eindruck der Wahrnehmung entstehe. Diese Ein- sicht sei durchaus kontraintuitiv, weil man oft das Gefühl habe, dass die kogni- tive Leistung wirklich im Bild stattfinde und nicht einer abstrakten Logik folge. Als Beispiel nennt er unter anderem das Vorausahnen der Flugbahn eines Balls.24

Er spricht von einer Illusion der Autonomie des mentalen Bildes, die sich darin äußere, dass es scheint, als könne man Problemlösungen direkt aus ihm able- sen. Intuitiv nehme man es so wahr, als ob man die Flugbahn im mentalen Bild weiterzeichnet und die richtige Lösung im Bild erkennt. Pylyshyn ist jedoch der Ansicht, dass erst die Information bereitstehen muss, bevor das Bild wirkt.25

Gleichzeitig wehrt Pylyshyn sich gegen Kritik, die ihm vorwirft mentale Bilder als nicht vorhanden oder als bloße Epiphänomene abzutun. Seiner An- sicht nach ist aber die Phänomenologie der Wahrnehmung mentaler Bilder nicht geeignet, um Rückschlüsse auf deren Kausalcharakter zu ziehen. Einer- seits sei zumindest nicht auszuschließen, dass es sich um Epiphänomene han- dele und die zugrundeliegenden Prozesse auch ohne eine Wahrnehmung im geistigen Auge funktionierten. In diesem Fall würden Bilder im Kopf auftau- chen, weil über etwas Bildhaftes nachgedacht wird, als unwillkürliche Assozia- tion und nicht als kognitive Strategie. Außerdem sei schon die normale Wahr- nehmung oft trügerisch und der Eindruck, dass wir etwas bildhaft wahrnehmen, sage nicht zwingend aus, dass dies auch passiert, sondern nur, dass wir es so wahrnehmen, als ob es bildlich wäre.26

Für die methodische Überprüfung der These, dass es kognitive Strategien gibt, die sich der bildlichen Vorstellungskraft bedienen, fordert Pylyshyn folgende Kriterien ein:

1. bewusstes und unbewusstes Wissen müssen klar getrennt werden.
2. es muss unterschieden werden, ob die geschlussfolgerte Denkweise der Ver- suchsperson dem System inhärent ist oder auch einfach persönlichen Gewohnheiten und Präferenzen zugrunde liegen kann.
3. ebenso muss es eindeutig sein, dass die Ergebnisse eindeutig einer bildhaften Denkweise zugeordnet werden können und nicht auch anders erklärt werden könnten.27

Die vielfältigen Experimente, die angestellt wurden um die picture theory, also die Theorie, die mentale Bilder als echte und vor allem funktionale Bilder cha- rakterisiert, zu beweisen, lässt Pylyshyn nicht gelten. Obwohl er prinzipiell nicht ausschließt, dass Beweise in dieser Richtung gefunden werden können, hält er die bisherigen Experimente für ungeeignet um einen solchen Beweis zu finden. Konkret kritisiert er, dass es nicht zu unterscheiden ist, ob man etwas wirklich wahrnimmt, oder ob man sich nur vorstellt, wie es wäre etwas wahrzunehmen. Dazu zählt er auch Versuchsergebnisse, die beispielsweise nahelegen, dass grö- ßere Distanzen im mentalen Bild zu längeren Verarbeitungszeiten führen.

Dies erklärt er mit kontextbezogenem Wissen (tacit knowledge), das in die Si- mulation der Wahrnehmung miteinfließt.28 Zu vergleichen ist Pylyshyns etwas schwer nachvollziehbarer Erklärungsansatz vielleicht mit dem Phänomen des Déjà vu, bei dem gerade Erlebtes als schon einmal passiert wahrgenommen wird.29 In ähnlicher Weise könnten Gedanken als gerade bildlich wahrgenom- men interpretiert werden obwohl es eigentlich nicht passiert ist. Stephen

Kosslyn ist, wie schon erwähnt, wichtigster Vertreter der picture theory. Der Kernunterschied zu Pylyshyn besteht darin, dass Kosslyn davon ausgeht, dass es verschiedene Formen der Repräsentation im Gehirn gibt. Im Gegensatz zu Pylyshyn geht Kosslyn nicht davon aus, dass erst alle Informationen vorliegen müssen um ein mentales Bild zu formen. Für ihn ist es eine eigenständige Form der Repräsentation, deren Existenz durch ökonomische Gründe erklärbar sei.30

[...]


1 Vgl. Galton (1880): S. 303ff.

2 Vgl. Marks (1973): S.17ff.

3 Vgl. Mattl und Schulte (2014): S.1

4 Vgl. ebd.

5 Vgl. ebd.

6 Vgl. Colello (2007): S.6

7 Vgl. Mattl und Schulte (2014): S.2

8 Vgl. Liang et al. (2014): S.239

9 Vgl. Kant et al. (2009): S.106

10 Vgl. Scott (2015): S.27

11 Vgl. Liang et al. (2013): S.1036

12 Vgl. Heath (2008): S.117

13 McGinn (2004): S.151

14 Ebd.

15 Vgl. Foucault (2015): S.104

16 Ebd.

17 Vgl. Foucault (2015): S.105

18 Vgl. ebd.

19 Foucault (2005): S.106

20 Vgl. ebd.

21 Vgl. Foucault (2005): S.104

22 Vgl. Foucault (2005): S.106

23 Vgl. Kosslyn (1999): S.14f.

24 Vgl. Pylyshyn (2006): S.282f.

25 Vgl. Pylyshyn (2006): S.283

26 Vgl. Pylyshyn (2006): S.287f.

27 Vgl. Pylyshyn (2006): S.290

28 Vgl. Pylyshyn (2003): S.113f.

29 Vgl. Brown (2003): S.394f.

30 Vgl. Kosslyn et al. (2006): S.8ff.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Imagination und das innere Auge. Eine interdisziplinäre Annäherung
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Philosophie)
Veranstaltung
Theorien der Anthropologie
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
25
Katalognummer
V367961
ISBN (eBook)
9783668463851
ISBN (Buch)
9783668463868
Dateigröße
1070 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Imagination Hirnforschung Vorstellungskraft Kognitionswissenschaften Soziologie Philosophie Aphantasia inneres geistiges Auge Foucault Latour
Arbeit zitieren
Jan Schmutzler (Autor:in), 2017, Imagination und das innere Auge. Eine interdisziplinäre Annäherung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367961

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