Skepsis gegenüber der Aufklärung in der Ballade "Kassandra" von Friedrich Schiller


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

15 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Form und Inhalt der Ballade Kassandra

3. Der „andere“ Schiller und seine Skepsis gegenüber der Aufklärung
3.1 Biographische und politische Hintergründe des Gedichts Kassandra

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Sage von Kassandra, der schönen und seherisch begabten Tochter des Troerkönigs Priamos, fesselt seit der Antike die Menschen. Vielfach wurde der ursprüngliche Stoff bearbeitet und ergänzt. Vermutlich übt Kassandra, aufgrund ihrer Schönheit und Weisheit sowie ihres tragischen Schicksals und Leids, eine so große Faszination aus.

In der Sage vom Trojanischen Krieg spielt Kassandra die Rolle der Warnerin. Sie kündet vergebens den Untergang der Stadt an und rät des Weiteren vergebens von der Aufnahme des hölzernen Pferdes ab. Ihre Gabe, in die Zukunft schauen zu können, erhält sie von dem Gott Apoll. Dieser verliebt sich in Kassandra und verleiht ihr, unter der Bedingung, dass sie ihm ihre Liebe schenkt, die Sehergabe. Doch nachdem sie die Gabe der Weissagung empfangen hat, verweigert sie sich Apoll und wird von ihm dadurch gestraft, dass ihre Prophezeiungen keinen Glauben finden.[1]

Das Ende der Seherin Kassandra ist ebenfalls tragisch: obwohl sie den Untergang Trojas vorhergesehen hat, kann sie diesen nicht verhindern und wird nach dem Sieg der Griechen über die Trojaner von Agamemnon als Sklavin nach Mykenä verschleppt. In Mykenä verüben Klytämenestra und ihr Geliebter Ägisth einen Mordanschlag auf Agamemnon, bei dem auch Kassandra ums Leben kommt.[2]

Die Sage der Kassandra ist bis heute ein Stoff geblieben, der Leser wie Autoren begeistert. Eine bedeutende Variation des Kassandra-Stoffes findet sich in Friedrich Schillers Ballade Kassandra . Diese wurde im „Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1803“ herausgegeben von Huber, Lafontaine, Pfeffel und andern (Tübingen [1802], S. 210-214), zum ersten Mal gedruckt. Danach erschien sie in dem Band „Gedichte von Friedrich Schiller. Zweyter Theil, Leipzig bey Siegfried Lebrecht Crusius 1803“.

Das Gedicht Kassandra ist auffällig, wenn man es mit anderen Werken von Schiller vergleicht. Denn Kassandra fällt ein wenig aus dem Rahmen, von dem was man sonst von Schiller gewohnt ist: der Idealist, der Anhänger der Aufklärung, der Pädagoge, der Dichter des Wahren und Schönen. In Kassandra begegnen wir einem „anderen“ Schiller.

Diesen „anderen“ Schiller möchte ich in meiner Hausarbeit, anhand des Gedichtes Kassandra, untersuchen. Um den Text verstehen und analysieren zu können, möchte ich zunächst das Gedicht, in Form und Inhalt, vorstellen und damit erste Deutungsansätze entwickeln. Danach möchte ich der Frage nachgehen, ob Schiller, mit dem Gedicht Kassandra, eine Skepsis gegenüber der Aufklärung äußert. Dazu wird das Werk in zentrale Kontexte einzubetten sein: biographische, politische und philosophische der Zeit um 1800.

Zunächst jedoch zum Gedicht selbst.

2. Form und Inhalt der Ballade Kassandra

Die Ballade ist der Epoche der Weimarer Klassik zuzuordnen. Sie besteht aus 16 Strophen mit je 8 Versen. Der Reim, der sich durch das Gedicht zieht, ist ein unreiner Kreuzreim. Häufig reimen sich i, ie und ü, wie zum Beispiel auch „müde“ und „Pelide“ (Vgl. V. 5 und 7) oder „weihte“ und „Bräute“ (Vgl. V. 73 und 75). Manchmal bricht Schiller auch ganz mit dem Kreuzreimschema, wie bei „Augenblick“ und „zurück“ (Vgl. V. 70 und 72)[3]. Daraus kann man schließen, dass der Dichter die ausführliche und verständliche Darstellung des Inhaltes einer Formvollendung vorzieht. Das Metrum ist ein vierhebiger Trochäus mit regelmäßig alternierender weiblicher und männlicher Kadenz.

In den ersten drei Strophen sowie in der letzten Strophe tritt ein Erzähler in Erscheinung und bildet damit einen Rahmen, während der Rest der Ballade, in den Strophen vier bis fünfzehn, einen Monolog Kassandras darstellt. Dieser besteht aus einer einzigen Klage und entspricht damit einer Elegie.

Schillers Gedicht spielt in der kurzen Übergangszeit, in der noch die Lebenslust und die Hoffnung in Troja herrschen, aber die Vernichtung und Eroberung Trojas schon unmittelbar bevorsteht. Die Menschen in Troja sind zuversichtlich, weil sie hoffen, dass durch die Hochzeit von Kassandras Schwester Polyxena mit Achill, dem größten Krieger der Griechen, der Trojanische Krieg beendet werden kann. Schiller stellt in seinem Gedicht die schmale Grenze zwischen Leben und Tod und zwischen Hoffnung und Verzweiflung dar. Durch die Perspektive Kassandras erkennen wir jedoch, dass der Text im Grunde schon einen Schritt weiter ist: Kassandra weiß bereits von dem schrecklichen Schicksal, welches Troja und auch sie selbst ereilen wird, auch der kommentierende „Erzähler“ kann in die Zukunft schauen. Von Beginn an, wird der Leser mit dem Sehertum von Kassandra ausgestattet und bereits im zweiten Vers, weiß der Leser um die Zerstörung Trojas:

Freude war in Trojas Hallen,

Ehʻ die hohe Veste fiel.

Jubelhymnen hört man schallen

In der Saiten goldʻnes Spiel.[4]

Doch, auch wie Kassandra, kann der Leser den Untergang Trojas nur tatenlos mit ansehen. Kassandra bekommt, in ihrem langen Monolog, den Raum ihre Einsamkeit und Frustration zu äußern. Der Erzähler tritt dabei vollkommen in den Hintergrund. Durch die Augen der Kassandra, blickt der Leser in eine Welt ohne Hoffnung und ohne Trost.

Im Folgenden möchte ich nun genauer auf den Inhalt des Gedichtes eingehen und erste Deutungsansätze entwickeln. Kassandra prophezeit, als die bevorstehende Vermählung des Achilles mit Polyxena die ganze Stadt in höchsten Jubel versetzt und man das Ende des Krieges vor sich zu sehen glaubt, den Untergang der Stadt Troja. Anstatt ihr jedoch Glauben zu schenken, verspotten die Leute Kassandra und sie bleibt allein (Strophe 1-2).

Verzweifelt, über ihr Unglück, geht sie in den „Lorbeerhayn“[5], indem sich der Tempel von Apollo befindet. Hier wirft sie ihre Priesterbinde, das Zeichen ihres Unglücks, da sie eine Priesterin des Apolls ist, nieder (Strophe 3). Denn der Gott Apoll trägt Schuld an ihrem Schmerz, da er ihr die Gabe der Weissagung verlieh. So sieht sie, während ihre Eltern, ihre Schwester und das Volk in Lust schwelgen und die Hoffnung, auf ein baldiges Kriegsende, in ihrer Brust tragen, das schreckliche Schicksal, welches Troja ereilen wird, voraus.

„Alles ist der Freude offen,

Alle Herzen sind beglückt,

Und die alten Aeltern hoffen,

Und die Schwester steht geschmückt.

Ich allein muß einsam trauern,

Denn mich flieht der süße Wahn,

Und geflügelt diesen Mauern

Seh ich das Verderben nahn.“[6]

Aufgrund ihrer Vorhersage, entfernen sich alle von Kassandra. Einsam und unverstanden in ihrem Schmerz zieht sie sich zurück. Kassandras „Wissen“ um die Zukunft bringt ihr Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, während die „Blindheit“ mit Freude und einem starken Gemeinschaftsgefühl verbunden ist. Die poetische Bedeutung der Figur Kassandra ist also dadurch bestimmt, dass ein Gott sie als „sterbliches Gefäß“ seiner „Wahrheit“ (63 f.) gewählt und sie damit aus der Gemeinschaft ihrer Mitmenschen ausgestoßen hat.[7]

Und sie schelten meine Klagen,

Und sie höhnen meinen Schmerz,

Einsam in die Wüste tragen

Muß ich mein gequältes Herz,

Von den Glücklichen gemieden,

Und den Fröhlichen ein Spott!

Schweres hast du mir beschieden

Pythischer, du arger Gott![8]

Hieran schließt sich ihre Klage über ihre unglückliche Gabe an (Strophen 7 – 10). Diese Strophen sind sehr aufschlussreich für das Thema meiner Arbeit:

„Dein Orakel zu verkünden,

Warum warfest du mich hin

In die Stadt der ewig Blinden,

Mit dem aufgeschloßʻnen Sinn?

Warum gabst du mir zu sehen,

Was ich doch nicht wenden kann?

Das Verhängte muß geschehen,

Das Gefürchtete muß nahn.“[9]

Kassandra wendet sich mit Fragen an den Gott Apoll, da sie nicht begreifen kann, warum er sie so sehr bestraft, indem sie unter allen „Blinden“ (V. 50) die Einzige ist, welche „sehen“ (V. 53) kann und damit, das Schicksal Trojas und auch ihrer selbst voraussieht. Die Seherin kann den Sinn, des ihr Widerfahrenen, nicht erkennen und mit ihr kann es auch nicht der Leser, da er nur, aus Kassandras Mund, von ihrem Schicksal erfährt. Sie befindet sich also auf einer Sinnsuche und leidet schrecklich darunter vorauszusehen, was man nicht abwenden kann. Es ist auffällig, dass Schiller die traditionelle, mythologische Beziehung, zwischen Kassandra und Apoll, verändert. Er zeigt die Figur Kassandra nach seiner Vorstellung. Sie ist das Opfer und die schuldlos Bestrafte. In der antiken Mythologie wurde sie jedoch von Apoll bestraft, weil sie ihr Versprechen nicht einlöste. Sie betrog den Gott, um die versprochene Gegenleistung für die, von Apoll erhaltene, Seherfähigkeit (siehe Aischylos, Ovid und andere). Schillers Kassandra kann den Gott jedoch unwidersprochen, wegen seiner Grausamkeit, anklagen. Die Schuld wird, in Schillers Ballade, also ganz klar dem Gott zugewiesen. Kassandras Position ist die einer zu Unrecht Bestraften: „Schweres hast Du mir beschieden, / Pythischer, du arger Gott! (Vgl. V. 48-49)“ Die Götter werden in dem Gedicht Kassandra also nicht länger idealisiert, wie es Schiller zuvor in seinen Gedichten tat (zum Beispiel in dem Gedicht Die Götter Griechenlands ). Hier fehlt völlig eine vernünftige und rechtschaffende Instanz. Selbst die Götter sind ungerecht und handeln unmoralisch. Dies hebt umso mehr die absolute Einsamkeit, der Figur Kassandra, hervor. Das interessante dabei ist, dass Kassandra unverschuldet einsam und bestraft ist, obwohl sie vernünftig ist und sie sich ihrer Ratio bedient. Auf diesen Punkt möchte ich im Hauptteil nähergehend eingehen.

In den nächsten Strophen (Strophen 8, 9) spricht sie die Bitte aus, von dieser Qual, befreit zu werden:

„Frommtʻs den Schleier aufzuheben,

Wo das nahe Schreckniß droht?

Nur der Irrthum ist das Leben,

Und das Wissen ist der Tod.

Nimm, o nimm die traurʻge Klarheit,

Mir vom Augʻ den blutʻgen Schein!

Schrecklich ist es, deiner Wahrheit

Sterbliches Gefäß zu seyn.“[10]

Seit sie Priesterin des Apollo ist, hat sie keinen frohen Augenblick mehr gehabt (Strophen 9 – 11).

Ihre Sehergabe ist ein „Geschenk“ (V. 72), das sie über die anderen Menschen erhebt. Sie kann die Wahrheit sehen. Diese Erhöhung ist jedoch zugleich ihr Fluch. Denn die Wahrheit ist schrecklich. Sie macht einsam und unglücklich, da sie durch das Wissen, um die Zukunft, den Genuss des Augenblicks nicht zulässt und das für Menschen notwendige Gefühl der Hoffnung, als trügerische Illusion, entlarvt.[11] [12] Dies ist, unter dem Aspekt der Aufklärung betrachtet, sehr interessant. Das hieße, Wissen und Glück wären hier Gegenspieler. Die Gabe, die Dinge zu durchschauen, wird dem, im Augenblick leben und glücklich sein, entgegengesetzt. Kann man hier eine Skepsis gegenüber der Aufklärung heraushören? Geht es hier um die Frage nach dem glücklichen Schwein und dem unglücklichen Sokrates? Ich möchte mich im Hauptteil nähergehend mit dieser Frage auseinandersetzen.

Sie sieht ihrer Schwester Polyxena an wie glücklich sie ist mit Achilles angetraut zu werden (Strophe 12). In der nächsten Strophe wird angedeutet, dass auch sie Gefühle für jemanden hat und gerne mit ihm in „die heimʻsche Wohnung ziehn“ würde, doch ein „stygʻscher Schatten“ zwischen die beiden Geliebten tritt. Der Styx ist der Fluss der Unterwelt und steht also mit dem Tod in Verbindung, das heißt sie sieht eventuell den Tod der beiden bereits voraus (Strophen 13). In den folgenden zwei Strophen werden ebenfalls viele Todessymboliken verwendet und angedeutet, dass Kassandra bereits weiß wie und wo sie stirbt:

„Und den Mordstahl sehʻ ich blinken,

Und das Mörderauge glühn,

Nicht zur Rechten, nicht zur Linken

Kann ich vor dem Schreckniß fliehʻn,

Nicht die Blicke darf ich wenden,

Wissend, schauend, unverwandt

Muß ich mein Geschick vollenden

Fallend in dem fremden Land.“ –[13]

Sie kann ihren Tod nicht abwenden. Sie sieht bereits ihren Mörder und den Dolch, der sie umbringen wird, klar voraus. Sie sieht, dass sie fallen wird „in dem fremden Land“, mit welchem wohl Mykenä gemeint ist, die Stadt in der sie und Agamemnon, durch die Hand Klytämenestras, erdolcht werden. Sie ist, durch ihr Wissen, also völlig determiniert und für sie gibt es überhaupt keine Möglichkeit glücklich zu sein. Im nächsten Augenblick stirbt „Thetis großer Sohn“. Thetis ist die Mutter von Achilles, also ist damit der Tod von Achilles gemeint. Damit ist alle jubelnde Hoffnung vernichtet und Troja ist dem Untergang geweiht (Strophe 16). Der Fall Trojas ist nicht ideell motiviert – da keine göttlichen Gesetze verletzt werden. Es wirkt eher wie ein schicksalhaftes Unglück, vor dem selbst die Götter fliehen.[14] Die Ballade endet mit den Versen:

Eris schüttelt ihre Schlangen,

Alle Götter flieh n davon,

Und des Donners Wolken hangen

Schwer herab auf Ilion.[15]

Kern des Gedichts ist die rhetorische Vergegenwärtigung der schrecklichen Situation von Kassandra und der Antagonismus zwischen „bacchantescher“ Lebenslust einerseits und Schmerz und Tod andererseits.

Das trochäische Metrum, die klare Strophengliederung und die regelmäßig alternierenden Kadenzen stehen im Kontrast zu den inhaltlichen Spannungen, der Hoffnungslosigkeit und Bodenlosigkeit im Gedicht und scheinen, der orientierungslosen Figur Kassandra, der einzige Halt zu sein.

3. Der „andere“ Schiller und seine Skepsis gegenüber der Aufklärung

Was an der Ballade Kassandra auffällt ist, dass der Text die zeitgenössischen Grundthesen negiert, welche auch Schillers eigene Grundthesen waren. Sucht man den ideellen Gehalt dieser Ballade, wie er für Schillers Balladen eigentlich typisch ist, wie zum Beispiel bei „Die Scene wird zum Tribunal“ aus den Kranichen des Ibycus , so wird man bei Kassandra nicht fündig. Hans-Georg Werner schreibt in seiner Kassandra Interpretation: „Im Unterschied zu fast allen anderen Balladen Schillers vermittelt Kassandra keine sittliche Lehre.“[16]

Werner deutet des Weiteren an, dass das Gedicht eine „Spiegelung subjektivster, daher verborgener und zu verbergender Erfahrungen seines Autors“ sei, da der „mythische Fall der trojanischen Königstochter […] eine Aporie zur Vorstellung [bringt], die in moderner Sicht um so beunruhigender wirkt, als zwar nicht die mythische, aber die geistige Situation Kassandras, von kommendem Unheil zu wissen, ohne es abwenden, ja sogar ohne die drohende Gefahr mitteilen zu können, durchaus verallgemeinerbar ist. Insofern ist vorstellbar, daß der mythische Einzelfall eine unter anderen Bedingungen wiederkehrende intellektuelle Situation repräsentiert.“[17] Diese „poetische Intensität“[18] des Gedichts erweckt die Vorstellung, dass der Autor hier subjektive Erfahrungen einfließen lässt. Damit deutet die Ballade eine skeptische Haltung Schillers gegenüber dem Idealismus und der Aufklärung an.

Nur der Irrthum ist das Leben, / Und das Wissen ist der Tod.

(V. 59 f.)

Auch Diana Schilling deutet das Gedicht als eine Auseinandersetzung Schillers mit subjektiven Erfahrungen. Sie stellt die Kassandra als „Statthalterin des aufgeklärten Menschen“ dar. Sie schreibt: „1802 erscheint der lange Monolog, der geprägt ist von der Trauer der Wissenden, wie eine späte Auseinandersetzung mit der Aufklärung […]. Die Propheten der Wahrheit ziehen sich um 1800 resigniert zurück. Der Freiheitsgedanke ist nach der Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution wieder zu einem abstrakten Begriff geworden […].“[19] Sie geht also noch einen Schritt weiter als Hans-Georg Werner und stellt einen direkten Bezug des Gedichts, mit den Folgen der Französischen Revolution und damit mit zeitgenössischen politischen Kontexten, her.

Wie gelangen die Autoren zu dem Schluss, dass in der Ballade Kassandra ideelle und aufklärerische Gedanken negiert werden? Dieser Frage möchte ich mich nun im Folgenden genauer widmen.

An keiner Stelle der Ballade wird Kassandras Monolog unterbrochen und damit werden ihre Aussagen auch nicht entkräftet. Sie erhält den vollen Raum für ihre Klage und damit die Position, dass sie im Recht ist und sie von den anderen zu Unrecht verspottet wird und sie ebenfalls zu Unrecht, von dem Gott Apoll, bestraft wurde. Trotzdem ihr Unrecht geschieht und sie sich unverschuldet in ihrer Lage befindet, ist sie von der Gemeinschaft ihrer Landsleute und selbst ihrer Familie ausgeschlossen. An dem unverschuldeten Ausstoß aus der Gemeinschaft deutet sich bereits ein Bruch, mit dem Menschenbild der Aufklärung, an. Weder durch eigene Kraft, noch die einer anderen Instanz (z.B. einer Gottheit), ist die Eingliederung von Kassandra in die Gesellschaft möglich. Es findet in der Ballade kein kathartischer Moment statt. Doch was macht Kassandra zu einer Verstoßenen? Wenn man sich dieser Frage widmet, stößt man auf einen weiteren Bruch mit aufklärerischen Gedanken. Kassandras Leid und Schmerz entsteht aus ihrem „aufgeschloßʻnen Sinn“, in der „Stadt der ewig Blinden“ ist sie diejenige, die „sehen“ kann.[20] Erkenntnis ist also das, was Schmerz bringt und unglücklich macht und Kassandra wünscht sich wieder blind sein zu dürfen („Meine Blindheit gibt mir wieder“).[21] Der Wunsch nicht mehr „sehen“ zu wollen und wie die anderen wieder „blind“ sein zu können, ist eine Bildlichkeit die ebenfalls gegen die Gedanken der Aufklärung steht. Der „sapere aude“ Gedanke wird verworfen, Wissen ist hier eine Last, die unglücklich macht und derer man sich entledigen möchte.

Die Aufklärung verlangt die absolute Entschleierung der Wahrheit, die hier jedoch von Kassandra zurückgewiesen wird: „Nimm, o nimm die traurʻge Klarheit, / Mir vom Augʻ den blutʻgen Schein!“ (RE S. 264, V. 61 f.) Die Erkenntnis raubt dem Leben damit jedes Glück: „Zukunft hast du mir gegeben, / Doch du nahmst den Augenblick, / Nahmst der Stunde fröhlich Leben, […] (RE S. 265, V. 70 f.)

Die Verse: „Nur der Irrthum ist das Leben, / Und das Wissen ist der Tod.“ ( RE S. 264, V. 59 f.), die fast wie ein Leitspruch des Gedichtes klingen und ein Konzentrat des Gesagten von Kassandra darstellen, negieren in jeglicher Form jede aufklärerische Vernunftethik. Das aufgeklärte Bewusstsein wird als Last erfahren. Kassandras „Wissen“ und damit ihre Erkenntnisfähigkeit helfen ihr nicht zu einem selbstbestimmten Leben, im Gegenteil, sie ist absolut unfrei und unmündig. Der Mut sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, führt hier also nicht zur Mündigkeit und Freiheit, sondern in die Fremdbestimmtheit: „Schrecklich ist es, deiner Wahrheit / Sterbliches Gefäß zu seyn.“ (RE S. 264, V. 63 f.) Das Thema der Autonomie, das auch sonst bei Schiller eine große Rolle spielt, wird hier in Frage gestellt. Die Figur ist nicht fähig autonom zu handeln, beziehungsweise ihre Möglichkeiten sind sehr eingeschränkt, da sie nichts gegen das Schicksal unternehmen kann.

[...]


[1] Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur: ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte . Stuttgart 2005. S. 500.

[2] Ebd. S. 499-500.

[3] Alle Zitate aus Kassandra nach: Friedrich Schiller: Gedichte. Hrsg. von Norbert Oellers. Stuttgart: Reclam, 1999. Im Folgenden wird die Reclam Ausgabe mit RE abgekürzt.

[4] RE, S. 263, V. 1 f..

[5] RE, S. 263, V. 20.

[6] RE, S. 263, V. 25 f..

[7] Hans-Georg Werner: Mythos und Gegenwartserfahrung. In: Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Hrsg. Norbert Oellers. Stuttgart 1996, S. 304.

[8] RE, S. 264, Strophe 6.

[9] RE, S. 264, Strophe 7.

[10] RE, S. 264, Strophe 8.

[11] Hans-Georg Werner: Mythos und Gegenwartserfahrung. In: Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Hrsg. Norbert Oellers. Stuttgart 1996, S. 305.

[12] RE, S. 265, Strophe 9, V. 69-70.

[13] RE, S. 266, Strophe 15.

[14] Hans-Georg Werner: Mythos und Gegenwartserfahrung. In: Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Hrsg. Norbert Oellers. Stuttgart 1996, S. 305.

[15] RE, S. 266, V. 125 f..

[16] Hans-Georg Werner: Mythos und Gegenwartserfahrung. In: Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Hrsg. Norbert Oellers. Stuttgart 1996, S. 307.

[17] Ebd. S. 307.

[18] Ebd. S. 307.

[19] Diana Schilling: Kassandra (1803). In: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit von Grit Dommes. Stuttgart 2005/2011, S. 294.

[20] RE, S. 264, V. 51-52.

[21] RE S. 265, V. 65.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Skepsis gegenüber der Aufklärung in der Ballade "Kassandra" von Friedrich Schiller
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,3
Jahr
2017
Seiten
15
Katalognummer
V367849
ISBN (eBook)
9783668462007
ISBN (Buch)
9783668462014
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
schiller, skepsis, aufklärung, ballade, kassandra
Arbeit zitieren
Anonym, 2017, Skepsis gegenüber der Aufklärung in der Ballade "Kassandra" von Friedrich Schiller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367849

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