Siegfried Kracauers Filmtheorie und die Realitätsdarstellung in Emir Kusturicas „Time of the Gypsies“ (1988)


Hausarbeit, 2013

12 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Kracauers Thesen in Bezug auf den Film „Time of the Gypsies“ von Emir Kusturica
2.1 „Time of the Gypsies“(1988), ein Liebesfilm von Emir Kusturica
2.2 Phantastisch-magische und filmische Realität der Roma
2.3 Kracauers filmische Gegenstände, registrierende und enthüllende Funktionen der Kamera und „Time of the Gypsies“
2.3.1 Masse und der Einzelne in dem Ederlezi-Ritual
2.3.2 Hochzeit, Tanz, Familienrituale, Musik
2.3.3 Leblose Gegenstände leben auf
2.3.4 Laien- und Kinderdarsteller als Werkzeuge des „phantastischen Realismus“ Kusturicas

3. Schlusswort

1. Einleitung

Im Mittelpunkt der Siegfried Kracauers Filmtheorie steht die Frage der Darstellung der Realität. Er warnt vor zu viel Gestaltung und zu großer Nähe zur Kunst, denn der Film soll sich nicht an den klassischen Kunstgattungen, wie der Malerei oder an den Theaterinszenierungen orientieren.[1] Vielmehr soll ein Film die Realität reproduzieren[2]. Die Fähigkeit eines Films (wie auch einer Photographie) die physische Realität wiederzugeben und aufzudecken[3] sei für die Ermittlung seines ästhetischen Wertes entscheidend.[4] Filme, denen das gelingt, nennt er „filmisch“.[5]

Bei der Auswahl des Films an dem ich Kracauers Thesen veranschaulichen konnte, entschied ich mich für den Film „Time of the Gypsies“ von Emir Kusturica aus dem Jahr 1989. Einer der Gründe dafür war die Tatsache, dass sich in diesem Film die Träume, phantastische Visionen mit der Realität vermischen, sodass sie oft voneinander kaum zu unterscheiden sind. Sie gehen ineinander, die Vermischung spiegelt die Gefühlswelt wieder, die innere Welt der Figuren.

Die, von Kracauer geförderte, Entdeckung des Verborgenen in der Realität, spielt, ähnlich wie bei seinen Vorbildern Louis Bunuel oder Federico Fellini, in der filmischen Ästhetik Kusturicas, eine besondere Rolle. In meiner Hausarbeit werde ich versuchen herauszufinden, inwiefern sich der „phantastische Realismus“ Kusturicas, mit dem Kracauers Realitätsanspruch an die Filmkunst, deckt.

2. Kracauers Thesen in Bezug auf den Film „Time of the Gypsies“ von Emir Kusturica

2.1 „Time of the Gypsies“(1988), ein Liebesfilm von Emir Kusturica

„Time of the Gypsies“(1988) ist der dritte Kino-Spielfilm des bosnisch-serbischen Regisseurs Emir Kusturica.

Erzählt wird die Geschichte einer Roma-Familie. Der Junge Perhan lebt zusammen mit seiner Großmutter Kadhiza, seinem Onkel und der kleinen, gehbehinderten Schwester in einer Roma-Siedlung oberhalb von Sarajevo. Durch einige Zufälle, die Krankheit der kleinen Schwester, die finanzielle Not, die ihn daran hindert, das Mädchen Azra zu heiraten und schließlich durch die schicksalhafte Bekanntschaft mit dem Kriminellen, in Italien operierenden, Ahmed, steigt er in das Geschäft mit dem Kinderhandel. Dies führt dazu, dass er seine ursprüngliche Leichtigkeit, kindliche Lebensfreude und Unschuld verliert.

„Ein Liebesfilm“, so lautet der Zusatz zum Originaltitel „Dom za vjesanje“, den man ins Deutsche als „Heim zum Aufhängen“ übersetzen kann. Der Originaltitel bezieht sich direkt auf zwei Szenen. In der ersten hängt sich der unglücklich verliebter Perhan an einer Kirchenglocke auf (und wird gerettet)[6], während in der zweiten, Perhans Onkel sich in einer kleinen Baracke, mit Hilfe eines Autos und gespannter Fäden in der Luft aufhängt.[7] Der englische und deutsche Titel, „Time of the Gypsies“ bzw. „Zeit der Zigeuner“ klingen verallgemeinernd und symbolgeladen, opulent und romantisierend, im Sinne Kracauers sicherlich „künstlich“.

Die anscheinend völlig unschuldige, naive, fast kindische Liebe zwischen Perhan und Azra, ist nicht die einzige Liebesbeziehung, die im Film thematisiert wird. Da ist noch die wertvolle, offenherzige und wahrhafte, von keinem Nutzen getriebene, zärtliche und liebevolle Sorge der Großmutter für den Perhan und seine Schwester sowie (etwas weniger) für ihren Sohn, Perhans Onkel (der seinerseits von Deutschland schwärmt und in diese Richtung die „Liebesgefühle“ entwickelt!). Der Familie fehlt der Vater und er wird in Ahmed, dem kriminellen „Paten“ gefunden.

2.2 Phantastisch-magische und filmische Realität der Roma

Kusturicas Film steht in der Tradition der berühmten Roma-Filme, den romantisierenden „Wenn die Zigeuner ziehen“ („Tabor uhodit v nebo“, Emil Loteanu, 1976) und vielleicht mehr noch, den düster-realistischen „Ich traf sogar glückliche Zigeuner“ („Sakupljaci Perja“, Aleksandar Petrovic, 1967). Der humorvolle Umgang mit dem sensiblen Thema unterscheidet Kusturica von seinen Vorgängern. Die Geschichte um Perhan scheint universeller zu sein. Die klassischen großen Themen eines griechischen Dramas, die sich in der Familie abspielen, kommen hier zu Vorschein: die Macht und Liebe, Treue und Verrat. Auch andere Regisseure suchen in der Welt der Roma weiterhin die Inspiration, mit unterschiedlichem Erfolg.[8]

Gleich in der ersten Szene, die mit wenigen Schnitten in langen Einstellungen, mit Kamerafahrten in das Geschehen einführt, macht Kusturica den Zuschauer mit dem Mikrokosmos der Roma vertraulich. In einer Nahaufnahme spricht ein älterer Zigeuner direkt in die Kamera über seiner verrissenen Seele. Er vertraut sich Gott und dem Zuschauer an, und macht ihn zum Komplizen. Während er von seiner „verrissenen Seele“ spricht, hält er einen schwarzen, kaputten, offenen Regenschirm über die Schulter. Auf dieser Weise wird seine Klage in die Bildsprache übersetzt. Wenn man weiß, dass die Reparatur von Regenschirmen eine der wichtigsten Beschäftigungen der Zigeuner in Jugoslawien in den Titos Zeiten war[9], dann erkennt man nicht nur die metaphorische Kraft dieser Szene, sondern gleichzeitig ihren eindeutigen Realitätsbezug.

Obwohl man hier nicht von einem klassischen Roadmovie sprechen kann, spielen im Film der ständige Ortwechsel und die Bewegung eine wichtige Rolle. Denn die Orte an denen sich die Handlung abspielt (Sarajevo, Ljubljana, Mailand, Rom) unterscheiden sich räumlich, optisch sowie atmosphärisch. In der Roma - Vorstadtsiedlung in der Nähe von Sarajevo in der die Familie lebt sowie in den Baracken der Roma bei Mailand gehören die phantastischen Momente zum Alltag und zum Leben dazu. Dort funktionieren auch die übernatürlichen, telekinetischen Fähigkeiten Perhans. In Mailand, in der „zivilisierten“ Umgebung der Großstadt sowie in dem slowenischen Krankenhaus in dem Perhans Schwester behandelt werden soll, verschwindet alles Magische. Für die Magie ist dort kein Platz, man wird mit einer völlig anderen, „normalen“, weniger poetischen Realität konfrontiert. Dort herrschen die Gesetze des Kapitalismus, des Geldes. Die Straßen in Mailand sind, trotzt ihrer, von vielen Menschen bewunderten Schönheit, für die Protagonisten nichts anderes als ein unangenehmer, harter, hässlicher Arbeitsplatz. Die Straße dagegen, die irgendwo Dazwischen, im Niemandsland zwischen Sarajevo und Mailand liegt, scheint genauso mystisch zu sein wie die Siedlungen der Roma. Die Ärzte in dem slowenischen Krankenhaus machen einen netten und hilfsbereiten Eindruck, die Behandlung kann aber doch nicht durchgeführt werden, denn sie muss bezahlt werden.

2.3 Kracauers filmische Gegenstände, registrierende und enthüllende Funktionen der Kamera und „Time of the Gypsies“

Kracauer unterscheidet die registrierenden Funktionen der Kamera, die dazu dienen, die spezifisch filmischen Bewegungen und Gegenstände, die an der Oberfläche erscheinen, zu registrieren, von den enthüllenden Funktionen, die der Entdeckung und dem Sichtbarmachen der scheinbar „unsichtbaren“ Gegenstände, dienen.[10] Zu den registrierenden Funktionen zählt er das Filmen von spezifisch „filmischen“ Bewegungen. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die Verfolgungsjagden, den Tanz, die Standbilder, die zu einer Bewegung werden, sowie das Filmen von leblosen Gegenständen, die dadurch zum Träger der Handlung werden können[11].

Die „enthüllenden“ Funktionen seien für das Zeigen von gewöhnlich sichtbaren Dingen, die so alltäglich sind, dass man sie normalerweise übersieht, „zuständig“. Kracauer versteht darunter die Dinge, die entweder zu klein oder zu groß seien, oder zu flüchtig, unbeständig. Dazu kommen die „Ausfallserscheinungen“, die halbabstrakte, „ungewöhnliche Komplexe“[12], die Abfälle, das Vertraute und die „Phänomene, die das Bewusstsein überwältigen“[13] und die verschiedenen „Sonderformen der Realität“[14]. Die „unsichtbaren“ Gegenstände werden in der Nahaufnahme gezeigt und somit mit einer Funktion belegt. Sie werden sichtbar und sie bedeuten plötzlich etwas.[15] Beim Filmen von großen Gegenständen, wie z.B. einer Masse von Menschen, entsteht ein Muster, das aus kleinen, untereinander ähnlich aussehenden Teilen besteht. In den Nahaufnahmen werden die einzelnen Bestandsteile des Musters als eigenständig gezeigt.[16] In der Kombination mit benachbarten Einstellungen bilden die Groß- und Nahaufnahmen eine Montage-Einheit in der so der Sinn entsteht. Auf diese Weise werden in der psychischen Realität, so Kracauer in der Anlehnung an Eisenstein, neue Aspekte entdeckt.[17]

2.3.1 Masse und der Einzelne in dem Ederlezi-Ritual

Als Beispiel für das Kombinieren von Großaufnahmen und den Totalen in „Time of the Gypsies“ kann man die opulent-feierliche Flussszene der Ederlezi-Feier[18] nehmen. In den Totalen werden die Feiernden gezeigt, während die Nahaufnahmen Perhan und Azra zeigen. Hier werden die Bilder des Flussrituals und der frisch Verliebten zusammengeschnitten, sie werden als Teil des Rituals und gleichzeitig als eigenständige Personen, bzw. als Liebespaar dargestellt. Als Teil des säubernden Wasserrituals kommt der feierliche und keusche Charakter der Liebe von Perhan und Azra zur Vorschein.

2.3.2 Hochzeit, Tanz, Familienrituale, Musik

Wie in fast allen Filmen von Emir Kusturica, spielen auch in „Time of the Gypsies“ die Familienrituale und vor allen die Hochzeiten, als die energiegeladenen, überemotionalen, kitschigen und feierlichsten, verrücktesten und absurden Rituale eine besondere Rolle. Der Zuschauer bekommt gleich drei Hochzeitsfeier[19] und eine „Abschiedsfeier“ (Ahmed verabschiedet sich und geht zurück nach Italien) zu sehen.

Kusturicas Hochzeiten sind durchaus filmische Hochzeiten, in denen laute Musik gespielt wird, viel getrunken und getanzt wird. Er zeigt die Hochzeit als eine Familienfeier mit viel Konfliktpotential, eine laute und bunte Feier, als ein fröhlich-bedrohliches Durcheinander die für die verspätete Rache und das Begleichen von offenen Rechnungen ideal zu sein scheint. Während um einen herum wild getanzt, gefeiert und getrunken wird, werden im Vollrausch die Rachengefühle ausgelebt.[20]

Wenn sich das Wetter ändert, wenn plötzlich ein starker Wind weht, oder es fängt an zu regen, wird signalisiert, dass etwas Ungewöhnliches passieren werde. Es sind innere Zustände der Figuren, die auf diese Weise dargestellt werden. Es wird gestritten oder Menschen oder Tiere kommen zu Schaden, jemand stirbt oder ein Baby kommt auf die Welt.

Dies wird von passender Musik begleitet. Die Musik bei Kusturica „fördert die Handlung psychologisch.“[21] Es sind meistens traditionelle Lieder und Tänze der Roma, die hier gespielt werden. Diese Musik, die ein wichtiger Teil des Alltags der Roma ist, kommt als Begleitmusik sowie als Teil der Handlung im Film vor. Sie erfüllt die Förderungen Kracauers „die Bilder zu beleben“ und somit „die materiellen Aspekte der Realität hervorzulocken.“[22]

2.3.3 Leblose Gegenstände leben auf

Kracauer schreibt, dass Filme in denen „die unbelebte Welt nur als Hintergrundkulisse“[23] diene, unfilmisch seien. Er macht auch auf eine der wichtigsten Unterschiede zwischen der Bühne und Leinwand, in der Hinsicht auf die Rolle des Schauspielers und der Hintergrundkulisse aufmerksam. Während auf der Bühne die eindeutige Hierarchie herrscht und die Schauspieler die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die leblosen Gegenstände zweitrangig seien, sei auf der Leinwand eine gewisse Anarchie möglich. Im Film besteht die Möglichkeit den Gegenständen eine wichtige Rolle zuzuordnen, in dem man z. B. mit Hilfe der Großaufnahmen die Bedeutung von einzelnen Gegenständen verändert oder erhöht.[24] In „Dom za vjesanje“ gibt es unzählige Beispiele in denen sich die alltäglichen und scheinbar dekorativen Elemente in die bedeutsamen und sinnerfüllten Gegenstände „verwandeln“. Manche erlangen in gewisser Weise den Rang von Hauptrollen, von denen Kracauer spricht.[25]

[...]


[1] Kracauer, 68.

[2] Kracauer, 69.

[3] Kracauer, 71. Kracauer zitiert hier die Bunuels Aussage, dass er in den Filmen etwas „aufzudecken“ vermag.

[4] Kracauer, 65.

[5] Kracauer, 66.

[6] Der misslungene Selbstmord durchs Aufhängen ist eines der Lieblingsmotive Kusturicas. Im „Vater auf der Dienstreise“ versuchte die Geliebte des Vaters während der Hochzeitfeier sich auf der Toilette das Leben zu nehmen. Den Strich durch die Rechnung macht die Klospüle. Sie überlebt und wird dadurch doppelt bestraft.

[7] Das Haus bleibt in der Luft hängen. Die Szene erinnert an die surrealistische Sequenz aus dem Chaplins Film „Goldrausch“ (1925) in der die Tramps Hütte eine Zeit lang halb über einem Abgrund weht.

[8] Z.B. „Gadjo djilo“ (1997) von T.Gatlif, „Borat“ (2006) von S. B. Cohen, „Schwarze Katze, weißer Kater“ (1998) von E. Kusturica, „Shutka, Book of Records“ (2007) von Taskovski

[9] Die wandelnden Roma-Handwerker zogen damals vom Haus zu Haus, von Siedlung zu Siedlung und boten lautstark ihre Dienste an.

[10] Kracauer, 71.

[11] Kracauer, 73-76.

[12] Kracauer, 86.

[13] Kracauer, 91.

[14] Kracauer, 94.

[15] Kracauer, 78.

[16] Kracauer, 82.

[17] Kracauer, 79.

[18] „Ederlezi“-Tag des Heiligen Georg.

[19] Die erste Hochzeit wird gleich am Anfang des Films gezeigt. Hier wird nicht getanzt, denn der Bräutigam liegt bereits betrunken am Boden schon bevor der Tanz eröffnet wurde.

[20] Die Darstellung vom Vollrausch gilt bei Kracauer als besonders filmisch. Kracauer, 92.

[21] Kurt London Zitat in: Kracauer, 197.

[22] Kracauer, 198.

[23] Kracauer, 77.

[24] Kracauer, 76.

[25] Kracauer, 78.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Siegfried Kracauers Filmtheorie und die Realitätsdarstellung in Emir Kusturicas „Time of the Gypsies“ (1988)
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (TFM)
Veranstaltung
Einführung in die Filmwissenschaft
Note
2,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
12
Katalognummer
V367621
ISBN (eBook)
9783668460171
ISBN (Buch)
9783668460188
Dateigröße
577 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Emir Kusturica, Siegfried Kracauer, Dom za vjesanje, Roma, Gypsy, Phantastischer Realismus
Arbeit zitieren
M.A. Tomo Polic (Autor:in), 2013, Siegfried Kracauers Filmtheorie und die Realitätsdarstellung in Emir Kusturicas „Time of the Gypsies“ (1988), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367621

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